Unruhe am Horn von Afrika: Riskanter Deal zwischen Äthiopien und Somaliland

SWP-Podcast 2024/P 02, 01.02.2024

Somaliland soll Äthiopien Zugang zum Meer gewähren. Als Gegenleistung will es als Staat anerkannt werden. Gerrit Kurtz erklärt, welche Interessen hinter diesem Deal stecken und wie dieses Vorgehen die Stabilität am Horn von Afrika gefährdet. Moderation: Dominik Schottner.

Neue Unruhe am Horn von Afrika: Somaliland bietet Äthiopien Hafen gegen Anerkennung

Jemenitische Huthis beschießen Schiffe im Roten Meer. Auf der anderen Seite der Meerenge kocht nun ein weiterer Konflikt hoch. Jetzt reist Außenministerin Baerbock in die Region.

Erschienen im Tagesspiegel, 24.01.2024

Während die Huthi-Angriffe auf Schiffe im Roten Meer internationale Aufmerksamkeit auf den Jemen lenken, spitzt sich auch am anderen Ufer die regionale Konfrontation zu. Das Abkommen, das Äthiopien und Somaliland am 1.Januar 2024 unterzeichneten, beunruhigt die Region am Horn von Afrika.

Sowohl Äthiopiens Premierminister Abiy Ahmed als auch Somalilands Präsident Muse Bihi Abdi verfolgen mit dem Abkommen langjährige Interessen ihrer beiden Länder. Die nördliche Region Somaliland erhebt seit 1991 den Anspruch auf Unabhängigkeit von Somalia, dem bisher allerdings kein UN-Mitglied gefolgt ist. Allerdings treiben die beiden Regierungschefs mit ihrer unabgestimmten Vorgehensweise eine ohnehin konfliktreiche Region weiter auseinander. In dieser Form gefährdet der Deal die Stabilität am Horn von Afrika und dient kurzfristigen politischen Prioritäten.

Als Teil des Abkommens will Äthiopien einen 20 Kilometer langen Küstenstreifen in Somaliland für 50 Jahre pachten, um kommerzielle Hafendienste zu nutzen und eine Basis für die im Aufbau befindliche äthiopische Marine zu errichten. Äthiopien hatte 1993 mit der Unabhängigkeit Eritreas den direkten Zugang zum Meer verloren. In einer viel beachteten Rede hatte Abiy im Oktober 2023 gar davon gesprochen, dass Äthiopien als bevölkerungsreichstes Binnenland der Welt nicht ein „Gefangener der Geographie“ werden dürfe. Die Benutzung des Hafens von Dschibuti, den Äthiopien derzeit überwiegend für seinen Handel nutzt, kostet die Wirtschaft rund 1,5 Milliarden US-Dollar Gebühren pro Jahr.

Im Gegenzug, und das ist der kontroverse Teil der Abmachung, stellt Äthiopien Somaliland in Aussicht, das Land diplomatisch anzuerkennen. Somaliland bezieht sich auf die Grenzen des früheren britischen Protektorats, das 1960 für fünf Tage unabhängig war, bevor es sich mit der früheren italienischen Kolonie am Indischen Ozean zu Somalia vereinigte. In den 1980er Jahren gab es einen brutalen Bürgerkrieg zwischen somaliländischen Rebellen und der Zentralregierung, in deren Folge sich die Region abspaltete. Während Somalia nach dem Sturz des Diktators Siad Barres ins Chaos stürzte, bauten die Menschen in Somaliland ohne viel äußere Hilfe ihren Staat auf, der traditionelle und demokratische Elemente vermischt.

Ob das völkerrechtlich nicht bindende Abkommen tatsächlich die von den beiden Regierungen erhoffte Wirkung zeigen wird, ist allerdings offen. Der Text selbst wurde nicht veröffentlicht. Äthiopien stellte klar, dass es lediglich versprochen habe, „eine tiefgehende Bewertung durchzuführen hinsichtlich einer Position gegenüber den Bemühungen von Somaliland Anerkennung zu erlangen.“ Es ginge eher um Geschäftsinteressen, erklärte der nationale Sicherheitsberater Äthiopiens, Radwan Hussein. Als Bezahlung soll Somaliland entsprechende Anteile an der Fluggesellschaft Ethiopian Airlines erhalten, da Äthiopien über kaum Devisen verfügt.

Seit der Bekanntmachung des Abkommens zwischen Äthiopien und Somaliland ist die Region in Aufruhr. Somalias Präsident Hassan Sheikh Mohamud versprach dem Parlament, „jeden Zoll unseres Territoriums zu schützen“ und mobilisiert diplomatische Unterstützung. Eritrea, Ägypten, die Arabische Liga und die USA sprachen sich gegen das Abkommen aus.

Entscheidend ist das politische Signal, das von dem Abkommen ausgeht. Es zerstört Vertrauen, das ohnehin Mangelware am Horn von Afrika ist. Sowohl Abiy als auch Bihi stehen innenpolitisch stark unter Druck, wie bewaffnete Konflikte in den äthiopischen Regionen Amhara und Oromia sowie in der Region um Las Anod im östlichen Somaliland zeigen. Davon soll der Deal mutmaßlich ablenken und Autonomie- und Abspaltungstendenzen entgegenwirken.

Sowohl Äthiopiens Interesse an einem gesicherten Meereszugang als auch Somalilands Streben nach Anerkennung mögen nachvollziehbar seien. Doch um beide Ziele langfristig abzusichern, braucht es eine Verständigung mit allen betroffenen Stakeholdern. Dazu gehören die Staaten der Region einschließlich der Zentralregierung in Mogadischu. Tatsächlich hatten Somalia und Somaliland nur wenige Tage vor der Verkündung des Abkommens unter Vermittlung Dschibutis beschlossen, Gespräche über ihr gemeinsames Verhältnis wiederaufzunehmen.

Zudem trägt die Abmachung zu einer Lagerbildung bei, welche außerregionale Mächte einschließt. Somalia und Eritrea suchen die Kooperation Ägyptens. Umgekehrt verbinden Äthiopien und Somaliland enge Beziehungen zu den Vereinigten Arabischen Emiraten. Auch im Krieg im Nachbarland Sudan unterstützen Ägypten und die VAE unterschiedliche Seiten.

Die Regionalorganisation IGAD ist gespalten, wie ihr jüngster Gipfel letzte Woche in Kampala zeigte. Dort stand das Abkommen auf der Tagesordnung, doch Abiy blieb dem Treffen fern.

Es bräuchte ein Dialog-Format, bei dem sowohl die regionalen als auch die außer-regionalen Regierungen zusammenkommen, was weder bei der Afrikanischen Union noch der Arabischen Liga der Fall ist. Die EU sollte eine entsprechende regionale Diplomatie unterstützen. Außenministerin Baerbock, die diese Woche die Region bereist, könnte sich dafür einsetzen.


Äthiopien: Fragile Macht am Horn von Afrika

Erschienen in: Barbara Lippert/Stefan Mair (Hg.): Mittlere Mächte – einflussreiche Akteure in der internationalen Politik, SWP-Studie 2024/S 01, 23.01.2024, 94 Seiten, doi:10.18449/2024S01

Seit Jahrzehnten ist Äthiopien ein zentraler Partner für externe Akteure. Das liegt nicht zuletzt an seiner strategischen Lage am Horn von Afrika, aus der sich verschiedene Rollen ergeben. Äthiopien ist eine Brücke zwischen der arabisch-muslimischen und der afrikanischen Welt, war einer der frühesten christlich geprägten Staaten, später eine afrikanische Imperialmacht, die sich auf Augenhöhe mit den europäischen Großmächten sah, und fungiert heute als Sitz der Afri­kanischen Union (AU). Seine Beziehungen zu den USA und zur EU haben sich in den letzten Jahren jedoch erheblich abgekühlt. Grund dafür ist vor allem der Bürgerkrieg mit der Tigray People’s Liberation Front (TPLF) im Norden des Landes, bei dem es zu mas­siven Menschenrechtsverletzungen kam. Premier­minister Abiy Ahmed verfolgt einen nationalistischen Erneuerungskurs, mit dem er sowohl innen- als auch außenpolitisch an die Grenzen von Äthiopiens staat­lichen Fähigkeiten stößt. An Ambitionen mangelt es ihm nicht. 2021 sagte Abiy vor dem nationalen Parla­ment, bis zur Mitte des Jahrhunderts solle Äthiopien eine von zwei globalen Supermächten werden.1 Äthio­pische Experten sehen das Land derzeit jedoch kaum auf der Höhe von Mittelmächten wie Saudi-Arabien oder den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE).2

Dabei untermauern zumindest einige materielle Indikatoren den Führungsanspruch Äthiopiens. Unter Afrikas Staaten hat es mit 126 Millionen Menschen die zweitgrößte Bevölkerung, die zudem rasant wächst. In den letzten zwanzig Jahren gehörte Äthio­pien zu den Ländern mit den höchsten wirtschaft­lichen Zuwachsraten der Welt – sein Bruttoinlandsprodukt hat sich in der Zeit mehr als versechzehnfacht. Mittlerweile verfügt Äthiopien auch über die zahlenmäßig größte Militärmacht in Sub-Sahara-Afrika, nachdem es seine Verteidigungsausgaben im Zuge des Bürgerkriegs erheblich gesteigert hat.3

Potential und Anspruch des Landes stehen jedoch in deutlicher Spannung zu seiner Fragilität. Schon die Vorgängerregierung unter Führung der Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front (EPRDF) sorgte sich um die Stabilität des Vielvölkerstaates. Laut der außen- und sicherheitspolitischen Strategie der damaligen Regierung waren Äthiopiens ökono­mische und (nach ihrem Verständnis) demokratische Defizite das größte Sicherheitsrisiko, weshalb es höchste Priorität haben müsse, rasch für mehr Ent­wicklung zu sorgen.4 Das stark von staatlicher Seite forcierte Wirtschaftsmodell geriet Mitte der 2010er Jahre aber zunehmend unter Druck, weil es nicht genügend Beschäftigung hervorbrachte.

Nach seinem Amtsantritt als Folge eines Machtwechsels innerhalb der EPRDF im April 2018 steuerte Abiy mit wirtschaftlichen und politischen Reformen um. Diese gerieten wegen der Covid-19-Pandemie aber schon bald ins Stocken. Der Krieg gegen die TPLF ab November 2020 stürzte das Land in eine tiefe Krise. Der Friedensprozess, der mit dem Pretoria-Abkom­men im November 2022 einsetzte, brachte neue Schwierigkeiten mit sich. Zusehends entglitt der Regierung das Gewaltmonopol. Äthiopiens bevölkerungsreichste Bundesstaaten Amhara und Oromia sowie weitere Teile des Landes werden heute von be­waffneten Konflikten, Kriminalität und Vertreibung erschüttert. Das Verhältnis zu Eritrea, das seine Inter­essen im Pretoria-Abkommen nicht berücksichtigt sah, verschlechterte sich in einem Maße, dass mittel­fristig ein erneuter Waffengang zwischen beiden Staaten droht. Der Eritreisch-Äthiopische Krieg von 1998 bis 2000 wirkt bis heute nach.

Für deutsche wie europäische Entscheidungsträgerinnen und ‑träger bleibt Äthiopien wichtig. In ihren Augen ist das Land schlichtweg zu groß, um es als staatliches Gemeinwesen scheitern zu lassen – seine Fragilität ist ein systemisches Risiko für die regionale Ordnung in Afrika, an der die EU ein eminentes Inter­esse hat. Äthiopien leistete in der Vergangenheit wich­tige Beiträge zur Konfliktbearbeitung in seinem Umfeld und setzte sich für die regionale Integration ein. Dabei hängt die Entwicklung des Landes nicht primär von Europa ab.

