Die beispielose humanitäre Katastrophe im Sudan

Zitate in Die Welt, 17.08.2025

Hoffnung auf eine baldige Beilegung des Sudan-Konflikts gebe es derzeit wenig, sagt Gerrit Kurtz von der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ (SWP) WELT. Die USA bemühten sich zwar durchaus, doch die Trump-Regierung finde im Sudan keinen Ansatz für ihre „sehr transaktionale, ressourcenorientierte“ Diplomatie unter Präsident Donald Trump.

So wurde ein für Ende Juli in Washington geplantes Treffen der Außenminister der USA, Saudi-Arabien, den VAE und Ägypten im letzten Moment auf unbestimmte Zeit verschoben. Die RSF-Verbündeten aus den VAE und Ägypten, das traditionell auf der Seite von Sudans Armee steht, hatten sich nicht auf eine Abschlusserklärung einigen können. Es ging um eine Formulierung, die sowohl Sudans Streitkräfte als auch die RSF davon ausschließen sollte, eine führende Rolle in einer zukünftigen Regierungsstruktur zu übernehmen.

Sudan-Experte Kurtz hält es für höchste Zeit, dass der internationale Druck auf die Emirate erhöht wird, ihre Unterstützung für die Miliz einzustellen. Öffentliche Kritik bleibe weitgehend aus – auch von deutscher Seite. Als Beispiel für diese Zurückhaltung nennt Kurtz die Sudan-Konferenz in London vor einigen Monaten.

Aus Rücksicht auf den Golf-Staat hätten die Organisatoren – darunter Deutschland, Frankreich und Großbritannien – die RSF nicht einmal namentlich erwähnt, obwohl diese kurz zuvor im Zamzam-Flüchtlingslager über 1.000 Menschen getötet und rund 400.000 vertrieben habe. „Das haben viele Beobachter als ziemlichen Rückschlag empfunden“, sagt Kurtz, „und das völlig zu Recht.

Gespräch über Hintergründe zum Konfliktgeschehen in Sudan

Erschienen in UNEINS Magazin 3/2025, Juli 2025

Sudans Geschichte ist von zahlreichen Kriegen und gewaltsamen Konflikten geprägt. Können Sie uns einen Überblick zur Kolonialgeschichte des Sudan geben?

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war Sudan noch kein einheitlicher Staat. Das Gebiet war in unterschiedliche Sultanate und andere Herrschaftsformen unterteilt. Ab 1820 eroberten Kräfte aus Ägypten weite Teile des heutigen Staatsgebiets. Ägypten unterstand zu der Zeit der osmanischen Oberhoheit – der albanische Herrscher Muhammad Ali hatte es vorrangig auf Gold und Sklav:innen abgesehen, um seinen regionalen Einfluss zu vergrößern. Bereits unter dem turko-ägyptischen Einfluss galten dunkelhäutige Menschen aus dem Westen oder Süden als Sklav:innen, auch wenn sie Muslime wurden.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich zunächst eine einheimische Widerstandsbewegung um den Mahdi durch, eine religiöse und politische Erweckungsfigur, die einen erfolgreichen Aufstand gegen die koloniale Besatzung anführte (1883-98). Dabei gerierte sich die Mahdi-Herrschaft als Verteidiger marginalisierter Gruppen – die Armee bestand überwiegend aus Menschen aus Darfur und dem Süden. 1898 besiegten britische Truppen die Mahdi-Herrschaft und dehnten damit ihre Dominanz des Nilbeckens von Ägypten bis nach Sudan aus. Den Süden des Landes erklärten die Kolonialherren ab den 1920ern zum „geschlossenen“ Gebiet, wodurch der Aufbau von Infrastruktur und Zugang für Nicht-Einheimische beschränkt wurde. Das Sultanat von Darfur wurde erst 1916 Teil Sudans.

Die britisch-ägyptische Kolonialherrschaft beutete Rohstoffe, Arbeitskraft und Land in fruchtbaren Gebieten des Sudan im Zentrum aus. Gleichzeitig hatte Großbritannien das strategische Ziel, den eigenen Einflussbereich am Nil zu erweitern. Der Nil war zur Kontrolle von Ägypten entscheidend und Ägypten wiederum für den Suez-Kanal und die Route nach Indien. 

