Äthiopien: Fragile Macht am Horn von Afrika

Erschienen in: Barbara Lippert/Stefan Mair (Hg.): Mittlere Mächte – einflussreiche Akteure in der internationalen Politik, SWP-Studie 2024/S 01, 23.01.2024, 94 Seiten, doi:10.18449/2024S01

Seit Jahrzehnten ist Äthiopien ein zentraler Partner für externe Akteure. Das liegt nicht zuletzt an seiner strategischen Lage am Horn von Afrika, aus der sich verschiedene Rollen ergeben. Äthiopien ist eine Brücke zwischen der arabisch-muslimischen und der afrikanischen Welt, war einer der frühesten christlich geprägten Staaten, später eine afrikanische Imperialmacht, die sich auf Augenhöhe mit den europäischen Großmächten sah, und fungiert heute als Sitz der Afri­kanischen Union (AU). Seine Beziehungen zu den USA und zur EU haben sich in den letzten Jahren jedoch erheblich abgekühlt. Grund dafür ist vor allem der Bürgerkrieg mit der Tigray People’s Liberation Front (TPLF) im Norden des Landes, bei dem es zu mas­siven Menschenrechtsverletzungen kam. Premier­minister Abiy Ahmed verfolgt einen nationalistischen Erneuerungskurs, mit dem er sowohl innen- als auch außenpolitisch an die Grenzen von Äthiopiens staat­lichen Fähigkeiten stößt. An Ambitionen mangelt es ihm nicht. 2021 sagte Abiy vor dem nationalen Parla­ment, bis zur Mitte des Jahrhunderts solle Äthiopien eine von zwei globalen Supermächten werden.1 Äthio­pische Experten sehen das Land derzeit jedoch kaum auf der Höhe von Mittelmächten wie Saudi-Arabien oder den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE).2

Dabei untermauern zumindest einige materielle Indikatoren den Führungsanspruch Äthiopiens. Unter Afrikas Staaten hat es mit 126 Millionen Menschen die zweitgrößte Bevölkerung, die zudem rasant wächst. In den letzten zwanzig Jahren gehörte Äthio­pien zu den Ländern mit den höchsten wirtschaft­lichen Zuwachsraten der Welt – sein Bruttoinlandsprodukt hat sich in der Zeit mehr als versechzehnfacht. Mittlerweile verfügt Äthiopien auch über die zahlenmäßig größte Militärmacht in Sub-Sahara-Afrika, nachdem es seine Verteidigungsausgaben im Zuge des Bürgerkriegs erheblich gesteigert hat.3

Potential und Anspruch des Landes stehen jedoch in deutlicher Spannung zu seiner Fragilität. Schon die Vorgängerregierung unter Führung der Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front (EPRDF) sorgte sich um die Stabilität des Vielvölkerstaates. Laut der außen- und sicherheitspolitischen Strategie der damaligen Regierung waren Äthiopiens ökono­mische und (nach ihrem Verständnis) demokratische Defizite das größte Sicherheitsrisiko, weshalb es höchste Priorität haben müsse, rasch für mehr Ent­wicklung zu sorgen.4 Das stark von staatlicher Seite forcierte Wirtschaftsmodell geriet Mitte der 2010er Jahre aber zunehmend unter Druck, weil es nicht genügend Beschäftigung hervorbrachte.

Nach seinem Amtsantritt als Folge eines Machtwechsels innerhalb der EPRDF im April 2018 steuerte Abiy mit wirtschaftlichen und politischen Reformen um. Diese gerieten wegen der Covid-19-Pandemie aber schon bald ins Stocken. Der Krieg gegen die TPLF ab November 2020 stürzte das Land in eine tiefe Krise. Der Friedensprozess, der mit dem Pretoria-Abkom­men im November 2022 einsetzte, brachte neue Schwierigkeiten mit sich. Zusehends entglitt der Regierung das Gewaltmonopol. Äthiopiens bevölkerungsreichste Bundesstaaten Amhara und Oromia sowie weitere Teile des Landes werden heute von be­waffneten Konflikten, Kriminalität und Vertreibung erschüttert. Das Verhältnis zu Eritrea, das seine Inter­essen im Pretoria-Abkommen nicht berücksichtigt sah, verschlechterte sich in einem Maße, dass mittel­fristig ein erneuter Waffengang zwischen beiden Staaten droht. Der Eritreisch-Äthiopische Krieg von 1998 bis 2000 wirkt bis heute nach.