In den letzten Jahren entfernte sich Äthiopien von seiner international balancierenden Position, die es lange Zeit eingenommen hatte. Zwar sieht sich die politische Elite dank langjähriger Kooperation den westlichen Staaten und demokratischen Werten ver­bunden, doch setzt die Regierung stark auf eine Kooperation mit China, Russland und den VAE. Ob Äthiopien künftig eine Führungsrolle spielen kann und wie sich seine außenpolitische Handlungsfähigkeit gestaltet, dürfte insbesondere von der inneren Entwicklung und der regionalen Ausrichtung des Landes bestimmt werden.

Grundzüge der Außenpolitik unter Abiy

Abiys Regierung verfolgt einen neuen ideologischen Kurs, der eine Rückbesinnung auf die antiken Wur­zeln des äthiopischen Staatswesens propagiert.5 Spä­testens seit dem Sieg über italienische Kolonialkräfte in der Schlacht von Adua 1896 sah sich bereits das abessinische Kaiserreich als gleichberechtigten Teil der internationalen Ordnung. Im Gegensatz zu den sozialistisch geprägten EPRDF-Eliten vertritt Abiy einen eher wirtschaftsliberalen Ansatz, den er um das kulturelle Kapital der Traditionslinie zur antiken Zivi­lisation ergänzt. Dabei bleiben Äthiopiens Innen- und Außenpolitik, die stark auf den Premierminister aus­gerichtet sind, unter Abiy teilweise erratisch. So lässt sich derzeit nur begrenzt von einer übergeordneten außenpolitischen Identität des Landes sprechen. Der Kurs nationaler Größe, den die aktuelle Regierung verfolgt, wird jedoch immer wieder durch länger­fristig wirkende Faktoren eingehegt – wie den pan­afrikanischen Multilateralismus und das äthiopische Streben nach einem Ausgleich zwischen den Groß­mächten. Abiys Forderung etwa, dem Land einen direkten Zugang zum Roten Meer zu verschaffen,6 entspringt nicht allein dem Wunsch nach nationalem Prestige und regionaler Vorherrschaft, sondern eben­so dem Ziel, die heimische Wirtschaft von Großmacht­konflikten, welche Äthiopiens Nachbarn betreffen könnten, unabhängiger zu machen.

Die Folgen dieser politischen Neuausrichtung zeigen sich in Äthiopiens regionaler Orientierung. Hatte die EPRDF-Regierung, deren dominanter Teil die TPLF war, stets eine führende Rolle in den afrika­nischen Regionalorganisationen gespielt, werden diese von Abiy eher vernachlässigt. Abiys wechselnde regionale Partnerschaften erschweren die regionale Integration. Während des Kriegs gegen die TPLF arbei­tete Äthiopien militärisch eng mit Eritrea und Soma­lia zusammen. Asmara entsandte erhebliche Kontin­gente in den Kampf gegen die TPLF. Mit Sudan kam es währenddessen zu Grenzscharmützeln. In dieser Phase verringerte sich Äthiopiens Beitrag zu UN-Frie­densmissionen, deren größter Truppensteller das Land noch Mitte 2020 gewesen war, um über 75 Pro­zent. Zwar spielten AU und IGAD eine wichtige Rolle bei der Verhandlung des Pretoria-Abkommens, das den Krieg im Norden Äthiopiens beenden sollte. In der Folge kühlten sich Äthiopiens Beziehungen mit Eritrea jedoch ab, das seine Interessen im Frieden mit der TPLF nicht berücksichtigt sah. Nachdem Äthiopien Somaliland am 1. Januar 2024 in Aussicht gestellt hatte, dessen Unabhängigkeit von Somalia anzuerkennen, im Gegenzug für einen fünfzig Jahre gelten­den Meereszugang für die im Aufbau befindliche äthiopische Marine, verschlechterte sich auch das bilaterale Verhältnis zu Somalia.

Äthiopien will sich nicht vorschreiben lassen, mit welchen Ländern es prioritär zusammenarbeitet. Durch den Bürgerkrieg haben sich seine Partnerschaften verschoben. Die USA hatten gute Beziehungen zur EPRDF-Regierung. Aus amerikanischer Sicht war Äthiopien ein Stabilitätsanker am Horn von Afrika und ein wichtiger Partner im Kampf gegen islamistischen Terrorismus. Doch im Laufe des Krieges kappte Washington viele dieser Beziehungen und entzog Äthiopien Handelsprivilegien. Dass die Rolle des Lan­des als regionaler Sicherheitspartner Amerikas ver­fällt, werten manche Beobachter als »eines der fol­gen­reichsten strategischen Debakel, das die US-Außen­politik seit einer Generation in Afrika erlebt hat«.7

China investierte bereits unter der EPRDF-Regie­rung stark in Äthiopien, vor allem in den Transport- und Energiesektor. Dies betraf etwa die Eisenbahnstrecke zwischen Addis Abeba und Dschibuti. Ihr Maximum hatten chinesische Kredite für Äthiopien bereits vor rund einem Jahrzehnt erreicht.8 Mittlerweile ist die Volksrepublik der größte bilaterale Aus­landsschuldner des Landes.9 Auf diplomatischer Ebene sind die Beziehungen weiterhin eng. Die erste Reise des damals neu ernannten chinesischen Außen­ministers Qin Gang führte im Januar 2023 nach Addis Abeba. Ein Jahr zuvor hatte China bereits seine Ini­tiative für die »friedliche Entwicklung am Horn von Afrika« vorgestellt.10

Die Beziehungen Äthiopiens zu Russland reichen bis 1898 zurück, als beide Länder noch Monarchien waren. Äthiopien ist zwar von den wirtschaftlichen Auswirkungen des russischen Überfalls auf die Ukraine betroffen (vor allem bei Dünger), profitierte jedoch während des Krieges mit der TPLF auch von Moskaus Schutz im UN-Sicherheitsrat. Um ein eigenes Kernkraftwerk zu errichten, kooperiert Äthiopien mit Rosatom, der russischen Agentur für Atomenergie.

Daneben wurden die VAE zu einem der wichtigs­ten Partner des Landes. Die Emirate boten Abiy eine schnelle Finanzierung zu Beginn seiner Reform­agenda 2018. In kurzer Zeit stiegen sie überdies zu Äthiopiens wichtigstem Handelspartner auf – über 25 Prozent aller äthiopischen Exporte, vor allem Gold, gingen 2022 in die VAE, mehr als auf den gesamten afrikanischen Kontinent.11 Die Emirate lieferten (neben der Türkei und Iran) bewaffnete Drohnen an Äthiopien, die entscheidend dazu beitrugen, den Vormarsch der Tigray Defence Forces im Herbst 2021 zurückzuschlagen.12

Angesichts dieser geopolitischen Ausrichtung ent­schied der 15. BRICS-Gipfel im August 2023, Äthio­pien in die Gruppe aufzunehmen. Für Abiy ist der 2024 anstehende Beitritt zum Kreis der BRICS+-Länder »einer der größten diplomatischen Siege des Landes in den letzten Jahrzehnten«.13 Die Kooperation mit dem Format fügt sich ein in Abiys Ziel, Äthiopien zu einer führenden Macht zu entwickeln, dient aber vor allem auch den wirtschaftlichen Interessen und finan­ziellen Bedarfen des Landes.

Äthiopiens regionales und internationales Engagement

Auch unter der Vorgängerregierung war Äthiopien in wichtigen Fragen selten ein enger Partner Deutsch­lands, wie sich am Abstimmungsverhalten der beiden Länder in der UN-Generalversammlung zeigt. Äthio­pien stimmt seit über zwanzig Jahren öfter mit China als mit Deutschland. Mittlerweile gehört Letzteres so­gar zu den zehn Ländern, mit denen Äthiopien in den Vereinten Nationen am seltensten übereinstimmt.14

Deutschlands Interesse an Äthiopien gilt nicht zu­letzt dessen Beiträgen zu regionaler Kooperation, zu Friedensförderung und afrikanischer Handlungsmacht auf globaler Ebene. Das Land ist überdies an der militärischen Aufstandsbekämpfung in Soma­lia beteiligt. Dies geschieht über die EU-finanzierte Afri­can Union Transition Mission in Somalia (ATMIS) und die regionale Frontline States Task Force. Zudem ist Äthiopien eines der wichtigsten Aufnahmeländer für Geflüchtete in Afrika.

Auf kontinentaler Ebene engagierte sich Äthiopien im Zuge der Covid‑19-Pandemie. Im März 2020 rief Abiy die G20-Staaten auf, zusätzliche Finanzmittel für alle afrikanischen Staaten zu mobilisieren, denn nur so könne Corona umfassend bekämpft werden.15 In diesem Zusammenhang machte er Äthiopien zum kontinentalen Hub für die Verteilung medizinischer Güter, wozu er Ethiopian Airlines einsetzte.16

Seit dem Abkommen von Pretoria bemüht sich Äthiopien um eine Wiederannäherung an westliche Länder, mit einigem Erfolg. So nahm Abiy am US-Afrika-Gipfel Ende 2022 in Washington teil. Im Jahr darauf war er jeweils zweimal in Paris und Rom. Äthiopien ist insbesondere an vertiefter wirtschaft­licher Zusammenarbeit, an Schuldenumstrukturierung und Unterstützung für einen Kredit des Inter­nationalen Währungsfonds (IWF) interessiert. Die enormen Kosten des heimischen Krieges und der an­haltenden Sicherheitsprobleme in vielen Teilen des Landes belasten den Staatshaushalt. Hinzu kommen eine hohe Inflation von über 30 Prozent und ein Mangel an Devisenreserven, mit denen sich Importe finanzieren ließen. Trotz dieser wirtschaftlichen Nöte verwahrt sich die äthiopische Regierung gegen eine starke Konditionierung internationaler Finanzhilfen.

Schlussfolgerungen

Äthiopien nimmt keine »Mittelposition« in der auf­kommenden Bipolarität ein, sondern orientiert sich mehr an einer von China und Russland geprägten Ordnung. Deutschland sollte sich darauf einstellen, dass Äthiopien auch weiterhin seine Souveränität betonen und Beziehungen transaktional gestalten wird. In einer fluideren Weltpolitik, in der es wenig verlässliche Bündnisse gibt, bestehen jedoch Ansatz­punkte für eine bilaterale Kooperation.

Deutschland sollte mit der äthiopischen Regierung auf Politikfeldern, an denen beiderseitiges Interesse besteht, in einer Weise zusammenarbeiten, die über­geordnete deutsche Prioritäten nicht untergräbt, was die Glaubwürdigkeit internationaler Normen, der eigenen Kooperationsinstrumente und multilateraler Institutionen betrifft. Kommunikativ sollte die Bun­desregierung den Eindruck vermeiden, Äthiopien sei ein demokratisches Land, bloß weil dort Wahlen stattfinden.17

Deutschland hat ein Interesse daran, dass Äthiopien wieder zum Exporteur von Frieden und Stabilität in der Region wird.