1956 wurde der Sudan unabhängig. Mit welchen Herausforderungen war das Land in Folge konfrontiert? 

Die Geschichte des Sudan seit der Unabhängigkeit ist geprägt von Bürgerkriegen und Militärherrschaften, aber auch von zivilen Aufständen dagegen. 

Seit 1956 wurde der Sudan die meiste Zeit von Militärs, die durch Putsche an die Macht kamen, regiert. Im selben Zeitraum gab es aber auch drei zivile Aufstände, die zum Sturz der jeweiligen Militärregierungen führten. Die Oktoberrevolution von 1964, die die Militärherrschaft von Ibrahim Abboud beendete, und der Aufstand 1985, der zum Sturz von Jafa’ar Nimeiri führte, sind bis heute wichtige Bezugspunkte, auf die sich z.B. auch die Revolutionsbewegung 2018/2019 berief. 

Zwei von insgesamt drei großen Bürgerkriegen im Sudan fanden zwischen Rebellenbewegungen im Süden – dem heutigen Südsudan – und Regierungen im Norden des Sudan statt. Der erste Bürgerkrieg von 1955 bis 1972 endete mit Zugeständnissen zugunsten der Autonomie des Südsudans. Im zweiten Bürgerkrieg von 1983-2005 waren die Kämpfe zwischen der Rebellenbewegung Sudan People’s Liberation Movement (SPLM) sowie einer abtrünnigen Fraktion, die von der Regierung in Khartum unterstützt wurde, über weite Teile verlustreicher als Auseinandersetzungen zwischen SPLM und Regierungsarmee. 

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts brach ein weiterer Bürgerkrieg aus. Welche Ursachen gab es für den Darfur-Konflikt?

Die Geschichte und Politik Sudans ist geprägt von der Ausbeutung von Ressourcen und Arbeitskräften der Peripherie durch die wechselnden politischen Akteure im Land. Dies führte zu Gegenbewegungen in verschiedenen Teilen des Landes, besonders im Westen in der Region Darfur. Anfang der 2000er bildeten sich dort Rebellenbewegungen, gegen die die Regierung einen Krieg führte. Dieser wirkte sich stark zu Lasten der Zivilbevölkerung aus. 

Für den Darfur-Konflikt sind Auswirkungen der Klimaveränderung von großer Bedeutung. Sie betreffen die Region besonders stark; die erratischen Regenfälle und die Ausweitung der Wüste nach Süden führten zu einer Veränderung der saisonalen Migrationsbewegung. Das veränderte das Verhältnis zwischen nomadischer und sesshafter Bevölkerung, die oft unterschiedlichen Volksgruppen angehören, die „arabisch“ bzw. „afrikanisch“ gelesen werden. Dieses Konfliktpotential wurde von verschiedenen Seiten weiter politisiert und instrumentalisiert. 

Die Rebellen kamen aus nicht-arabischen Bevölkerungsgruppen aus Darfur, insbesondere den Zaghawa, Fur und Masalit. Gegen diese setzte die damalige Regierung unter Omar al-Bashir bereits bestehende Milizen ein, die sich aus arabischen Volksgruppen rekrutierten. Diese Milizen wurden bewaffnet, ausgebildet und arbeiteten mit dem formalen Militär zusammen. Sie wurden lokal Janjaweed (“Teufelsreiter”) genannt. Aus einer Gruppe der Janjaweed entstand 2013 die paramilitärische Miliz Rapid Support Forces (RSF), die im aktuellen Konflikt eine große Rolle spielt. Die Janjaweed gingen oft brandschatzend, plündernd und mordend gegen die nicht-arabische Zivilbevölkerung vor. Millionen von ihnen wurden vertrieben und blieben teilweise auch 20 Jahre nach Beginn des Kriegs noch in Vertriebenenlagern.

Die RSF besiegten die meisten bewaffneten Rebellengruppen schließlich, deren Reste sich nach Libyen zurückzogen. 2020 handelten Vertreter dieser besiegten Gruppen mit RSF und der Armee ein Friedensabkommen aus, das ihnen den Zugang zur Macht brachte und den Konflikt beendete – letzteres allerdings nur auf dem Papier.