Für deutsche wie europäische Entscheidungsträgerinnen und ‑träger bleibt Äthiopien wichtig. In ihren Augen ist das Land schlichtweg zu groß, um es als staatliches Gemeinwesen scheitern zu lassen – seine Fragilität ist ein systemisches Risiko für die regionale Ordnung in Afrika, an der die EU ein eminentes Inter­esse hat. Äthiopien leistete in der Vergangenheit wich­tige Beiträge zur Konfliktbearbeitung in seinem Umfeld und setzte sich für die regionale Integration ein. Dabei hängt die Entwicklung des Landes nicht primär von Europa ab.

In den letzten Jahren entfernte sich Äthiopien von seiner international balancierenden Position, die es lange Zeit eingenommen hatte. Zwar sieht sich die politische Elite dank langjähriger Kooperation den westlichen Staaten und demokratischen Werten ver­bunden, doch setzt die Regierung stark auf eine Kooperation mit China, Russland und den VAE. Ob Äthiopien künftig eine Führungsrolle spielen kann und wie sich seine außenpolitische Handlungsfähigkeit gestaltet, dürfte insbesondere von der inneren Entwicklung und der regionalen Ausrichtung des Landes bestimmt werden.

Grundzüge der Außenpolitik unter Abiy

Abiys Regierung verfolgt einen neuen ideologischen Kurs, der eine Rückbesinnung auf die antiken Wur­zeln des äthiopischen Staatswesens propagiert.5 Spä­testens seit dem Sieg über italienische Kolonialkräfte in der Schlacht von Adua 1896 sah sich bereits das abessinische Kaiserreich als gleichberechtigten Teil der internationalen Ordnung. Im Gegensatz zu den sozialistisch geprägten EPRDF-Eliten vertritt Abiy einen eher wirtschaftsliberalen Ansatz, den er um das kulturelle Kapital der Traditionslinie zur antiken Zivi­lisation ergänzt. Dabei bleiben Äthiopiens Innen- und Außenpolitik, die stark auf den Premierminister aus­gerichtet sind, unter Abiy teilweise erratisch. So lässt sich derzeit nur begrenzt von einer übergeordneten außenpolitischen Identität des Landes sprechen. Der Kurs nationaler Größe, den die aktuelle Regierung verfolgt, wird jedoch immer wieder durch länger­fristig wirkende Faktoren eingehegt – wie den pan­afrikanischen Multilateralismus und das äthiopische Streben nach einem Ausgleich zwischen den Groß­mächten. Abiys Forderung etwa, dem Land einen direkten Zugang zum Roten Meer zu verschaffen,6 entspringt nicht allein dem Wunsch nach nationalem Prestige und regionaler Vorherrschaft, sondern eben­so dem Ziel, die heimische Wirtschaft von Großmacht­konflikten, welche Äthiopiens Nachbarn betreffen könnten, unabhängiger zu machen.

Die Folgen dieser politischen Neuausrichtung zeigen sich in Äthiopiens regionaler Orientierung. Hatte die EPRDF-Regierung, deren dominanter Teil die TPLF war, stets eine führende Rolle in den afrika­nischen Regionalorganisationen gespielt, werden diese von Abiy eher vernachlässigt. Abiys wechselnde regionale Partnerschaften erschweren die regionale Integration. Während des Kriegs gegen die TPLF arbei­tete Äthiopien militärisch eng mit Eritrea und Soma­lia zusammen. Asmara entsandte erhebliche Kontin­gente in den Kampf gegen die TPLF. Mit Sudan kam es währenddessen zu Grenzscharmützeln. In dieser Phase verringerte sich Äthiopiens Beitrag zu UN-Frie­densmissionen, deren größter Truppensteller das Land noch Mitte 2020 gewesen war, um über 75 Pro­zent. Zwar spielten AU und IGAD eine wichtige Rolle bei der Verhandlung des Pretoria-Abkommens, das den Krieg im Norden Äthiopiens beenden sollte. In der Folge kühlten sich Äthiopiens Beziehungen mit Eritrea jedoch ab, das seine Interessen im Frieden mit der TPLF nicht berücksichtigt sah. Nachdem Äthiopien Somaliland am 1. Januar 2024 in Aussicht gestellt hatte, dessen Unabhängigkeit von Somalia anzuerkennen, im Gegenzug für einen fünfzig Jahre gelten­den Meereszugang für die im Aufbau befindliche äthiopische Marine, verschlechterte sich auch das bilaterale Verhältnis zu Somalia.