Äthiopien bleibt Partnerland im »Compact with Africa« – einem Format, in dem die Regierungschefs aller Partnerländer von der Bundesregierung regel­mäßig zu Wirtschaftsgipfeln nach Berlin eingeladen werden. Fraglich ist jedoch, wie sehr diese diplomatischen Treffen und entsprechende Förderinstrumente der Bundesregierung dazu beitragen können, privat­wirtschaftliche Investitionen deutscher Unternehmen in Äthiopien anzuregen. Das größte Hindernis für solche Investitionen entsteht durch den politisch-wirtschaftlichen Kontext dort, insbesondere die be­waffneten Konflikte und die engen Kapitalverkehrskontrollen. Ein hochrangiger Dialog mit Addis Abeba zur Förderung von Investitionen kann nur dann Erfolg haben, wenn er sensible Governance-Themen offen thematisiert. Die von Äthiopien benötigten multilateralen makroökonomischen Hilfen bieten einen wichtigen Hebel, um von der Regierung mehr Transparenz und Rechenschaftspflichtigkeit gegenüber der eigenen Bevölkerung einzufordern.

Gemeinsame Interessen Deutschlands und Äthiopien bestehen beim Klimaschutz. Hier engagiert sich das Land im Rahmen seiner Green Legacy Initiative mit massenhaften Baumpflanzungen. Darüber hinaus ist es im deutschen Interesse, dass Äthiopien Kon­flikte im eigenen Land und in der Region gewaltfrei bear­beitet, damit es wieder zum Exporteur von Frie­den und Stabilität am Horn von Afrika wird.

Sustaining Peace in Ethiopia

The end of the war in the North should be the prelude to fundamental governance reforms

SWP Comment 2023/C 14, 07.03.2023

The agreement signed by the Tigray People’s Liberation Front (TPLF) and the Ethio­pian government on 2 November 2022 offers a real chance to end one of the bloodiest wars in the world. The implementation of the agreement is going well so far. How­ever, the peace process has brought into focus the question of a stable distribution of power within Ethiopia and in the Horn of Africa. The government under Prime Minister Abiy Ahmed faces three key challenges. First, it must integrate the TPLF and at the same time disengage from the partnership with Eritrea. Second, it must rebalance the domestic relationship between the main political actors in order to stop the escalating violence in the states of Amhara and Oromia. Finally, it must bring together a society divided and impoverished by war. International partners should support Ethiopia in addressing these challenges with conditional financial assistance and peacebuilding projects.

In January, Federal Foreign Minister Anna­lena Baerbock and her French counterpart, Catherine Colonna, visited Addis Ababa together. Their message: European partners are willing to intensify their cooperation with the Ethiopian government again if the peace process in Tigray is credible and, above all, if steps are taken to address the massive human rights violations.

Ethiopia’s civil war is the expression of a power struggle within the country’s ruling elite. In 2018, Prime Minister Abiy had sur­prisingly won an internal vote in the multi-party coalition Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front against the can­didate supported by the TPLF. When Abiy formed the new Prosperity Party from the old coalition in 2019, the TPLF, which had dominated the coalition government for 27 years, was left out. The TPLF retreated to Tigray while Abiy scaled back its influence within the government and security appara­tus and pursued a political and economic reform agenda.

However, the centralist course of Abiy’s government ran counter to demands for greater ethnic self-determination and political participation from communities across the country who saw their time had come after the TPLF had been set back. The 2018 transfer of power took place after years of protests in the states of Amhara and Oromia against Tigray’s dominance in Ethiopia. However, the differences between the government and the TPLF intensified the most, and in early November 2020, these differences escalated into an armed conflict.

The war was not limited to Tigray; there­fore, neither can the peace process be. In Ethiopia’s most populous states, Oromia and Amhara, ethno-nationalist forces have gained ground in recent years, fighting partly against the state and also against each other.

Abiy’s power base is crumbling as a re­sult of these fault lines, and no alternative centre of power has emerged. At stake is the stability – and ultimately even the unity – of the Ethiopian state. An optimistic per­spective, however, is that the peace process also offers an opportunity to involve more communities, strengthen civil society and renegotiate the distribution of power be­tween the centre and ethnically defined federal states that has preoccupied Ethiopia for decades.

Stopping the fighting helps Abiy to remain in power

The “agreement for a lasting peace through a permanent cessation of hostilities”, which the TPLF and the Ethiopian government signed in Pretoria, South Africa, and which was mediated by the African Union (AU), came as quite a surprise. A ceasefire lasting about five months in the first half of 2022 had brought no progress in negotiations. The fighting, which had flared up again at the end of August, was marked by a partic­u­lar degree of cruelty and a massive deploy­ment of troops. Reports speak of up to one million fighters deployed by all sides. In a joint offensive, Eritrean troops and the Ethiopian National Defence Forces (ENDF) captured strategically important towns in Tigray and were close to the regional capi­tal, Mekelle. The TPLF was sceptical about the AU as a credible mediator, which had delayed the start of peace talks.

In light of the military situation, the Ethiopian government’s rationale in partic­ular requires explanation. Its opponent, the Tigray Defence Forces (TDF), had already driven the Ethiopian armed forces out of Tigray in guerrilla actions in 2021 and then advanced into Amhara and Afar. However, the TDF did not manage to reach Addis Ababa or the supply routes between the economic centre of the country and the port in Djibouti. In autumn 2022, the TDF also ran out of supplies and ammunition.

For both sides, the war was associated with enormous costs. Estimates put the civil­ian death toll in Tigray alone at 518,000 at the end of 2022. Civilian casualties in Afar and Amhara and presumably hundreds of thousands of fallen fighters need to be added to this count. A total of 600,000–800,000 fatalities also corresponds with the order of magnitude cited by high-ranking representatives of the European Union (EU), the United States and the AU. Thus, about one-tenth of Tigray’s pre-war population may have lost their lives in the war, mainly due to the lack of medical care and mal­nutrition. The government blocked humani­tarian access for months and cut off Tigray’s population from electricity, telecommunications and banking services.

Abiy probably agreed to the cessation of hostilities because it helps to secure his own power. A complete military conquest of Tigray would probably have meant that the government would have had to con­centrate its armed forces in Tigray permanently in order to prevent possible guerrilla actions. The high military expenditure was a burden on Ethiopia’s national budget any­way. It would have become more difficult for Abiy to finance public investments, which have driven economic growth in the last decade and provided opportunities for patronage.

A permanent troop concentration in Tigray would also have prevented the government from deploying more military to the other conflict areas in the country. More­over, this scenario would have further increased Abiy’s dependence on Eritrea, which had deployed a significant part of its forces against the TDF.

After all, a military end to the war would have exposed the government to further international pressure. Although it had support for its course from the Trump ad­ministration and AU Commission Chair Moussa Faki Mahamat at the beginning of the war, this changed later. The United States suspended trade privileges under the African Growth and Opportunity Act on 1 January 2022, which hit Ethiopia’s textile sector particularly hard. Calls for further sanctions intensified in the US Congress. In the region, Kenya campaigned for a peace­ful solution to the war. After AU Special Envoy Olusegun Obasanjo failed to make progress, the AU expanded the mediation panel to include Uhuru Kenyatta, Kenya’s ex-president, and Phumzile Mlambo-Ngcuka, a former vice-president of South Africa.

The agreement is working – so far

The core of the agreement consists of a deal: The TPLF has committed to the complete disarmament, demobilisation and reintegration of the TDF into civilian life or into regular Tigray security forces and to the peaceful transfer of control to the police and armed forces of the central government. In return, the TPLF is to be removed from the Ethiopian terror list, humanitarian deliveries and basic services for the popu­lation in Tigray are to be restored and non-federal troops are to withdraw.

The most important goal of the agreement was achieved very quickly: an end to the fighting between the TDF and the ENDF. Both forces withdrew from the front lines. For most people in northern Ethiopia, the situation improved. Ninety per cent of Tigray’s population is dependent on food assistance – a large proportion of them now have access to aid again. Many towns were reconnected to the electricity grid in December. Banks reopened, telecommunications and internet connections were restored. Ethiopian Airlines resumed direct flights between Mekelle and Addis Ababa. But the quality of infrastructure is often still weak, and some areas remain barely accessible to humanitarian agencies, espe­cially those off of major roads and on the border with Eritrea. There are 2.3 million children out of school in Tigray alone, more than half of them for more than two years. Reconstruction will take a long time.

Close partnership with Eritrea

A sticking point in the peace process re­mains how to deal with those armed actors who were not present at the peace negotia­tions, primarily Eritrea and groups from Amhara.

For Abiy, Eritrean President Isaias Afwerki was an important ally in his power struggle against the TPLF. Isaias has har­boured deep hostility towards the TPLF ever since the border war over the town of Badme in northern Tigray (1998–2000). Al­though the Ethiopian government occupied the territory awarded to Eritrea by an international border commission after the war, Eritrea became increasingly isolated internationally. When it became known that the government in Asmara was sup­porting Al‑Shabaab in Somalia, the United Nations (UN) Security Council, at Ethiopia’s instigation, imposed sanctions and an arms embargo on Eritrea in 2009. The alleged threat posed by the TPLF – Ethiopia’s rul­ing party at the time – was used by Isaias to justify the introduction of indefinite mili­tary and labour service, which con­scripts Eritrean men and women alike.

The July 2018 agreement between Eritrea and Ethiopia, which earned Abiy the Nobel Peace Prize a year later, brought little last­ing progress in the border region. Nevertheless, it strengthened security and intelligence cooperation between the two govern­ments and led to the lifting of UN sanctions. As relations between the TPLF and Abiy deteriorated, the peace agreement turned into a war pact. Months before the war be­gan, Abiy moved military forces to Tigray. Eritrea organised training for 60,000 troops from Amhara state (according to the federal constitution, Ethiopian states have their own security forces).

Isaias accordingly views the peace process between the TPLF and the Ethiopian government with great scepticism. Even though Eritrean troop movements from some Tigray towns were reported as with­drawing in January, Eritrean military units are arguably still present in some areas of Tigray, in addition to special forces from other Ethiopian federal states, especially from Amhara. Eritrean and Amharic troops are blamed for attacks on civilians, includ­ing sexual violence, kidnapping and loot­ing. Between the beginning of November and the end of December 2022 alone, sev­eral thousand people are said to have been killed.

In contrast, the senior military commanders of the two conflict parties had agreed at a follow-up meeting 10 days after the Pretoria agreement in Nairobi that all non-ENDF troops should withdraw “concur­rently” with the disarmament of the TDF. To monitor compliance with the agreement, the AU set up a monitoring and verification mechanism led by Major General Stephan Radina from Kenya. This began its work at the end of December and confirmed on 10 January 2023 that the TDF had handed over most of its heavy weapons to the ENDF, including tanks and artillery. However, the AU team has not yet reported the withdrawal of non-ENDF troops from Tigray.

Domestic tensions

The ceasefire agreement offers indications for the peace process going forward, but it does not contain a comprehensive settlement of longer-term conflicts. Abiy’s chal­lenge is to make concessions to the TPLF in the peace process without putting too much strain on his other domestic alliances.

First, there is the future role of the TPLF in Ethiopian politics. The agreement fore­sees the formation of an inclusive interim administration for Tigray after the delisting of the TPLF as a terrorist organisation. It is considered likely that the TPLF will achieve a broad majority in the as of yet unscheduled elections for the regional parliament and for the representation of Tigray in the Ethiopian parliament. The question is whether the TPLF will allow itself to be integrated into Abiy’s government, whether it will withdraw to an opposition role or whether it will allow itself to be permanent­ly reduced to a purely regional party. At the same time, the TPLF must also strive for a more open and inclusive style of gov­ernment in Tigray itself, which opposition parties there are already calling for.

Abiy is encountering scepticism from Amhara about the peace process with the TPLF. Amhara were themselves victims of mass atrocities committed by the TDF, in­cluding sexual violence and looting of civil­ian infrastructure. Amharic leaders have therefore advocated for accountability of the TDF’s abuses and remain cautious about the possible involvement of the TPLF in the federal government.