2011 wurde der Südsudan unabhängig. Was bedeutete das für den Rest Sudans?

Die Unabhängigkeit Südsudans war in dem Umfassenden Friedensabkommen von 2005 als Möglichkeit vorgesehen. 2011 entschied sich die Bevölkerung des Südsudans in einem Referendum für die Unabhängigkeit. Dadurch verlor der Rest Sudans seine wichtigste Einkommensquelle: Ein Großteil der Staatseinnahmen und des Brutto-Inlandsprodukts kam aus der Ölindustrie. Die meisten Ölquellen befinden sich jedoch im Südsudan. Auch erhebliche Transferzahlungen für den Transport des Öls über Pipelines in Sudan zum Roten Meer konnten den Verlust dieser Einnahmequelle nicht ausgleichen. Das wurde zum Problem für das Regime von Omar al-Bashir. Das Regime praktizierte ein Patronage-Modell, durch das Treibstoff, Mehl und Medikamente für Eliten und die städtische Bevölkerung stark subventioniert wurde. Im Herbst 2018 wurden diese Subventionen zurückgefahren, was zu Protesten führte, die sich zuerst gegen den daraus folgenden Anstieg von Brotpreisen richteten.

Zur Revolution 2018/2019 und der Rolle der Jugendbewegungen darin gibt es bereits einen Beitrag im vorliegenden UNEINS Impulse. Können Sie uns erläutern, was nach dem Sturz von al-Bashir geschah?

Nach monatelangen Massenprotesten kam es schließlich zum Sturz von Bashir im April 2019. Das Militär und der Geheimdienst, die Bashir in einer Palast-Revolte entfernt hatten, glaubten, durch die Entfernung dieser Führungsfigur das System bewahren zu können. Das durchschauten die Protestierenden allerdings sofort. Sie verweigerten den Abbau des großen Protestcamps vor dem Militärhauptquartier im Zentrum von Khartum und forderten: “Wir wollen eine Madaniya, eine zivile Herrschaft”. Das Protestcamp bestand mehrere Monate lang. Im Morgengrauen des 3. Juni 2019 überfielen und zerstörten Sicherheitskräfte das Protestlager, töteten über 120 Menschen, vergewaltigten und verfolgten einzelne Protestierende. Doch trotz Internetsperren schaffte es die sudanesische Zivilgesellschaft Ende Juni, eine nie dagewesene Mobilisierung auf die Beine zu stellen – nicht nur in Khartum, sondern im ganzen Land. Gleichzeitig gab es Verhandlungen auch mit Unterstützung der Afrikanischen Union und Äthiopiens zwischen politischen Parteien, Gewerkschaften, Berufsverbänden und dem Militär, die schließlich im Sommer 2019 zur Einigung auf eine zivil-militärische Übergangsregierung führten. 

Wie kam es zum Kriegsausbruch 2023?

Der Übergangsregierung kam zunächst große Unterstützung und Euphorie in Sudan und in der Welt zuteil. Zu diesem Zeitpunkt war der Staat jedoch bereits ausgelaugt. Die Ministerien waren zuvor von Personen besetzt, die oft unqualifiziert waren, weil sie nur aufgrund ihrer Loyalität zum Regime diese Posten erhalten hatten. Sie wurden breitflächig entfernt, der Staat hatte im Anschluss jedoch sehr wenige Kapazitäten, um Reformen umzusetzen. In der Folge gab es Unruhen, gleichzeitig versuchten auch Kräfte des gestürzten Bashir-Regimes – er selbst war im Gefängnis – zurückzukommen. Diese Regierung hielt sich für rund zwei Jahre, bis es zu einem Putsch kam. Die paramilitärische RSF und die Armee putschten zusammen, bzw. sie entfernten die zivilen Anteile der Regierung, da sie selbst schon in der Regierung vertreten waren. Ihr Ziel war es, eine Technokraten-Regierung ohne zivile Parteien durchzusetzen. Das wollte die Zivilbevölkerung aber nicht zulassen. Es kam erneut zu langanhaltenden Protesten.