Äthiopien will sich nicht vorschreiben lassen, mit welchen Ländern es prioritär zusammenarbeitet. Durch den Bürgerkrieg haben sich seine Partnerschaften verschoben. Die USA hatten gute Beziehungen zur EPRDF-Regierung. Aus amerikanischer Sicht war Äthiopien ein Stabilitätsanker am Horn von Afrika und ein wichtiger Partner im Kampf gegen islamistischen Terrorismus. Doch im Laufe des Krieges kappte Washington viele dieser Beziehungen und entzog Äthiopien Handelsprivilegien. Dass die Rolle des Lan­des als regionaler Sicherheitspartner Amerikas ver­fällt, werten manche Beobachter als »eines der fol­gen­reichsten strategischen Debakel, das die US-Außen­politik seit einer Generation in Afrika erlebt hat«.7

China investierte bereits unter der EPRDF-Regie­rung stark in Äthiopien, vor allem in den Transport- und Energiesektor. Dies betraf etwa die Eisenbahnstrecke zwischen Addis Abeba und Dschibuti. Ihr Maximum hatten chinesische Kredite für Äthiopien bereits vor rund einem Jahrzehnt erreicht.8 Mittlerweile ist die Volksrepublik der größte bilaterale Aus­landsschuldner des Landes.9 Auf diplomatischer Ebene sind die Beziehungen weiterhin eng. Die erste Reise des damals neu ernannten chinesischen Außen­ministers Qin Gang führte im Januar 2023 nach Addis Abeba. Ein Jahr zuvor hatte China bereits seine Ini­tiative für die »friedliche Entwicklung am Horn von Afrika« vorgestellt.10

Die Beziehungen Äthiopiens zu Russland reichen bis 1898 zurück, als beide Länder noch Monarchien waren. Äthiopien ist zwar von den wirtschaftlichen Auswirkungen des russischen Überfalls auf die Ukraine betroffen (vor allem bei Dünger), profitierte jedoch während des Krieges mit der TPLF auch von Moskaus Schutz im UN-Sicherheitsrat. Um ein eigenes Kernkraftwerk zu errichten, kooperiert Äthiopien mit Rosatom, der russischen Agentur für Atomenergie.

Daneben wurden die VAE zu einem der wichtigs­ten Partner des Landes. Die Emirate boten Abiy eine schnelle Finanzierung zu Beginn seiner Reform­agenda 2018. In kurzer Zeit stiegen sie überdies zu Äthiopiens wichtigstem Handelspartner auf – über 25 Prozent aller äthiopischen Exporte, vor allem Gold, gingen 2022 in die VAE, mehr als auf den gesamten afrikanischen Kontinent.11 Die Emirate lieferten (neben der Türkei und Iran) bewaffnete Drohnen an Äthiopien, die entscheidend dazu beitrugen, den Vormarsch der Tigray Defence Forces im Herbst 2021 zurückzuschlagen.12

Angesichts dieser geopolitischen Ausrichtung ent­schied der 15. BRICS-Gipfel im August 2023, Äthio­pien in die Gruppe aufzunehmen. Für Abiy ist der 2024 anstehende Beitritt zum Kreis der BRICS+-Länder »einer der größten diplomatischen Siege des Landes in den letzten Jahrzehnten«.13 Die Kooperation mit dem Format fügt sich ein in Abiys Ziel, Äthiopien zu einer führenden Macht zu entwickeln, dient aber vor allem auch den wirtschaftlichen Interessen und finan­ziellen Bedarfen des Landes.

Äthiopiens regionales und internationales Engagement

Auch unter der Vorgängerregierung war Äthiopien in wichtigen Fragen selten ein enger Partner Deutsch­lands, wie sich am Abstimmungsverhalten der beiden Länder in der UN-Generalversammlung zeigt. Äthio­pien stimmt seit über zwanzig Jahren öfter mit China als mit Deutschland. Mittlerweile gehört Letzteres so­gar zu den zehn Ländern, mit denen Äthiopien in den Vereinten Nationen am seltensten übereinstimmt.14

Deutschlands Interesse an Äthiopien gilt nicht zu­letzt dessen Beiträgen zu regionaler Kooperation, zu Friedensförderung und afrikanischer Handlungsmacht auf globaler Ebene. Das Land ist überdies an der militärischen Aufstandsbekämpfung in Soma­lia beteiligt. Dies geschieht über die EU-finanzierte Afri­can Union Transition Mission in Somalia (ATMIS) und die regionale Frontline States Task Force. Zudem ist Äthiopien eines der wichtigsten Aufnahmeländer für Geflüchtete in Afrika.