Abiy will also have to perform a balancing act with regard to areas in West and South Tigray, which Amharic units occupied together with the ENDF at the beginning of the war (see map). In doing so, they dis­placed a large portion of the Tigrinya popu­lation in a campaign that a comprehensive report by Human Rights Watch and Amnes­ty International described as ethnic cleans­ing. The Amharic side points out that the TPLF had annexed the areas to the state of Tigray in the early 1990s and in turn dis­placed Amharic residents. The ceasefire agreement only stipulates that the affilia­tion of these areas is to be settled within the framework of the constitution. The Ethiopian government is likely to try to delay a final decision on the status of the disputed areas as long as possible in order to avoid having to choose between the peace partner TPLF and allies from Amhara.

Finally, the government has been trying since mid-2022 to curb the influence of irregular Amharic militias, the Fano, with whom it had cooperated during the war. They are accused of massive human rights violations. At one point numbering several tens of thousands, the Fano threaten the government’s monopoly on the use of violence. They are also active in Oromia.

Escalation in Oromia

Potentially the most explosive situation for Abiy and Ethiopia’s stability is no longer the conflict in Tigray, but conflicts in Oromia and tensions between Oromos and Amhara. The peace process with the TPLF could have both positive and negative effects on the government’s handling of these conflicts. The root cause is ultimately the same, namely the distribution of power between regions and the centre.

Although they are the largest ethnic group in the country, accounting for about one-third of the population, Oromos have never had a leading role in Ethiopia’s his­tory. Large parts of today’s Oromia state only became part of the Ethiopian empire in the second half of the 19th century.

Abiy himself comes from Oromia, where he worked in the regional government. However, many young people who were drivers of the pre-2018 reform protests see Abiy’s unitarism as a return to accommodation with Amharic-style centralism.

Operating at the end of Oromia’s nationalist spectrum is the Oromo Liberation Army (OLA), an armed group that split from the decades-old Oromo Liberation Front (OLF) in 2018. The OLF signed a peace agree­ment with Abiy’s government in 2018 that the OLA subsequently rejected. In 2021, the OLA allied itself with the TPLF. After various phases of ups and downs, violence escalated again in November 2022, with clashes be­tween the OLA and Fano militias and regu­lar ENDF units, in addition to attacks on civilian infrastructure. Oromos are con­cerned that the Fano could occupy land that they consider Amharic, just as they did in Tigray. Land conflicts between Oromos and Amhara are thus politicised by armed groups from both sides. Hundreds of thou­sands of people have already fled from Oromia to Amhara.

The violence in Oromia is different from the conflict with the TPLF, but still serious. The OLA is probably too small, fragmented and ill-equipped to conquer larger cities or even Addis Ababa, even though it sometimes fights up to 25 kilometres from the capital (see map). The larger consequence of their actions is the climate of insecurity in an economically important region of the country. The German ambassador to Ethio­pia, for example, has already expressed his concerns about attacks on investors in Oromia. Ethiopia’s main supply links with the port of Djibouti also run through Oromia.

If the conflict between armed groups of Amhara and Oromia escalates, this could have serious consequences for the unity and governability of Ethiopia. At present, this scenario still seems unlikely, not least because the political actors in both states are much more heterogeneous than in Tigray.

However, the peace process in the north could also serve as a model for Oromia. Around 80 members of parliament from Abiy’s party in Oromia have already called on him to enter into peace negotiations with the OLA. The government has so far rejected negotiations, citing the fragmented leadership structure of the OLA, which – like the TPLF – is listed as a terrorist group. More recently, however, Abiy has shown himself to be more open to negotiations.

Holding the country together

The armed conflicts are being fuelled by a polarised society and an economy in crisis. Although Abiy’s government is not cur­rent­ly in danger of being overthrown by an in­surgency or voted out in elections, it needs to consolidate its position and unite society.

Politicians and other public actors have exacerbated ethnic polarisation during the war. Prime Minister Abiy himself referred to the TPLF in July 2021 as a “weed” and a “cancer” that needed to be eradicated. While the government stressed that it dis­tinguished between the people of Tigray and the TPLF, there were dehumanising statements on social media towards the people of Tigray in general, as Alice Wairi­mu Nderitu, the UN Special Adviser on the Prevention of Genocide, warned in October 2022. From the perspective of many people in Tigray, Abiy’s government stands for genocide against Tigray.

One answer to the polarisation in society can possibly be provided by the national dialogue that the government initiated with the establishment of a commission in December 2021. For this to be effective, opposition forces – not least the TPLF and parties from Oromia – would have to par­ticipate. So far, many perceive the process as being too one-sided and dominated by the government. In addition, the government would have to stop restricting access to media. If the national dialogue became more inclusive and independent – possibly also thanks to German support for a multi-track dialogue that has been ongoing for some time – it could provide an important platform to address fundamental social and political issues.

Looking at recent Ethiopian history, con­flict researcher Semir Yusuf argues that neither protest movements nor violent resistance have led to Ethiopia’s democratic transformation. Instead, what is needed for genuine democratisation is greater indepen­dence of institutions and stronger party structures.

Last but not least, Ethiopia’s economy and public finances have suffered enor­mously. The government estimates that the financial need for reconstruction in the war-torn areas in Tigray, Afar and Amhara is around US$ 20 billion. At the same time, the national budget is running a high deficit due to elevated military spending and an economic downturn. If access to financial resources continues to tighten, it is likely to become more difficult for the government to co-opt key elites. With currency reserves lower than one month’s external payment obligations, the rating agency Fitch has already warned of an increased credit default risk for Ethiopia.

In addition to the war, the economy is still suffering from the aftermath of the Covid-19 pandemic and the increase in fertiliser and energy prices in the wake of Russia’s war of aggression against Ukraine.

The population is feeling the consequences. The annual inflation rate was 33.9 per cent in December 2022 – the third highest in Africa. Due to the armed con­flicts and a regional drought due to the failure of five rainy seasons in a row to materialise, 28.6 million people have become dependent on humanitarian aid.

The government is therefore urgently seeking a debt adjustment programme and financial support from the International Monetary Fund (IMF). The IMF had post­poned such talks due to the renewed out­break of fighting in 2022.

European support needs prudence

Baerbock and Colonna also placed their visit to Ethiopia in the current geopolitical context. Standing in front of sacks of wheat donated by Ukraine and financed by the two governments, the German Foreign Minister justified the aid with the aim of “not letting the people of Ethiopia also be­come victims of Russia’s war of aggression”.

This narrative has not caught on in Ethio­pia, whose relations with Russia and China have become even closer since the start of the Tigray war. Both partners held a protective hand over Ethiopia’s government in the UN Security Council. China is the largest source of foreign investment in Ethiopia.

Instead, Baerbock’s statement attests to the risk of ignoring the specific context of the country, Africa’s second-largest by popu­lation, in favour of a pro-government narrative by focusing on the geopolitical competition for influence. In addition to the climate change-induced drought, mil­lions of people in Ethiopia are food-in­secure because of the war at home and the previous humanitarian blockade by Abiy’s govern­ment. In February, Abiy even launched wheat exports to bring in much-needed foreign currency.

An uncritical engagement by Europe to recover ground from its geopolitical rivals Russia and China could be counterproductive. It was not least the excessive inter­national enthusiasm at the beginning of Abiy’s reform course that encouraged the prime minister to follow his uncompromising course towards the TPLF.

The Tigray war did not lead the German government to put its preferred partnership with the government of Ethiopia on ice. At the end of 2020, it suspended the pledged reform financing but maintained Ethiopia’s status as a reform partner country of Ger­man development cooperation. Chancellor Angela Merkel promoted German investment at her Africa Summit in August 2021, which Abiy also attended. It was not until January 2023 – in the course of the new Africa Strategy of the Federal Ministry for Economic Cooperation and Development (BMZ) – that Development Minister Svenja Schulze announced that the reform part­ner­ships would be phased out as an instrument.

At the end of December 2022, the EU member states spelt out their conditions for a gradual resumption of budget support, which was also suspended by the EU. These are 1) progress in implementing the cease­fire agreement, 2) unimpeded humanitar­ian access and 3) addressing the massive human rights violations. In particular, there has been progress in the first two areas, such as disarming the TDF and deliv­ering aid to large parts of Tigray. In early February 2023, Abiy met TPLF representatives in person for the first time since the war began.

The EU has not publicly clarified what exactly the condition for accountability entails. It is true that the Ethiopian govern­ment rejects the International Commission of Human Rights Experts for Ethiopia, which the UN Human Rights Council established at the end of 2021. However, the Ethiopian Human Rights Commission continues to work with the Office of the UN High Com­missioner for Human Rights on the issue of accountability. In addition, the Ethiopian Ministry of Justice published a green paper on transitional justice.

Germany and its European partners should do what they can to support the peace process, which is rightly driven pri­marily by the Ethiopian parties to the con­flict. Concrete projects for stabilisation and peacebuilding are important for this. How­ever, Germany should also work to ensure that the media, civil society and academia in Ethiopia are given greater freedom. Tran­sitional justice and reconciliation should remain on the agenda without prescribing specific mechanisms. In any case, the Ger­man government should also continue its support for the Ethiopian Human Rights Commission and the Election Commission.

In the course of their gradual normalisation of relations with Ethiopia, Germany and its European partners should pay closer attention to the root causes of the violence, not only in Tigray but also in Oromia and Amhara. For this, they do not need to change the conditions they have already set, but they need to focus more on trans­parency, population orientation, broad inclusivity and government accountability. This is especially true for reconstruction aid and for the modalities of a new IMF pro­gramme and debt reduction under the G20 Common Framework. A new government palace and housing complex in Addis Ababa, whose total cost is almost equal to the entire national budget, albeit financed from private and Arab sources, sends the wrong signal here.

If Ethiopia wants to achieve sustainable peace and stability, it needs a more inclu­sive political system. The peace process with the TPLF and its critical-constructive support from international partners can be the starting point for corresponding long-term progress.

Äthiopiens Chance auf Frieden sichern

Das Ende des Krieges im Norden sollte der Auftakt für grundlegende Reformen der Regierungsführung sein

SWP-Aktuell 14/2023, erschienen am 1.März 2023

Das Abkommen, das die Tigray People’s Liberation Front (TPLF) und die äthiopische Regierung am 2. November 2022 unterschrieben haben, bietet eine reale Chance, einen der blutigsten Kriege weltweit zu beenden. Die Umsetzung der Vereinbarung verläuft bisher gut. Durch den Friedensprozess ist jedoch die Frage nach einer stabi­len Machtverteilung innerhalb Äthiopiens und am Horn von Afrika ins Blickfeld gerückt. Die Regierung unter Premierminister Abiy Ahmed steht vor drei zentralen Herausforderungen. Erstens muss sie die TPLF integrieren und sich gleichzeitig aus der Partnerschaft mit Eritrea lösen. Zweitens muss sie das innenpolitische Verhältnis der wichtigsten politischen Akteure neu austarieren, um eskalierende Gewalt in den Bundesstaaten Amhara und Oromia zu stoppen. Schließlich muss sie die durch den Krieg gespaltene und verarmte Gesellschaft wieder zusammenbringen. Internationale Partner sollten Äthiopien mit konditionierten Finanzhilfen und Projekten zur Frie­densförderung bei der Bewältigung dieser Herausforderungen unterstützen.

Im Januar besuchten Bundesaußenminis­terin Annalena Baerbock und ihre französische Amtskollegin Catherine Colonna zu­sammen Addis Abeba. Ihre Botschaft: Euro­päische Partner sind bereit, ihre Zusammen­arbeit mit der äthiopischen Regierung wie­der zu intensivieren, wenn der Friedens­prozess in Tigray glaubwürdig gestaltet wird und es vor allem Schritte zur Aufarbeitung massiver Menschenrechts­verletzungen gibt.