Konsultationen in diesem Zeitraum wurden von der zivilen Mission der Vereinten Nationen UNITAMS zusammen mit weiteren Akteuren geführt. Zum Sommer 2022 zeigte sich das Militär offen für Gespräche mit den zivilen Politikern der vorherigen Regierung, die fortan überwiegend unter sich im kleinen Kreis verhandelten, um die Putschsituation zu beenden. Sie einigten sich im Dezember 2022 auf ein sogenanntes Rahmenabkommen, mit dem der Grundstein für eine ausschließlich zivile Regierung gelegt werden sollte. Zuvor sollte es zur Beilegung von Streitfragen kommen, zu der auch das Thema der Sicherheitssektorreform gehörte: Wie sollte der Sicherheitssektor konkret organisiert werden? In welchem Zeitraum sollte die RSF in die Armee integriert werden? Wem sollte die RSF in der Zwischenzeit unterstehen? Am Ende gab es keine Einigkeit. Das war der Auslöser für die Schüsse und den Ausbruch des Kriegs zwischen den RSF und der sudanesischen Armee am 15. April 2023. Gleichzeitig war es eine Gelegenheit für Kräfte des früheren Regimes von Bashir, ihre Machtbasis auf Seiten der Armee und zulasten jedweder demokratisch gesinnter Kräfte zu vergrößern.

Im Unterschied zu vorherigen Bürgerkriegen Sudans begann dieser Krieg also im Zentrum des Landes und der Macht zwischen zwei konkurrierenden militärischen Einheiten. Auch wenn viele in der Zivilbevölkerung grundsätzlich beide militärischen Lager ablehnen, reicht der Krieg mittlerweile immer stärker in die ethnisch-sozialen Differenzen der Gesellschaft hinein. Hassrede und ethnisch basierte Mobilisierung spielen auf allen Seiten eine zunehmende Rolle.

Welche Rolle spielen internationale Akteure im aktuellen Konflikt?

Die internationale Einmischung ist massiv. Ausländische Regierungen unterstützen die Kriegsparteien und verlängern dadurch den Krieg. Auf der einen Seite unterstützen vor allem die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) die RSF, auch wenn sie das immer wieder leugnen. Diese Unterstützung geht über viele Nachbarstaaten des Sudans weiter, wo sich die VAE Einfluss erkauft haben, insbesondere über Tschad, Südsudan, aber auch über Uganda und Kenia sowie über Teile Somalias. Auf der anderen Seite steht die Armee, die die Regierung kontrolliert und auch von den Vereinten Nationen (VN) anerkannt wird. Sie sitzt mittlerweile in Port Sudan, da Khartum zwischenzeitlich stark umkämpft war. Die Armee wird militärisch von Ägypten unterstützt, dem traditionell wichtigsten Verbündeten. Zusätzliche Waffen und andere militärische Unterstützung kommen aus Iran, der Türkei, und von Russland. 

“Das Korridorprojekt ist ein gewaltsames Modernisierungsprogramm der Städte zugunsten der Elite um Abiy Ahmed”

Zitate beim Redaktionsnetzwerk Deutschland, 2.Juli 2025

„Das Korridorprojekt ist ein gewaltsames Modernisierungsprogramm der Städte zugunsten der Elite um Abiy Ahmed (Äthiopiens Ministerpräsident, Anm. d. Red.) und zugunsten der Unternehmen, die mit ihnen zusammenhängen“, sagt Gerrit Kurtz, Ostafrika-Forscher der Stiftung Wissenschaft und Politik. „Das Projekt geht zulasten insbesondere der armen Menschen, die vertrieben werden.“ Zwar seien manche Umzüge freiwillig erfolgt und manche der neuen Wohneinheiten besser, aber Anspruch hat nur, wer legal gelebt und gearbeitet hat. Und das sind die wenigsten.

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Dass Arme keine große politische Lobby in Äthiopien haben, ist nicht neu. Im Fall des Korridorprojekts erfuhren viele erst kurz vor der Räumung überhaupt davon, was dort entstehen soll, wo sie wohnen. „Bisher waren Vertreibungen häufig im ländlichen Raum, nach Dürren oder in von Konflikten betroffenen Gebieten“, sagt Kurtz. „Aber jetzt geht es um die Umgestaltung der Zivilgesellschaft und den sozialen Zusammenhalt.“

Äthiopien ist auf dem Weg zum Polizeistaat

Für Leute, die umziehen müssen, bricht das gesamte soziale Netzwerk und die Existenzgrundlage weg. „Informelle Netzwerke sind gerade da wichtig, wo es keine ausreichenden sozialstaatlichen Umgebungen gibt“, sagt Kurtz. Man hilft sich, man kümmert sich, wenn einer krank wird, arbeitslos wird, wenn ein Kind geboren wird.

