Ein Besuch in Auschwitz

Rampe und Tor vom Lager Auschwitz-Birkenau.

Ein dunkles Augenpaar von einer alten Schwarzweißaufnahme blickt mich direkt an. Es ist Teil des Aufklebers, den jeder Besucher und jede Besucherin der Gedenkstätte von Auschwitz trägt. Mein Aufkleber ist hellblau. Oben steht groß „Deutsch“ drauf. Ich klebe ihn mir aufs Hemd an die Brust, gehe durch die Sicherheitsschranke und stehe in einem weiten Hof mit vielen anderen Menschen. Hinter einem Baum am anderen Ende des Hofs sehe ich bereits den Eingang mit den berüchtigten Worten: Arbeit macht frei.

Nacheinander kommen Menschen mit Namensschildern, halten Schilder hoch und sammeln so ihre jeweilige Gruppe um sich. „Wo kommen Sie her?“ fragt die Führerin, „Sind Leute aus Österreich, der Schweiz oder Holland dabei?“ Ich komme aus Deutschland, aus Berlin noch dazu. Dem Ort, an dem der Plan zur Vernichtung der europäischen Juden entworfen wurde.

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Zuerst wollte ich gar nicht viel über meinen Besuch in Auschwitz sagen. Beiträge auf sozialen Medien wie Instagram, Facebook und Twitter, die ich sonst regelmäßig nutze, schienen mir nicht angemessen zu sein. Bilder von dem Tor und der Rampe des Lagers zwischen Reiseeindrücken und Schnappschüssen – ein Besuch in Auschwitz passt schlecht zur schnellen, oberflächigen Kultur des Likens und Teilens. Unsere Profile dort dienen zu einem erheblichen Teil unserer eigenen Selbstdarstellung, unsere Timelines der ständigen Zerstreuung. Auschwitz verlangt Konzentration und tiefste Demut, erst recht für einen Deutschen.

Aber wir müssen darüber reden, was in Auschwitz geschehen ist, immer und immer wieder. 2,1 Millionen Menschen besuchten die Gedenkstätte letztes Jahr, die meisten von ihnen Jugendgruppen. 76.000 Besucherinnen und Besucher kamen aus Deutschland. Jeder sollte diesen Ort einmal im Leben gesehen haben, höre ich hier mehrfach. Allein schon aus logistischen Gründen ist das kaum möglich – im Sommer gibt es jetzt schon Engen wegen der vielen Besuchergruppen. Umso wichtiger ist es, dass wir, die wir diesen Ort gesehen haben, davon erzählen, so gut wir können.

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Ich besteige am Busbahnhof von Kraków einen Kleinbus nach Oświęcim, das die Nazis bei ihrer Ankunft in Auschwitz umbenannten.  So viele Leute drängen sich in den Bus, dass die letzten im Gang stehen müssen. Ich bin der einzige mit einem Koffer. Der Bus hält an kleinen Orten und fährt durch dunkle Wälder und an weiten Wiesen vorbei. Welche Taten verübten Wehrmacht, SS und Einsatzgruppen in dieser Gegend? Von der ehemaligen Königsstadt Kraków beherrschte, plünderte und drangsalierte NS-Gouverneur Hans Frank das besetzte Polen.

In Oświęcim angekommen laufe ich noch ein Stück von der Haltestelle zu meinem Hotel. Dazu muss ich das abgesperrte Gelände des Stammlagers umrunden. Die SS räumte die gesamte Stadt und die Umgebung, die sie zum sogenannten Interessengebiet erklärte. Erst nach dem Krieg konnten die Bewohner zurückkommen. Auf der abgewandten Seite des Eingangs stehen Mietshäuser. In den Vordergärten spielen Kinder auf Gerüsten. Wie muss es wohl sein, hier zu wohnen? In der Ferne höre ich das Quietschen von Containerzügen.

Wir haben die Studientour gebucht, insgesamt sechs Stunden für das Stammlager und das ein paar Kilometer entfernte Lager Auschwitz-Birkenau, auch Auschwitz II genannt. Die Führerin erklärt, wo das Lagerorchester spielte, zu dessen Märschen die Gefangenen im Rhythmus laufen mussten. Wo der Appellplatz war, zu dem selbst während der Arbeit am Tag gestorbene Menschen gebracht werden mussten. Die Zahlen mussten stimmen, sonst gab es Strafen: stundenlanges Stehen in sommerlicher Hitze oder winterlicher Kälte. Die Stehbunker, in denen mehrere Gefangen in völliger Dunkelheit mit nur kleinen Luftschlitzen für kleinere Vergehen geschickt wurden. Die doppelten Stacheldrahtzäune, die Wachtürme in schwarz gestrichenem Holz und die Stoppschilder zeigen, dass es aus dem Lager kein Entrinnen gab.

Das Stammlager, das früher als Kaserne der polnischen Armee diente, ist praktisch komplett erhalten. Die roten Backsteinhäuser stehen in geraden Reihen, die Wege sind von erst in den letzten Jahrzehnten gepflanzten Bäumen gesäumt, wie schmale Alleen. Es ist herrliches Sommerwetter, nur wenige Wolken verdecken den blauen Himmel und die warme Sonne. Besuchergruppen drängen sich durch die Ausstellungen in den Baracken, und mehrfach müssen wir warten, bevor wir in den nächsten Raum gehen können.