Äthiopiens Bürgerkrieg ist Ausdruck eines Machtkampfs innerhalb der regierenden Elite des Landes. Premierminister Abiy hatte sich 2018 in einer internen Abstimmung in der Mehrparteienkoalition Ethio­pian People’s Revolutionary Democratic Front (EPRDF) überraschend gegen den Kan­didaten der TPLF durchgesetzt. Als Abiy 2019 aus der alten Koalition die neue Pros­perity Party (PP) formte, blieb die TPLF, die seit 27 Jahren die Koalitionsregierung be­herrscht hatte, außen vor. Die TPLF zog sich nach Tigray zurück, während Abiy ihren Einfluss innerhalb des Regierungs- und Sicherheitsapparats zurückdrängte und eine politische und wirtschaftliche Reform­agenda vorantrieb.

Der zentralistische Kurs von Abiys Regierung stand jedoch den Forderungen nach größerer ethnischer Selbst- und Mitbestimmung von Bevölkerungsgruppen aus dem ganzen Land entgegen, die nach der Zurück­setzung der TPLF ihre Zeit gekommen sahen. Der Machtwechsel 2018 war zustande ge­kommen, nachdem in den Bundesstaaten Amhara und Oromia jahrelang gegen die Dominanz Tigrays protestiert worden war. Am stärksten verschärften sich jedoch die Differenzen zwischen der Regierung und der TPLF: Anfang November 2020 eskalierten sie in einem bewaffneten Konflikt.

Der Krieg war nicht auf Tigray beschränkt; daher kann es auch der Friedensprozess nicht sein. In Äthiopiens bevölkerungsreichsten Regionen Oromia und Amhara haben ethnonationalistische Kräfte in den letzten Jahren an Zulauf gewonnen, die teilweise gegen den Staat und auch gegeneinander kämpfen.

Abiys Machtbasis zerbröckelt als Folge dieser Verwerfungen, ohne dass sich ein alternatives Machtzentrum gebildet hätte. Auf dem Spiel steht dabei die Stabilität und letztendlich sogar die Einheit des äthiopischen Staates. Aus einer optimistischen Sicht bietet der Friedensprozess aber auch eine Gelegenheit, mehr Bevölkerungsgruppen einzubinden, die Zivilgesellschaft zu stärken und die Machtverteilung zwischen dem Zentrum und ethnisch definierten Bundesstaaten, die Äthiopien seit Jahr­zehnten beschäftigt, neu auszuhandeln.

Der Frieden dient dem Macherhalt

Die »Vereinbarung über einen dauerhaften Frieden durch einen permanenten Waffen­stillstand«, welche die TPLF und die äthio­pische Regierung auf Vermittlung der Afri­kanischen Union (AU) im südafrikanischen Pretoria unterzeichneten, kam durchaus überraschend. Eine etwa fünfmonatige Feuerpause in der ersten Jahreshälfte 2022 hatte keine Verhandlungsfortschritte ge­bracht. Die seit Ende August wieder auf­geflammten Kämpfe waren von einer be­sonderen Härte und einem massiven Trup­peneinsatz gekennzeichnet. Berichte spre­chen von bis zu einer Million Kämpfern auf allen Seiten. In einer gemeinsamen Offen­sive eroberten eritreische Truppen und die Ethiopian National Defense Forces (ENDF) strategisch wichtige Städte in Tigray und standen kurz vor der Regionalhauptstadt Mekele. Die AU war aus Sicht der TPLF kein rundum glaubwürdiger Vermittler und ver­zögerte den Beginn von Friedensgesprächen.

Angesichts der militärischen Lage ist vor allem das Rational der äthiopischen Regie­rung erklärungsbedürftig. Ihr Gegner, die Tigray Defense Forces (TDF), hatte zwar bereits 2021 in Guerilla-Aktionen die äthio­pischen Streitkräfte aus Tigray vertrieben und war danach nach Amhara und Afar vorgerückt. Allerdings gelang es den TDF damals nicht, Addis Abeba oder die Ver­sorgungswege zwischen dem wirtschaft­lichen Zentrum des Landes und dem Hafen in Dschibuti zu erreichen. Im Herbst 2022 gingen ihnen überdies Nachschub und Munition aus.

Für beide Seiten war der Krieg mit enormen Kosten verbunden. Schätzungen gehen von 518.000 zivilen Todesopfern allein in Tigray bis Ende 2022 aus. Hinzuzuzählen sind zivile Opfer in Afar und Amhara sowie vermutlich Hunderttausende gefallene Kämpfer. Dies entspricht auch den Größen­ordnungen, die hochrangige Vertreter der EU, der USA und der AU nennen. Somit könnte rund ein Zehntel der Vorkriegs­bevölkerung Tigrays im Krieg ihr Leben ver­loren haben, vor allem wegen mangelnder medizinischer Versorgung und Unter­ernäh­rung. Die Regierung blockierte monatelang den Zugang für humanitäre Organisationen und schnitt die Bevölkerung Tigrays von Elektrizität, Telekommunikation und Bank­dienstleistungen ab.

Abiy stimmte dem Abkommen wahrscheinlich vor allem deshalb zu, weil es da­zu beiträgt, seine eigene Macht zu sichern. Eine vollständige militärische Eroberung Tigrays hätte vermutlich bedeutet, dass die Regierung ihre militärischen Kräfte auf Dauer in Tigray hätte konzentrieren müssen, um mögliche Guerilla-Aktionen zu unter­binden. Die hohen Militärausgaben belaste­ten ohnehin den Staatshaushalt Äthiopiens. Für Abiy wäre es schwieriger geworden, öffentliche Investitionen zu finanzieren, die das Wirtschaftswachstum der letzten Dekade in erster Linie angetrieben haben und Gelegenheit für Patronage boten.

Eine permanente Truppenkonzentration in Tigray hätte die Regierung auch daran gehindert, mehr Militär in die anderen Kon­fliktgebiete des Landes zu verlegen. Außer­dem hätte dieses Szenario Abiys Abhängig­keit von Eritrea weiter verstärkt, das einen erheblichen Teil seiner Streitkräfte gegen die TDF eingesetzt hat.

Schließlich hätte ein militärisches Ende des Krieges die Regierung weiterem inter­nationalen Druck ausgesetzt. Hatte sie zu Beginn des Krieges noch Unterstützung für ihren Kurs von Seiten der Trump-Adminis­tration und des Vorsitzenden der AU-Kom­mission Moussa Faki Mahamat, so änderte sich das später. Die USA setzten zum 1. Januar 2022 Handelsprivilegien unter dem African Growth and Opportunity Act (AGOA) aus, was insbesondere den äthio­pischen Textilsektor empfindlich traf. Im US-Kongress verstärkte sich die Forderung nach weiteren Sanktionen. In der Region setzte sich Kenia für eine friedliche Lösung des Krieges ein. Nachdem der AU-Sonder­gesandte Olusegun Obasanjo keine Fort­schritte erzielt hatte, erweiterte die AU das Mediationspanel um Uhuru Kenyatta, Kenias Ex-Präsidenten, und Phumzile Mlambo-Ngcuka, eine frühere Vizepräsidentin Südafrikas.

Das Abkommen wirkt – bislang

Der Kern des Abkommens besteht aus einem Deal: die TPLF verpflichtete sich zur kom­pletten Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration der TDF ins zivile Leben bzw. in reguläre Sicherheitskräfte Tigrays und zur friedlichen Übergabe der Kontrolle an die Polizei und Streitkräfte der Zentralregie­rung. Im Gegenzug soll die TPLF von der äthiopischen Terrorliste gestrichen werden, die Versorgung der Bevölkerung in Tigray wiederhergestellt werden und sollen nicht-föderale Truppen abziehen.

Das wichtigste Ziel des Abkommens wurde sehr schnell erreicht: ein Ende der Kampf­handlungen zwischen den TDF und den ENDF. Beide Streitkräfte zogen sich von den Frontlinien zurück. Für die meisten Menschen im Norden Äthiopiens verbesserte sich die Situation. 90 Prozent der Bevöl­kerung Tigrays sind auf Unterstützung bei der Nahrungsmittel­versorgung angewiesen. Ein Großteil von ihnen hat jetzt wieder Zu­gang zu Hilfslieferungen. Viele Städte wur­den im Dezember wieder an das Elektrizi­tätsnetz angeschlossen. Banken öffneten wieder, Telekommunikations- und Internet­verbindungen wurden wiederhergestellt. Ethiopian Airlines nahm wieder Direktflüge zwischen Mekele und Addis Abeba auf. Doch die Qualität der Infrastruktur ist oft noch schwach, und einige Gebiete sind weiterhin kaum für humanitäre Organisationen zugänglich, insbesondere solche ab­seits großer Straßen und an der Grenze zu Eritrea. 2,3 Millionen Kinder gehen allein in Tigray nicht zur Schule, mehr als die Hälfte davon seit mehr als zwei Jahren. Der Wiederaufbau wird noch lange dauern.

Enge Partnerschaft mit Eritrea

Ein Knackpunkt des Friedensprozesses bleibt der Umgang mit jenen bewaffneten Akteuren, die bei den Friedensverhandlungen nicht dabei waren, primär Eritrea und Gruppen aus Amhara.

Für Abiy war Eritreas Präsident Isaias Afwerki ein wichtiger Verbündeter in sei­nem Machtkampf gegen die TPLF. Isaias hegt seit dem Grenzkrieg um den Ort Badme im Norden Tigrays (1998–2000) eine tiefe Feindschaft gegenüber der TPLF. Obwohl die äthiopische Regierung das Territorium, das von einer internationalen Grenzkommis­sion Eritrea zugesprochen wurde, nach dem Krieg besetzt hielt, wurde Eritrea inter­national zunehmend isoliert. Als bekannt wurde, dass die Regierung in Asmara die somalische Al‑Shabaab unterstützte, ver­hängte der UN-Sicherheitsrat auf Betreiben Äthiopiens 2009 Sanktionen und ein Waf­fen­embargo gegen Eritrea. Die mutmaß­liche Bedrohung durch die TPLF, Äthiopiens damalige Regierungspartei, diente Isaias zur Begründung für die Einführung eines unbefristeten Wehr- und Arbeitsdiensts, zu dem eritreische Männer und Frauen gleichermaßen herangezogen werden.

Das Abkommen zwischen Eritrea und Äthiopien vom Juli 2018, das Abiy ein Jahr später den Friedensnobelpreis eintrug, hatte in der Grenzregion zwar wenig nachhaltige Fortschritte gebracht. Gleichwohl stärkte es die Sicherheits- und Geheimdienstkooperation beider Regierungen und führte zur Auf­hebung der UN-Sanktionen. Als sich das Ver­hältnis zwischen TPLF und Abiy verschlech­terte, wurde aus dem Friedensabkommen ein Kriegspakt. Monate vor Kriegsbeginn verlegte Abiy Militär nach Tigray. Eritrea organi­sierte ein Training für 60.000 Truppen des Bundesstaats Amhara (gemäß der födera­listischen Verfassung haben äthiopische Bundesstaaten eigene Sicherheitskräfte).