„Bei Initiativen von Abiy hat man häufiger das Gefühl, dass da schon etwas Gutes dabei ist, aber dass es eben nicht gut gemacht ist, den falschen Zwecken dient und zu mehr Problemen führt“, sagt Kurtz. Kritiker monieren etwa, dass das Projekt so schnell umgesetzt wird – während 28 Millionen Äthiopier, die dauerhaft auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, auf Handlungen der Regierung warten.

„Rückblickend gesehen“, sagt Gerrit Kurtz, „hat ihn der Friedensnobelpreis ermutigt, entschlossener gegen seine Feinde oder Gegner vorzugehen und war damit eher kontraproduktiv. Abiy Ahmed ist keine Friedensfigur, er ist eine komplexe Figur.“ Selbst für Experten ist der Politiker kaum durchschaubar, unklar, was ihn antreibt. Mal verbündet er sich mit der einen, mal mit der anderen Gruppe. Und hat gleichzeitig doch große Visionen für sein Land.

„Es ist ein zentrales Problem, dass die Entscheidungsfindung so auf das Büro des Premierministers zentralisiert wurde“, erklärt Kurtz, „das Regierungshandeln hat somit an interner Rechenschaft eingebüßt“. Bedeutet: Abiy Ahmed und seine Verbündeten können machen, was sie wollen. Es gibt kaum Gegenwind. Und wenn doch, kommt es zu Verhaftungen. „Äthiopien“, sagt Gerrit Kurtz, „ist eben keine Demokratie.“

Trotz des Erfolges der Armee ist ein Ende der Kämpfe nicht in Sicht

Zitate in den Salzburger Nachrichten, 16. April 2025

Ukraine, Israel, Gaza und die US-Regierung: Für den Sudan ist häufig kein Platz in den Schlagzeilen. Dabei sind dort mehr Menschen auf der Flucht, als Österreich Einwohner hat.

Gudrun Doringer Salzburg, Khartum. Die Konkurrenz der Krisen sei verantwortlich dafür, dass die Katastrophe im Sudan zur Kurzmeldung verkomme, sagt Gerrit Kurtz. Er ist Sudan-Experte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik. Für ihn ist sie mehr als das. Er beschäftigt sich tagein, tagaus eben mit dem Krieg im Sudan, der nun ins dritte Jahr geht.

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Warum wird überhaupt gekämpft in dem ostafrikanischen Land? Es ist der Machtkampf zweier Generäle, die einst verbündet waren. Gerrit Kurtz erklärt: „Abdel Fattah al-Burhan befehligt das Militär im Land. Mohamed Hamdan Daglo, bekannt als Hemeti, ist Chef der Rapid Support Forces, kurz RSF – eine Konkurrenzsicherheitskraft. Die RSF war unter dem früheren Herrscher Baschir aufgebaut worden, um sich vor Putschen zu schützen.“ Baschir war selbst unter einem solchen Putsch an die Macht gekommen. „Daher hat er Paramilitärs gefördert, um eine Konkurrenz herzustellen“, sagt Kurtz. „Die haben auch Aufstände [bekämpft] und Grenzen gesichert, aber sie waren von Anfang an als Konkurrenz angelegt. Als Baschir weg war, haben die beiden Kräfte erst einmal zusammengearbeitet, weil sie den Gegner in der zivilen Demokratiebewegung gesehen haben, mit der sie auch gut zwei Jahre lang mehr schlecht als recht zusammen regiert haben. Als sie dann geputscht haben im Oktober 2021, beide zusammen, da war der zivile Gegner in der Regierung nicht mehr da. Das Verhältnis zwischen diesen beiden Sicherheitskräften musste geklärt werden: Wer ist die Nummer eins?“ Zu einer Einigung kam es nicht. Daran entzündete sich im April 2023 der Kriegsausbruch.