Auf kontinentaler Ebene engagierte sich Äthiopien im Zuge der Covid‑19-Pandemie. Im März 2020 rief Abiy die G20-Staaten auf, zusätzliche Finanzmittel für alle afrikanischen Staaten zu mobilisieren, denn nur so könne Corona umfassend bekämpft werden.15 In diesem Zusammenhang machte er Äthiopien zum kontinentalen Hub für die Verteilung medizinischer Güter, wozu er Ethiopian Airlines einsetzte.16

Seit dem Abkommen von Pretoria bemüht sich Äthiopien um eine Wiederannäherung an westliche Länder, mit einigem Erfolg. So nahm Abiy am US-Afrika-Gipfel Ende 2022 in Washington teil. Im Jahr darauf war er jeweils zweimal in Paris und Rom. Äthiopien ist insbesondere an vertiefter wirtschaft­licher Zusammenarbeit, an Schuldenumstrukturierung und Unterstützung für einen Kredit des Inter­nationalen Währungsfonds (IWF) interessiert. Die enormen Kosten des heimischen Krieges und der an­haltenden Sicherheitsprobleme in vielen Teilen des Landes belasten den Staatshaushalt. Hinzu kommen eine hohe Inflation von über 30 Prozent und ein Mangel an Devisenreserven, mit denen sich Importe finanzieren ließen. Trotz dieser wirtschaftlichen Nöte verwahrt sich die äthiopische Regierung gegen eine starke Konditionierung internationaler Finanzhilfen.

Schlussfolgerungen

Äthiopien nimmt keine »Mittelposition« in der auf­kommenden Bipolarität ein, sondern orientiert sich mehr an einer von China und Russland geprägten Ordnung. Deutschland sollte sich darauf einstellen, dass Äthiopien auch weiterhin seine Souveränität betonen und Beziehungen transaktional gestalten wird. In einer fluideren Weltpolitik, in der es wenig verlässliche Bündnisse gibt, bestehen jedoch Ansatz­punkte für eine bilaterale Kooperation.

Deutschland sollte mit der äthiopischen Regierung auf Politikfeldern, an denen beiderseitiges Interesse besteht, in einer Weise zusammenarbeiten, die über­geordnete deutsche Prioritäten nicht untergräbt, was die Glaubwürdigkeit internationaler Normen, der eigenen Kooperationsinstrumente und multilateraler Institutionen betrifft. Kommunikativ sollte die Bun­desregierung den Eindruck vermeiden, Äthiopien sei ein demokratisches Land, bloß weil dort Wahlen stattfinden.17

Deutschland hat ein Interesse daran, dass Äthiopien wieder zum Exporteur von Frieden und Stabilität in der Region wird.

Äthiopien bleibt Partnerland im »Compact with Africa« – einem Format, in dem die Regierungschefs aller Partnerländer von der Bundesregierung regel­mäßig zu Wirtschaftsgipfeln nach Berlin eingeladen werden. Fraglich ist jedoch, wie sehr diese diplomatischen Treffen und entsprechende Förderinstrumente der Bundesregierung dazu beitragen können, privat­wirtschaftliche Investitionen deutscher Unternehmen in Äthiopien anzuregen. Das größte Hindernis für solche Investitionen entsteht durch den politisch-wirtschaftlichen Kontext dort, insbesondere die be­waffneten Konflikte und die engen Kapitalverkehrskontrollen. Ein hochrangiger Dialog mit Addis Abeba zur Förderung von Investitionen kann nur dann Erfolg haben, wenn er sensible Governance-Themen offen thematisiert. Die von Äthiopien benötigten multilateralen makroökonomischen Hilfen bieten einen wichtigen Hebel, um von der Regierung mehr Transparenz und Rechenschaftspflichtigkeit gegenüber der eigenen Bevölkerung einzufordern.

Gemeinsame Interessen Deutschlands und Äthiopien bestehen beim Klimaschutz. Hier engagiert sich das Land im Rahmen seiner Green Legacy Initiative mit massenhaften Baumpflanzungen. Darüber hinaus ist es im deutschen Interesse, dass Äthiopien Kon­flikte im eigenen Land und in der Region gewaltfrei bear­beitet, damit es wieder zum Exporteur von Frie­den und Stabilität am Horn von Afrika wird.

Author: Gerrit Kurtz

Researcher working on conflict prevention, diplomacy, peacekeeping and the United Nations, with a focus on the Horn of Africa. Associate, German Institute for International and Security Affairs (SWP).

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