Isaias sieht den Friedensprozess zwischen der TPLF und der äthiopischen Regierung dementsprechend mit großer Skepsis. Auch wenn im Januar eritreische Truppen­bewegungen aus einigen Städten Tigrays als Rückzug vermeldet wurden, sind eritreische Militäreinheiten wohl weiterhin in einigen Gebieten Tigrays präsent, zusätzlich zu Spezialkräften anderer äthiopischer Bundes­staaten, vor allem aus Amhara. Die eritrei­schen und amharischen Truppen werden für Angriffe auf die Zivilbevölkerung verant­wortlich gemacht, die auch sexuelle Gewalt, Entführungen und Plünderungen einschlie­ßen. Dabei soll es allein zwischen Anfang Novem­ber und Ende Dezember 2022 meh­rere Tausend Todesopfer gegeben haben.

Dabei hatten sich die Oberkommandierenden der beiden Konfliktparteien in Nairobi geeinigt, dass alle Nicht-ENDF-Trup­pen gleichzeitig mit der Entwaffnung der TDF abziehen sollten. Zur Überwachung der Einhaltung des Abkommens setzte die AU einen Monitoring- und Verifikationsmecha­nismus unter Führung von Generalmajor Stephan Radina aus Kenia ein. Dieser nahm Ende Dezember seine Arbeit auf und be­stätigte am 10. Januar 2023, dass die TDF einen Groß­teil ihrer schweren Waffen an die ENDF abgegeben hatte, darunter Panzer und Artillerie. Einen Abzug der Nicht-ENDF-Truppen aus Tigray vermeldete das AU-Team bisher indes nicht.

Innenpolitische Spannungen

Das Waffenstillstandsabkommen bietet Anhaltspunkte für den weiteren Friedensprozess, es enthält aber keine umfassende Rege­lung längerfristiger Konflikte. Abiys Herausforderung ist es, im Rahmen des Frie­densprozesses Zugeständnisse an die TPLF zu machen, ohne dabei seine sonstigen innen­politischen Allianzen zu sehr zu belasten.

Zuerst ist da die zukünftige Rolle der TPLF in der äthiopischen Politik. Das Ab­kommen sieht vor, dass nach der Entlistung der TPLF als Terrororganisation eine inklu­sive Interimsverwaltung für Tigray gebildet werden soll. Es gilt als wahrscheinlich, dass die TPLF bei den noch nicht terminierten Wahlen für das Regionalparlament und für die Repräsentation Tigrays im äthiopischen Parlament eine breite Mehrheit erreichen wird. Die Frage ist, ob sich die TPLF in Abiys Regierung einbinden lassen, auf eine Oppo­sitionsrolle zurückziehen wird oder dauer­haft auf eine reine Regionalpartei reduzieren lassen will. Denn gleichzeitig muss sich die TPLF auch um einen offeneren und in­klusiven Regierungsstil in Tigray selbst be­mühen, den dortige Oppositionsparteien bereits einfordern.

Skepsis gegenüber dem Friedensprozess mit der TPLF begegnet Abiy aus Amhara. Amharen waren selbst Opfer von Massenverbrechen der TDF, bei denen es auch zu sexueller Gewalt und Plünderungen ziviler Infrastruktur gekommen ist. Amharische Führer haben sich daher für eine Aufarbeitung der Übergriffe der TDF eingesetzt und werden einer möglichen Einbindung der TPLF reserviert gegenüberstehen.

Einen Balanceakt wird Abiy darüber hin­aus im Hinblick auf Gebiete in West- und Süd-Tigray vollführen müssen, die amhari­sche Einheiten zusammen mit den ENDF zu Anfang des Krieges besetzten (siehe Karte). Dabei vertrieben sie einen Großteil der tigrinischen Bevölkerung im Zuge einer Kampagne, die ein umfassender Bericht von Human Rights Watch und Amnesty Inter­national als ethnische Säuberung bezeichnete. Die amharische Seite verweist darauf, dass die TPLF die Gebiete Anfang der 1990er Jahre dem Bundesstaat Tigray zugeschlagen und ihrerseits amharische Bewohner ver­trieben hatte. Das Waffenstillstandsabkom­men sieht lediglich vor, dass die Zugehörigkeit dieser Gebiete im Rahmen der Verfas­sung geregelt werden soll. Die äthiopische Regierung dürfte be­strebt sein, einen end­gültigen Beschluss über den Status der umstrittenen Gebiete so lange wie möglich hinauszuzögern, um sich nicht zwischen dem Friedenspartner TPLF und Verbündeten aus Amhara entscheiden zu müssen.

Schließlich versucht die Regierung be­reits seit Mitte 2022, den Einfluss irregu­lärer amharischer Milizen, der Fano, ein­zudämmen, mit denen sie während des Krieges zusammengearbeitet hatte. Diesen werden massive Menschenrechtsverletzungen zur Last gelegt. Mit einer Größe von zwischenzeitlich mehreren Zehntausend gefährden die Fano das Gewaltmonopol der Regierung. Sie sind auch in Oromia aktiv.

Eskalation in Oromia

Potentiell die größte Sprengkraft für Abiy und die Stabilität Äthiopiens haben mittler­weile nicht mehr der Konflikt in Tigray, sondern Konflikte in Oromia und Spannungen zwischen Oromos und Amharen. Der Friedensprozess mit der TPLF könnte dabei sowohl positive als auch negative Wirkungen auf den Umgang der Regierung mit die­sen Konflikten haben. Die Wurzel ist letzt­lich die gleiche, nämlich die Machtverteilung zwischen Regionen und Zentrum.

Obwohl sie mit rund einem Drittel der Bevöl­kerung die größte ethnische Gruppe des Landes sind, hatten Oromos in Äthio­piens Geschichte nie eine Führungsrolle. Weite Teile des heutigen Bundesstaats Oromia wurden erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Teil des äthiopischen Reiches.

Abiy stammt selbst aus Oromia, wo er in der Regionalregierung tätig war. Viele junge Menschen, die Treiber der Reformproteste vor 2018 waren, sehen in Abiys Unitarismus jedoch eine Rückkehr zur Anpassung an einen amharisch geprägten Zentralismus.

Am Ende des nationalistischen Spektrums operiert die Oromo Liberation Army (OLA), eine bewaffnete Gruppe, die sich 2018 von der jahrzehntealten Oromo Liberation Front (OLF) abspaltete. Die OLF unterzeichnete 2018 ein Friedensabkommen mit Abiys Regierung, was die OLA ablehnte. 2021 ver­bündete sich die OLA mit der TPLF. Nach verschiedenen Phasen des Aufs und Abs eskalierte die Gewalt wieder ab November 2022. Neben Angriffen auf zivile Infrastruktur kommt es dabei zu Zusammenstößen der OLA mit Fano-Milizen und regulären ENDF-Einheiten. Oromos sind besorgt, die Fano könnten ebenso wie in Tigray Land besetzen, das diese als amharisch betrachten. Landkonflikte zwischen Oromos und Amharas werden so von bewaffneten Gruppen beider Seiten politisiert. Hunder­tausende Menschen flohen bereits aus Oromia nach Amhara.

Die Gewalt in Oromia ist anders gelagert als der Konflikt mit der TPLF, aber dennoch ernst zu nehmen. Die OLA ist vermutlich zu klein, fragmentiert und schlecht ausgerüstet, um größere Städte oder gar Addis Abeba zu erobern, auch wenn sie teilweise bis zu 25 Kilometer nahe der Hauptstadt kämpft (siehe Karte). Die größere Folge ihres Agie­rens ist das Klima der Unsicherheit in einer wirtschaftlich wichtigen Region des Landes. So sprach der deutsche Botschafter in Äthio­pien bereits besorgt über Angriffe auf In­ves­toren in Oromia. Äthiopiens Hauptversor­gungsverbindungen mit dem Hafen von Dschibuti laufen ebenfalls durch Oromia.

Eskaliert der Konflikt zwischen bewaffne­ten Kräften Amharas und Oromias, könnte das ernste Konsequenzen für die Einheit und Regierbarkeit des Staates Äthiopien haben. Derzeit scheint dieses Szenario noch un­wahr­scheinlich zu sein, nicht zuletzt weil die politischen Akteure in beiden Bundesstaaten deutlich heterogener sind als in Tigray.

Der Friedensprozess im Norden könnte jedoch auch eine Vorbildfunktion für Oromia haben. Rund 80 Abgeordnete von Abiys Partei aus Oromia forderten ihn be­reits auf, in Friedensverhandlungen mit der OLA einzutreten. Die Regierung hat Ver­handlungen bisher mit Verweis auf die fragmentierte Führungsstruktur der OLA abgelehnt, die wie die TPLF als Terrorgruppe gelistet ist. In jüngerer Zeit zeigte sich Abiy jedoch offener für Verhandlungen.

Das Land zusammenhalten

Die bewaffneten Konflikte werden an­geheizt von einer polarisierten Gesellschaft und einer Wirtschaft in der Krise. Auch wenn Abiys Regierung derzeit nicht Gefahr läuft, durch Aufstände oder Wahlen gestürzt zu werden, muss sie ihre Position konsolidieren und die Gesellschaft einen.

Politiker und andere Akteure des öffentlichen Lebens haben die ethnische Polari­sierung während des Krieges verschärft. Premier­minister Abiy selbst bezeichnete die TPLF im Juli 2021 als »Unkraut« und »Krebs«, den es auszumerzen gelte. Während die Regierung betonte, dass sie zwischen der Bevölkerung Tigrays und der Partei TPLF unterscheide, gab es in den sozialen Medien dehumanisierende Statements gegenüber der Bevölkerung Tigrays generell, wie Alice Wairimu Nderitu, die UN-Sonderberaterin für die Prävention von Völkermord, im Oktober 2022 warnte. Aus Sicht vieler Men­schen in Tigray steht Abiys Regierung für einen Völkermord an ihrer Bevölkerung.

Eine Antwort auf die Polarisierung in der Gesellschaft kann möglicherweise der nationale Dialog liefern, den die Regierung mit der Einrichtung einer Kommission im Dezember 2021 angestoßen hat. Damit dieser Wirkung entfalten kann, müssten Oppositionskräfte, nicht zuletzt die TPLF und Parteien aus Oromia, daran mitwirken. Bisher nehmen viele den Prozess als zu ein­seitig von der Regierung dominiert wahr. Außerdem müsste die Regierung aufhören, den Zugang zu Medien einzuschränken. Wenn der nationale Dialog inklusiver und unabhängiger würde, eventuell auch dank der seit einiger Zeit laufenden deutschen Unterstützung für einen Multi-Track-Dia­log, könnte er eine wichtige Plattform bie­ten, um grundlegende gesellschaftliche und politische Fragen zu klären.

Mit Blick auf die jüngere äthiopische Ge­schichte argumentiert der Konfliktforscher Semir Yusuf, dass weder Protestbewegungen noch gewaltsamer Widerstand zur demokratischen Transformation Äthiopiens geführt haben. Für eine echte Demokratisierung brauche es vielmehr eine größere Unabhängigkeit der Institutionen und stär­kere Parteienstrukturen.

Nicht zuletzt haben auch die Wirtschaft und die Staatsfinanzen Äthiopiens enorm gelitten. Die Regierung schätzt den Bedarf für den Wiederaufbau in den kriegszerstörten Gebieten in Tigray, Afar und Amhara auf 20 Milliarden US-Dollar. Gleichzeitig verzeichnet der Staatshaushalt wegen der hohen Militärausgaben und des wirtschaftlichen Rückgangs ein hohes Defizit. Sollte sich der Zugang zu finanziellen Ressourcen weiter verengen, dürfte es für die Regierung schwieriger werden, wichtige Eliten ein­zubinden. Angesichts von Währungs­reserven, die geringer sind als die in einem Monat anfallenden Zahlungsverpflichtungen gegenüber dem Ausland, warnte die Rating­agentur Fitch bereits vor einem erhöhten Kreditausfallrisiko Äthiopiens.