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Trotz des Erfolges der Armee ist ein Ende der Kämpfe nicht in Sicht. „Beide Seiten erhalten weiterhin reichlich Unterstützung von außen, um ihre Kämpfe fortzusetzen“, sagt Gerrit Kurtz. „Die RSF von den Vereinigten Arabischen Emiraten. Die Armee durch militärische Zusammenarbeit mit Ägypten, mit dem Iran, mit Russland und mit der Türkei.“ Für die Bevölkerung sind die Auswirkungen fatal. Hunger wird als Waffe eingesetzt. Sexuelle Gewalt ebenso. „Es ist ein Krieg, der die Körper von Frauen und Kindern als Kriegsstrategie benutzt“, sagt Hala al-Karib, Sudan-Direktorin der Frauenrechtsorganisation Siha.

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Hätte das Grauen ein Ende – was würde der Sieg einer der beiden Kriegsparteien für das verwundete Land bedeuten?

Der Sudan sei die meiste Zeit seit seiner Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich von Militärregierungen regiert worden, sagt Kurtz. „Wenn also die Armee die Regierungsgewalt zurückerobern würde, dann wüssten wir, wie das aussieht: harte autoritäre Repression. In den Gebieten, die sie gerade zurückerobert haben, hören wir von Erschießungen der Leute, denen sie vorwerfen, sie hätten mit den RSF zusammengearbeitet.“ Kurtz erwähnt auch die Angehörigen des früheren islamistischen Regimes von Umar al-Baschir, die auch jetzt militärisch eine große Rolle für die Armee spielen. Sie könnten im Fall eines Armeesieges zurückkommen. „Davor haben viele Angst. Einige Menschen sehen die Armee dennoch als kleineres Übel. Die RSF wird mittlerweile zusammengehalten von einem Freibrief zu Plünderung und Rache. Wir sehen Massaker an der Zivilbevölkerung. Das ist Gewalt, die wir auf diese Weise von der Armee nicht sehen.“

Eine einberufene Konferenz am Dienstag in London sagte dem Sudan 660 Millionen Euro Hilfsgelder zu. „Die Konferenz ist der Versuch, ein Thema aufs Tapet zu heben, das sonst nicht vorkommt, weil es auch europäische Politiker nicht hoch hängen“, sagt Gerrit Kurtz. „Es birgt Frustpotenzial, weil es an Einflussmöglichkeiten mangelt.“ Für die Menschen im Sudan bedeutet der Beginn des dritten Kriegsjahres Aufmerksamkeit – für einen Tag.

„Man spürt auch hier, dass die USA mehr nach innen gekehrt sind“

Interview mit Die Welt, 20.August 2024

Der Krieg im Sudan hat die größte Flüchtlingskrise der Welt ausgelöst. Die USA organisierten internationale Verhandlungen in der Schweiz, um den Krieg zu beenden – aber die Armee des Landes nahm gar nicht erst teil. Sudan-Experte Gerrit Kurtz sieht vor allem einen Akteur kritisch.

Seit 16 Monaten bekämpfen sich die sudanesische Armee und die Miliz Rapid Support Forces (RSF). Zehntausende Menschen starben, jeder fünfte Bürger wurde vertrieben. Und jeder zweite Sudanese ist von einer akuten Hungerkatastrophe bedroht. Gerrit Kurtz (38), Sudan-Experte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin, über die Chancen, den Krieg und die größte Flüchtlingskrise der Welt zu beenden, die Rolle der Akteure – sowie strategische Fehler der USA und Europa.

WELT: Sudans Armee hat Gespräche mit der RSF-Miliz in Genf abgelehnt, am Montag aber dann Vertreter zu Gesprächen mit US-Vermittlern nach Ägypten geschickt. Gibt Ihnen das Hoffnung, dass doch noch Bewegung in die Friedensinitiative kommen könnte?

Gerrit Kurtz: Im Vorfeld der Schweiz-Konferenz waren Unstimmigkeiten mit Sudans Armee nicht ausgeräumt worden. Sie lehnt die Teilnahme der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) als Beobachter ab, kritisiert seit Monaten deren Unterstützung für die RSF mit Waffen und Geld. Es ist aber natürlich genau deshalb entscheidend, dass die VAE bei diesen Verhandlungen eingebunden sind, weil sie eben Einfluss auf die RSF haben. So wie Ägypten Einfluss auf die Armee hat und ebenfalls eingeladen wurde. Vorwürfe der Armee an die RSF, wie etwa die Blockade humanitärer Hilfe, treffen auf sie selbst genauso zu. Das sind für mich also vorgeschobene Gründe. Die Generäle fürchten, dass sich Verhandlungen negativ auf ihre Machtkämpfe innerhalb der Armee auswirken könnten. Aber immerhin finden in Kairo ja nun persönliche Gespräche mit US-Mediatoren statt. Das ist ein Hoffnungsschimmer.

WELT: Wurden Fehler gemacht?

Kurtz: Der Zeitpunkt für die Schweiz-Konferenz war ungünstig angesetzt. Der Beginn am 14. August ist der Tag der Armee im Sudan, an dem Armee-Chef Abdel Fattah al-Burhan eine große kämpferische Rede gehalten hat. Es wirkt auch so, als hätte es mehr Gespräche der USA im Vorfeld geben müssen. Aber man ist natürlich unter Zeitdruck. Wegen der unglaublich dramatischen humanitären Situation, aber auch den anstehenden US-Wahlen, wegen denen ja unklar ist, ob das Mandat des US-Sondergesandten für den Sudan, Tom Perriello, fortgesetzt werden kann. Aber das Ziel des Waffenstillstands setzt die Klärung politischer Rahmenbedingungen voraus. Es steht die Frage im Raum: Was passiert mit den Konfliktparteien am Tag nach dem Waffenstillstand? Das wurde nicht ausreichend verhandelt.

WELT: Sie argumentieren, dass der Sudan kein Stellvertreterkrieg ist und beschreiben die Lage eher als einen Konflikt um die Vorherrschaft des Sicherheitssektors und die Kontrolle der Wirtschaft. Gleichzeitig heizt die Unterstützung von Regionalmächten den Krieg an. Wie passt das zusammen?

Kurtz: Es geht mir um die Charakterisierung des Konflikts, da spielen die Interessen von außen nicht die primäre Rolle. Aber natürlich haben auch geopolitische Rivalitäten Einfluss, wie etwa zwischen den VAE und dem Iran. Abu Dhabi möchte als maritime Macht nicht, dass Teheran als Unterstützer der Armee an Einfluss am Roten Meer gewinnt. Die VAE verfolgen insgesamt eine sehr aggressive Außenpolitik in der Region, das kennen wir auch aus Äthiopien und Libyen. Es handelt sich um ein sehr autokratisches Land, in dem wenige Menschen viel Einfluss haben, ohne für ihre Entscheidungen auch intern viel Rechenschaft ablegen zu müssen. Diese Akteure können mit den Geschicken anderer Länder regelrecht spielen, ohne die Auswirkungen davon zu spüren, über Flüchtlingsströme etwa. Das ist ein großer Unterschied zu Ägypten oder anderen Nachbarländern Sudans.

WELT: Über die Vereinigten Arabischen Emirate wird nicht nur das Gold aus dem Sudan gewaschen, sondern auch das aus anderen Konfliktländern wie Mali. Warum wird so wenig internationaler Druck auf das Land ausgeübt?

Kurtz: In die Richtung der Finanzflüsse zum Konfliktgoldhandel müsste tatsächlich mehr Druck auf die VAE ausgeübt werden, auch aus Europa. Da wurde zuletzt etwas verstärkt draufgeschaut – aber immer noch nicht im ausreichenden Maße. Man verlässt sich darauf, dass die Emirate sich bei der Überwachung selbst überwachen. Die VAE waren mal auf der „Grauen Liste“ der Financial Action Task Force, einem internationalen Gremium zur Bekämpfung illegaler Geldströme, wurden dann aber wieder heruntergenommen, weil sie behaupteten, ausreichend Maßnahmen getroffen zu haben. Mit Blick auf den Konflikt im Sudan ist das aber nicht ersichtlich. Da müsste man womöglich auch noch mehr VAE-Wirtschaftsakteure im Goldsektor sanktionieren und von europäischen Banken abschirmen und Reisen nach Europa ausschließen.

WELT: Fehlt es an einem europäischen Bewusstsein zur Rolle der VAE?