Neben dem Krieg leidet die Wirtschaft auch noch unter den Nachwirkungen der Covid-19-Pandemie und der Preissteigerung bei Düngemitteln und Energie in der Folge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine.

Die Bevölkerung spürt die Konsequen­zen. Die jährliche Inflationsrate lag im Dezember 2022 bei 33,9 Prozent, der dritthöchste Wert in Afrika. Wegen der bewaffneten Auseinandersetzungen und einer weiteren regionalen Dürre nach der fünften aus­gebliebenen Regen­zeit in Serie sind 28,6 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Die Regierung sucht daher dringend nach einem Schuldenanpassungsprogramm und finanzieller Unterstützung des Inter­nationalen Währungsfonds (IWF). Dieser hatte entsprechende Gespräche wegen des Wiederausbruchs der Kämpfe 2022 aller­dings aufgeschoben.

Europäische Unterstützung braucht Umsicht

Ihren Besuch in Äthiopien stellten Baer­bock und Colonna auch in den aktuellen geopolitischen Kontext. Vor Weizensäcken stehend, die die Ukraine gespendet hatte und deren Transport die beiden Regierungen finanziert hatten, begründete die deut­sche Außenministerin die Hilfe mit dem Ziel, »die Menschen in Äthiopien nicht auch noch zum Opfer des russischen Angriffskrieges werden« zu lassen.

Dieses Narrativ verfängt in Äthiopien nicht, dessen Beziehungen zu Russland und China seit dem Tigray-Krieg noch intensiver geworden sind. Beide Partner hielten ihre schützende Hand über Äthiopiens Regierung im UN-Sicherheitsrat. China ist die größte Quelle ausländischer Investitionen in Äthiopien.

Vielmehr bezeugt Baerbocks Aussage das Risiko, durch eine Fokussierung auf den geopolitischen Wettbewerb um Einfluss in dem nach Bevölkerung zweitgrößten Land Afrikas den spezifischen Kontext zugunsten eines regierungsfreundlichen Narrativs aus­zublenden. Neben der klimawandelbedingten Dürre sind in Äthiopien Millionen Men­schen wegen des Krieges im eigenen Land und der vorherigen huma­nitären Blockade von Abiys Regierung von Nahrungsmittel­unsicherheit betroffen. Im Februar startete Abiy sogar Weizenexporte, die dringend benötigte Devisen einbringen sollen.

Ein unkritisches Engagement Europas, um Boden gegenüber den geopolitischen Konkurrenten Russland und China gut­zumachen, könnte allerdings kontra­produktiv wirken. Es war nicht zuletzt der übermäßige internationale Enthusiasmus zu Beginn von Abiys Reformkurs, der den Premier­minister in seinem kompromiss­losen Kurs gegenüber der TPLF bestärkte.

Der Tigray-Krieg hat die Bundesregierung nicht dazu veranlasst, ihre bevorzugte Part­nerschaft mit der Regierung Äthiopiens auf Eis zu legen. Ende 2020 setzte sie eine schon zugesagte Reformfinanzierung zwar aus, behielt den Status Äthiopiens als Reformpartnerland der deutschen Entwicklungs­zusammenarbeit jedoch bei. Bundeskanzlerin Merkel warb bei ihrem Afrikagipfel im August 2021, an dem auch Abiy teilnahm, für deutsche Investitionen. Erst im Januar 2023 kündigte Entwicklungsministerin Svenja Schulze im Zuge der neuen Afrika-Strategie des BMZ an, die Reformpartnerschaften als Instrument auslaufen zu lassen.

Die Mitgliedstaaten der EU haben Ende Dezember 2022 ihre Bedingungen für eine graduelle Wiederaufnahme der auch von der EU ausgesetzten Budgethilfe ausbuchstabiert. Diese sind 1) Fortschritte bei der Umsetzung des Waffenstillstandsabkommens, 2) ungehinderter Zugang für huma­nitäre Hilfe und 3) Aufarbeitung der mas­siven Menschenrechtsverletzungen. Ins­besondere in den ersten beiden Bereichen gibt es Fortschritte wie die Entwaffnung der TDF und Hilfslieferungen in weite Teile Tigrays. Anfang Februar 2023 traf Abiy TPLF-Vertreter das erste Mal seit Beginn des Krieges persönlich.

Was genau die Bedingung für die Auf­arbeitung beinhaltet, ist unbestimmt. Zwar lehnt die äthiopische Regierung die Inter­nationale Menschenrechtsexperten-Kommis­sion für Äthiopien ab, die der UN-Menschen­rechtsrat Ende 2021 eingesetzt hat. Doch die äthiopische Menschenrechtskommission arbeitet auch in der Frage der Aufarbeitung weiterhin mit dem Büro des UN-Hoch­kommissars für Menschenrechte (OHCHR) zu­sammen. Zudem veröffentlichte das äthiopische Justizministerium einen Ent­wurf für Leitlinien einer Übergangsjustiz.

Deutschland und seine europäischen Partner sollten den Friedensprozess, der richtigerweise vornehmlich von den äthio­pischen Konfliktparteien getragen und vorangetrieben wird, nach Kräften unter­stützen. Konkrete Projekte für Stabilisierung und Friedens­förderung sind dafür wichtig. Deutschland sollte aber auch darauf hin­wirken, dass Medien, Zivilgesellschaft und Wissenschaft in Äthiopien größere Frei­heiten erhalten. Aufarbeitung und Versöh­nung sollten auf der Agenda bleiben, ohne bestimmte Mechanismen vorzugeben. In jedem Fall sollte die Bundesregierung auch ihre Unterstützung der äthiopischen Men­schenrechtskommis­sion und der Wahlkommission fortsetzen.

Im Zuge der anstehenden Vertiefung der Beziehungen zu Äthiopien sollten Deutschland und seine europäischen Part­ner genauer die tieferen Probleme beachten, die ursächlich für Gewalt nicht nur in Tigray, sondern auch in Oromia und Amhara sind. Dafür müssen sie ihre bereits gesetzten Bedingungen nicht ändern, aber stärker auf Transparenz, Bevölkerungsorientierung, breite Inklusion und Rechenschaft der Regie­rung setzen. Dies gilt insbesondere für Wie­deraufbauhilfen und für die Modalitäten eines neuen IWF-Programms und des Schul­denabbaus im Rahmen der G20. Ein neuer Regierungspalast und Wohnkomplex in Addis Abeba, dessen Gesamtkosten fast dem gesamten Staatshaushalt entsprechen, wenn auch aus privaten und arabischen Quellen finanziert, setzt hier ein falsches Signal.

Wenn Äthiopien nachhaltigen Frieden und Stabilität erreichen will, braucht es ein inklusiveres politisches System. Der Frie­dens­prozess mit der TPLF und dessen kri­tisch-konstruktive Unter­stützung durch internationale Partner können der Aus­gangspunkt für eine entsprechende lang­fristige Entwicklung sein.

Dr. Gerrit Kurtz ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2023

Äthiopien: Kein Friedensprozess zu Lasten Dritter

Seit mehr als anderthalb Jahren herrscht ein Bürgerkrieg in Äthiopien. Nun bereiten sich die Regierung und Rebellen auf Friedensverhandlungen vor. Für eine nachhaltige Lösung sollten sie wichtige Drittakteure einbinden, meint Gerrit Kurtz.

SWP Kurz gesagt, 20.Juli 2022

In dem seit November 2020 andauernden Konflikt zwischen der äthiopischen Regierung und der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) sind Friedensverhandlungen in Reichweite. Nachdem die Regierung in Addis Abeba Ende Juni ein siebenköpfiges Verhandlungsteam unter der Führung des stellvertretenden Ministerpräsidenten Demeke Mekonnen ernannte, meldet die TPLF nun, dass auch sie ein Verhandlungsteam ernennen werde. Seit März besteht eine humanitäre Feuerpause im Norden Äthiopiens. So konnten UN-Hilfsorganisationen – nach monatelanger Blockade – wieder Hilfsgüter nach Tigray und die angrenzenden Regionen bringen. 13 Millionen Menschen bleiben jedoch allein im Norden des Landes auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen.

Chancen und Risiken von Friedensverhandlungen

Sowohl die TPLF als auch die äthiopische Regierung haben nach mehreren Offensiven erkannt, dass sie ohne größere Verluste keine militärischen Gewinne erwarten können. Für die Regierung sind die Kosten des Kriegs enorm und gefährden Ministerpräsident Abiy Ahmeds wirtschaftliche Reformagenda. Die TPLF steht unter Druck vonseiten der Bevölkerung in Tigray, die humanitäre Situation in dem Bundesstaat zu verbessern. Der Zugang zu Banken sowie dem Strom- und Telekommunikationsnetz bleibt ausgesetzt – und es fehlt an Treibstoff. Laut International Crisis Group sind dem Konflikt mindestens Zehntausende Menschen zum Opfer gefallen, manche Schätzungen gehen sogar von Hundertausenden Opfern durch Hunger und Krankheiten aus. Menschenrechtsorganisationen werfen beiden Seiten und ihren Verbündeten Kriegsverbrechen in Form von Massakern, sexueller Gewalt und Plünderungen vor.

Ein schlechtes Friedensabkommen könnte für weitere Instabilität sorgen – ähnlich wie der Friedensschluss zwischen Äthiopien und Eritrea 2018, der sich zwei Jahre später als Kriegspakt gegen die TPLF herausstellte. Die damalige TPLF-dominierte Regierung hatte 1998-2000 Krieg gegen Eritrea geführt. Eritreische Truppen unterstützten das äthiopische Militär im Kampf gegen die TPLF und verübten einige der schlimmsten Menschenrechtsverletzungen des Kriegs. Abiy nutzte das gewaltige internationale Kapital, das der Friedensnobelpreisträger aus dem Friedensschluss und seinen innenpolitischen Reformen schlug, für einen kompromisslosen Kurs gegenüber der früheren Regierungspartei TPLF. Die Unterstützung insbesondere der USA für Abiys Kurs ging  so weit, dass sie die äthiopische Offensive gegen die TPLF in der Erwartung eines kurzen Entscheidungskriegs anfangs befürwortete.

So könnten sich auch die möglichen Friedensgespräche zwischen der TPLF und äthiopischen Regierung negativ auf die jeweiligen Verbündeten der beiden Konfliktparteien auswirken. Ein Knackpunkt ist der zukünftige Status West-Tigrays, ein Gebiet, das amharische Milizen am Anfang des Kriegs besetzten und aus dem sie Menschen tigrayischer Abstammung vertrieben haben. Für die TPLF ist die Rückkehr des Gebiets unter ihre Kontrolle ein wichtiges Ziel. Abiy könnte gezwungen sein, Kompromisse zu Lasten der Interessen seiner amharischen Verbündeten zu machen. Schließlich könnte ein bilaterales Abkommen zwischen TPLF und äthiopischer Regierung die Interessen weiterer ethnischer Gruppen berühren. In den vergangenen Monaten gab es die meisten Kämpfe im Bundesstaat Oromia, in dem die Rebellengruppe Oromo-Befreiungsarmee (OLA) für mehr Mitbestimmung der Oromo kämpft, der größten Bevölkerungsgruppe des Landes, aus der auch Abiy stammt. Die OLA ist mit der TPLF verbündet. Eine Stabilisierung im Norden könnte den äthiopischen Streitkräften erlauben, ihre Kräfte weiter auf den Kampf gegen die OLA zu konzentrieren. Verhandlungsgewinne der TPLF könnte die OLA gleichzeitig in ihrem bewaffneten Kampf ermutigen. Auch in anderen Teilen Äthiopiens gibt es immer wieder Massaker und gewaltsame Zusammenstöße, in denen Gewaltunternehmer die ethnische Zugehörigkeit von lokalen Bevölkerungsgruppen instrumentalisieren.

Inklusivität fördern, Gefahren eindämmen

Internationale und regionale Akteure sollten die Konfliktparteien darin unterstützen, einen nachhaltigen und inklusiven Verhandlungsprozess aufzusetzen. Noch konnten sich TPLF und Addis Abeba nicht auf einen Mediator oder einen Verhandlungsort einigen. Während die Regierung die Afrikanische Union favorisiert, zieht die TPLF Kenia vor.

Ein Schlüssel zum Erfolg der Friedensverhandlungen wäre ein schrittweises Vorgehen. Sicherheits- und Versorgungsfragen sollten ganz oben auf der Agenda stehen. Verfassungsfragen wie der zukünftige Status von Tigray, wo die TPLF ein Unabhängigkeitsreferendum abhalten möchte, sollten in einem größeren Kontext wie dem bereits von der Regierung ausgerufenen nationalen Dialog geklärt werden. Hier könnte sie auch die OLA sowie oppositionelle Parteien aus Tigray involvieren, um so auch die Akzeptanz zu erhöhen. Die Friedensverhandlungen und den nationalen Dialog zu verbinden, könnte den Frieden auf eine breitere Grundlage stellen und helfen, insbesondere Frauen und junge Menschen besser einzubinden.

Eritreas Präsident Isaias Afwerki, Abyis regionaler Verbündeter, lehnt einen Friedensschluss mit der TPLF jedoch ab. Er betrachtet sie als existenzielle Gefahr für sein Regime. Isaias wird sich daher wahrscheinlich nicht in Friedensgespräche einbinden lassen. Mehr noch: Er hat die Mittel, den Friedensprozess durch Kämpfe eritreischer Truppen mit der TPLF auf äthiopischem Gebiet zu stören. Angesichts seiner destruktiven Rolle in Äthiopien und der ungebrochenen Unterdrückung seiner Bevölkerung sollte sich die EU für eine Eindämmungsstrategie entscheiden und ihre gezielten Sanktionen gegen das eritreische Regime ausbauen.

Die Bundesregierung sollte sich im Kreise ihrer transatlantischen Partner um eine einheitliche Position gegenüber äthiopischen Friedensgesprächen bemühen. Das Land benötigt Unterstützung beim Wiederaufbau und der Restrukturierung seiner Schulden. Ein stabiles Äthiopien könnte wieder ein konstruktiver Partner Europas auf dem gesamten Kontinent werden. Ein ganzheitlicher, inklusiver Ansatz für Frieden wäre dafür eine entscheidende Voraussetzung.

Horn von Afrika: Politisches Versagen führt zu Hungersnot

Dieser Beitrag erschien am 01.07.2022 in: Aljoscha Albrecht, Gerrit Kurtz, Bettina Rudloff, Andrea Schmitz, Christian Wagner, Isabelle Werenfels, Claudia Zilla: Krieg und Hunger – Versorgungsrisiken, Lösungsansätze, Konfliktkonstellationen, SWP 360 Grad.

Die Länder am Horn von Afrika leiden seit längerem weltweit mit am stärksten unter Ernährungsunsicherheit. In Äthiopien, Sudan, Südsudan, Somalia und Kenia sind davon 2022 bis zu 38 Millionen Menschen akut betroffen, so die Welternährungsorganisation (FAO) und das Ernährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP). Rund 700.000 Menschen droht ohne schnelle externe Hilfe der Hungertod. Gegenüber dem Preisschock bei Weizen als Folge des Ukraine-Krieges sind diese Länder besonders verwundbar. Verantwortlich dafür sind eine ohnehin schlechte Versorgungslage, bewaffnete Konflikte, politische Instabilität, Überflutungen und aktuell die schlimmste Dürrekrise seit 40 Jahren.

Weizen gehört zu den wichtigsten Lebensmitteln in Äthiopien und Sudan. Ein Fünftel der täglichen Kalorienzufuhr in Sudan stammt aus Weizenmehl. Laut FAO deckt das Land 77 Prozent seines entsprechenden Verbrauchs durch Importe, die 2021 zu rund 35 Prozent aus Russland und der Ukraine kamen. Äthiopien importierte 2020/21 etwa 30 Prozent seines Weizenbedarfs, davon wiederum 20 Prozent aus der Ukraine.

Zu Preissteigerungen von geschätzt 20 Prozent für Weizen kommen in Sudan höhere Kosten für Energie und Düngemittel, was zu Versorgungsengpässen führt. 2021 machte Nahrung für den Großteil der Bevölkerung zwei Drittel ihrer Gesamtausgaben aus. Dabei erhielten insgesamt 27,8 Millionen Menschen in Äthiopien, Somalia, Südsudan und Sudan humanitäre Nahrungsmittelhilfe.

Schon länger gilt am Horn von Afrika das erklärte Ziel, die eigene Weizenproduktion zu steigern. Äthiopiens Regierung fördert den Anbau des Getreides und will bis 2023 unabhängig von Importen sein, worin Deutschland sie unterstützt. Die Regierung kauft alle Weizenimporte selbst; bereits 2021 senkte sie den Zoll, um Einfuhren günstiger zu machen. Sudan konnte seine Weizenernte durch verbessertes Saatgut zwischen 2015 und 2020 mehr als verdoppeln. Die Regierung erwarb üblicherweise die Ernte von Bauern zu festgelegten Preisen. Seit dem Putsch im Oktober 2021 befindet sich das Land in einer politischen Krise, was die Wirtschaftslage verschärft und bisherige Ansätze hemmt. Während Millionen hungern, droht geernteter Weizen wegen schlechter Lagerung zu verrotten, da der Staat ihn nicht mehr abkaufen kann.

Der Spielraum regionaler Regierungen ist begrenzt, eine weitere Weizenpreissteigerung abzufedern, denn wegen bewaffneter Konflikte und politischer Instabilität fehlen Währungsreserven und sind die Staatskassen leer. Politische Eliten investieren in Sicherheit und die Versorgung ihrer Netzwerke statt in Agrarproduktion und Nahrungsmittelversorgung. In der Folge erwächst aus Ernährungsunsicherheit eine lebensbedrohliche Hungersnot.

Ausdauernde, aber sanfte Diplomatie nötig

In vielen Staaten Afrikas weht gerade ein Wind der Veränderung. Deutschland sollte die Übergangsprozesse unterstützen.

Dieser Text erschien am 19. August 2019 als Gastbeitrag in der Frankfurter Rundschau.

Es weht ein neuer Wind in den Regierungsgebäuden wichtiger afrikanischer Länder. Die Einigung auf eine Übergangsregierung im Sudan Anfang Juli ist nur das jüngste Beispiel für Regierungswechsel in scheinbar erstarrten Regimen. Auch Äthiopien, Algerien, Kongo, Angola und Simbabwe erleben politischen Wandel in den letzten Jahren. Diese Prozesse haben regionale Ausstrahlungswirkung, eint jedoch auch eine anhaltende Rolle von Herrschaftseliten, eine große Rolle des Sicherheitsapparats und der fragile Charakter der Veränderungen. Internationale Diplomatie muss einen Weg finden, sowohl die erneute Konsolidierung autoritärer Herrschaft als auch Bürgerkrieg und Massengewalt zu verhindern. Dazu sollte die Bundesregierung die Kräfte des friedlichen Wandels umsichtig unterstützen.

Die Regierungswechsel waren stets auch Versuche der herrschenden Elite, angesichts wachsender Demonstrationen und Unzufriedenheit im Land die Proteste zu besänftigen. Saubere Schnitte mit der Vergangenheit waren es nicht. Angesichts der engen Verbindung von wirtschaftlichen und politischen Interessen war dies keine Überraschung: es gibt viel zu verlieren für all diejenigen, die von den bisherigen Verhältnissen profitiert haben.

Gleichzeitig ist die Beteiligung existierender Machteliten auch eine Chance für den Übergangsprozess. Sie erlaubt mögliche Friedensstörer zumindest anfangs einzubinden. Wenn Reformfiguren dem Status Quo entspringen, können sie auf existierende Netzwerke zur Umsetzung ihrer Ideen zurückgreifen. Premierminister Abyi Ahmed hat beispielsweise angefangen, weitgehende demokratische Reformen in Äthiopien umzusetzen. Medien- und Versammlungsfreiheit sind gewachsen, tausende politische Gefangen wurden frei gelassen, und die Privatisierung staatlicher Monopole hat begonnen. Letztes Jahr schloss Äthiopien Frieden mit Eritrea und eröffnete damit die Hoffnung, dass auch dort die Jahrzehnte der Isolation und Militarisierung zu Ende gehen könnten.

Doch die schnellen Reformen bringen auch die inneren Spannungen Äthiopiens zu Tage. 2018 wurden im Land fast drei Millionen Menschen durch gewaltsame Auseinandersetzungen vertrieben; so viele wie in keinem anderen Land. Ende Juni versuchten staatliche Sicherheitskräfte, die Regierung zu stürzen und töteten dabei unter anderem den Armeechef. Währenddessen drohen die Übergänge in Algerien und Simbabwe in alte Muster zurückzufallen, bevor sie richtig begonnen haben.

Für Deutschland und Europa sind diese Entwicklungen von großer Bedeutung. Äthiopien und die Demokratische Republik Kongo gehören zu den größten Empfängerländern von deutscher Entwicklungszusammenarbeit in Afrika. Äthiopien und Algerien haben sich in den vergangenen Jahren als wichtige Friedensvermittler hervorgetan, im Sudan und Südsudan bzw. in Mali. Wenn die Bundesregierung die Ziele der afrikapolitischen Leitlinien, welche sie dieses Jahr neu fasste, umsetzen will, müssen diese Übergangsprozesse friedlich verlaufen und nachhaltig inklusive Herrschaft garantieren.

Die Diplomatie steht jedoch vor schwierigen Herausforderungen. Zwei andere Übergangsprozesse der letzten Jahre zeigen, wie internationaler Einfluss nicht enden sollte: in Ägypten konnte sich das Militär mit Präsident al-Sisi an der Spitze behaupten, ohne dass es langfristige Einbußen der US-Militärhilfe hinnehmen musste. In Libyen zerfiel der Staat nach der international forcierten Entmachtung Gaddafis im Streit bewaffneter Gruppen.

Deutsche Diplomatie sollte also auf glaubwürdige Reformschritte drängen und die Erwartungen auch an konstruktive Regierungen wie die von Abyi Ahmed in Äthiopien nicht aus falscher Rücksichtnahme senken. Gewaltakte wie das Massaker der friedlichen Demonstranten am 3. Juni in Khartum müssen aufgeklärt werden. Die Bundesregierung sollte innerhalb der Staaten die Akteure unterstützen, die für einen gesellschaftlichen Wandel stehen. Entsprechend sollten deutsche Diplomaten bei ihren Vermittlungsbemühungen im Sudan und anderswo auch zivilgesellschaftliche Bewegungen wie die Sudanese Professionals Association involvieren. Gleichzeitig sollten sie weiterhin regionale Prozesse wie die Mediation der Afrikanischen Union im Sudan unterstützen. Um ein glaubwürdiges Auftreten zu ermöglichen, muss sich die Regierung auch noch stärker um einen kohärenten Ansatz zwischen den Ressorts und mit den europäischen Partnern bemühen.

Die Bevölkerungen im Sudan, Algerien und anderen Ländern haben gezeigt, dass sie nicht länger auf langfristige Reformversprechen warten wollen. Pusten wir Wind in ihre Segel.