Kurtz: Es ist ein Problem, dass die afrikanischen Konflikte häufig nicht so hoch auf der Agenda von bilateralen Gesprächen westlicher Länder mit den VAE rangieren, anders als etwa der Nahost-Konflikt oder das Thema Energie. Die Geheimdienste dürften klare Beweise haben. Man spricht das vielleicht an. Mehr aber auch nicht.

WELT: Glauben Sie, dass diese Interessen im Nahost-Konflikt oder bei der Energieversorgung so sehr überwiegen, dass man deshalb Themen wie die Ausbeutung afrikanischer Rohstoffe nicht zur Sprache bringt?

Kurtz: Ja. Wenn man es überhaupt zur Sprache bringt, ist gleichzeitig klar, dass keine Konsequenzen zu befürchten sind. Diese müsste man klarer signalisieren und auch durchsetzen. Und da habe ich zumindest meine Zweifel, dass das ausreichend passiert.

WELT: Die USA haben eine von Sanktionen begleitete Geschichte mit dem Sudan. Wird das Land überhaupt als neutraler Vermittler akzeptiert?

Kurtz: Es gibt natürlich keine große Freundschaft mit den USA. Aber das Militär weiß, dass die USA auch bei vergangenen Kriegen wie im Darfur-Konflikt oder dem Unabhängigkeitskrieg des Südens viel Druck ausüben konnten. Aber Sudan hat inzwischen an Relevanz in den USA verloren, der Sondergesandte war früher direkt dem Präsidenten unterstellt, jetzt ist er Gesandter des Außenministers. Man spürt auch hier, dass die USA, abgesehen von der aktuellen Situation in Israel, weit mehr nach innen gekehrt sind als noch vor 20 Jahren. Das gilt besonders für die Situation in Sudan, und das spiegelt sich auch auf den politischen Einfluss dort wider. Natürlich könnte man, wenn man wollte, auch andere Großnarrative finden, die aktuell noch in den USA relevant sind, wie den Einfluss von China und Russland. Aber das sind nun einmal nicht die wichtigsten Akteure im Sudan.

WELT: Russland hat sich bislang beide Kriegsparteien warmgehalten. Glauben Sie, dass der Kreml sein Gewicht klar hinter eine Seite verlagern wird?

Kurtz: Russland ist ein opportunistischer Akteur und versucht, so viel wie möglich aus Sudan herauszuholen. Das betrifft Gold und andere Ressourcen, die Sicherheitspolitik über die geplante Militärbasis am Roten Meer und andere Möglichkeiten, dem Westen zu schaden. Es liegt den Russen näher, mit einem formellen Militär und einer Regierung zu arbeiten. Aber sollte RSF-Anführer Hemedti die Macht übernehmen, dann würde Russland nicht zögern, auch offiziell mit ihm Geschäfte zu machen.

    WELT: Viele fürchten, dass der Krieg in einem Libyen-Szenario resultieren wird, bei dem der Westen dauerhaft von der RSF und der Osten von der Armee kontrolliert wird. Teilen Sie diese Sorge?

    Kurtz: Es ist auf jeden Fall ein realistisches Szenario. Aber es hat zuletzt signifikante Geländegebiete der RSF im Zentrum des Landes gegeben. Es ist nicht gesagt, dass die Front so bleibt, wie sie ist.

    WELT: Gibt es irgendetwas, das Ihnen Hoffnung für den Sudan gibt?

    Kurtz: Der Sudan hat weiterhin eine sehr starke Zivilgesellschaft, die trotz des Krieges ein anderes Ausmaß hat als die in Ländern wie Äthiopien oder Südsudan. Das allein wird nicht den Krieg beenden, aber das sollte uns auch weiterhin Hoffnung machen. Solange der Krieg anhält, ist jede Form der zivilen Herrschaft natürlich unmöglich. Armee und RSF wollen die Vorherrschaft über Sicherheitsapparat und Wirtschaft. Aber sie wollen nicht wirklich regieren, dafür fehlen ihnen die Strukturen. Eine gewisse zivile Mitbestimmung ist auch in Zukunft möglich. Aber leider absehbar nicht im Sinne einer Demokratie mit gleichen Rechten für alle. Ein System ohne massiven Einfluss der Gewaltakteure ist aktuell nicht vorstellbar.