Viele Besucherinnen und Besucher halten ihre Handys und Tablets beständig hoch, um Fotos zu schießen. Mehrmals muss unsere Führerin Leute ermahnen, auf dem Gelände des Konzentrationslagers nichts zu essen. Auch zwei Deutsche aus unserer Gruppe packen ihr Brot in einer Pause aus. „Menschen sind hier massenweise verhungert, wir müssen den Respekt waren,“ sagt sie. Auschwitz ist keine Touristenattraktion wie jede andere.  

Von Station zu Station und von Ausstellung zu Ausstellung hören wir von den Verbrechen, welche die Nazis hier begingen. Von Zahlen, die wir längst kennen, und die dennoch unfassbar bleiben. 1,3 Millionen Menschen waren im Lagerkomplex bis 1945, etwa 1,1 Millionen von ihnen wurden ermordet, an einem einzigen Ort. Über 90% der Opfer waren Juden. Die Menschen litten unter den Unterbringungsbedingungen, der harten körperlichen Arbeit, dem Mangel an Nahrungsmitteln und Hygiene. Die kargen Rationen reichten nicht zum Überleben aus. Auch das Arbeitslager Auschwitz diente letztlich der Vernichtung.

Die wahrscheinlich wirkungsvollste Ausstellung im Stammlager kommt ohne viele Worte aus. Sie zeigt den industriellen Charakter der Todesmaschine Auschwitz. Ankommende Menschen mussten ihr Gepäck zurücklassen, das sie im Glauben, umgesiedelt zu werden, mit vielen Gegenständen des täglichen Bedarfs mitgenommen hatten. Ihr Haar wurde rasiert. Alles verwerteten die Nazis weiter. Mäntel schickten sie an die Ostfront für Soldaten, Haushaltsgegenstände zur Verteilung ins Reich, und aus Haaren ließen sie Matratzen anfertigen.

Große Glasvitrinen zeigen Berge von menschlichem Haar, links und rechts eines Ganges. Andere Vitrinen zeigen die Lederkoffer, die noch die Beschriftungen ihrer Eigentümer tragen, wieder andere Haufen von Schuhen, Brillen, Schuhbürsten und Emailletöpfe. Jeder Gegenstand steht für einen Haushalt und für Menschen mit Persönlichkeit, Erfahrung und Charakter. „Es sind nicht nur Zahlen“, betont die Führerin, die uns auch immer wieder Geschichten von einzelnen Gefangenen aus Auschwitz erzählt.

Hinter einer Glasscheibe liegen Dutzende leere Blechbüchsen. Sie enthielten Zyklon-B, das Gift der Gaskammern. Während die SS die Gaskammern und Krematorien in Auschwitz-Birkenau vor dem Verlassen des Lagers sprengte, ist die erste experimentelle Gaskammer im Stammlager erhalten bzw. rekonstruiert. Das frühere Munitionslager der Kaserne erhielt Öffnungen im Dach, durch die das Gift geschüttet wurde, und direkt daneben, Krematorien. Die Führung geht durch diesen Bau. Innen ist es dunkel, die Menschen drängen sich durch die Räume mit den bloßen Wänden. Nur fünfzig Meter weiter, in Sichtweite, wohnte Lagerkommandant Rudolf Höß mit Frau und Kindern.

Ein Shuttlebus bringt die Gruppen in das wenige Kilometer entfernte Lager Auschwitz-Birkenau. Um ein Vielfaches größer als das Stammlager, vermittelt der Ort einen Eindruck des Ausmaßes der Vernichtung. Schienen führen bis in die Mitte des Lagers, zwischen Baracken, die hier meist aus Holz waren. Ich muss an Fotos denken, die wir in einer Ausstellung gesehen hatten. Man sieht ankommende Juden nach oft tagelanger Fahrt in Viehwaggons mit schwerem Gepäck, das sie noch auf der Rampe zurück lassen mussten. Im Hintergrund zeigen zwei hohe Schornsteine, was sie hier erwartete. Ein anderes zeigt die Selektion noch auf der Rampe. Korrekt gekleidete Offiziere und Ärzte sortieren die Menschen innerhalb von Sekunden. Alte, Kinder, Schwangere, Kranke wurden sofort zu den Gaskammern geschickt.

Die Gaskammern mit angeschlossenen Krematorien hier in Birkenau waren nach dem neusten Stand der Technik mit Lastenaufzügen ausgestattet. Ofen grenzte an Ofen. Sie hatten eine deutlich größere Kapazität als das Krematorium im Stammlager. Es sollten so viele Menschen wie möglich getötet werden.

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Wir sehen und hören viel, was hier geschehen ist. Und doch bleibt es unvorstellbar. Wir sehen die Rampe, die Barracken und die Öfen. Doch das Leid, das hier herrschte, sehen wir nicht. Wir hören von der Konstruktion der Gaskammern, aber die Schreie der Menschen hören wir nicht. Wie riechen auch nicht den Gestank der menschlichen Ausdünstungen in den Unterkünften. Wir fühlen nicht die Schläge der Aufseher und die Enge der hölzernen Pritschen.

Sich vorzustellen, was in Auschwitz passierte, geht gegen jede menschliche Vernunft. Wir kennen Rache oder Neid als Motive für Gewalttaten, auch Abschreckung und Kriegführung. Doch die Shoa lässt sich damit nicht erfassen. Die Shoa war nicht spontan oder aus dem individuellen Hass Einzelner geboren, sondern ein strategisch angelegter Plan zur Vernichtung der europäischen Juden, der auf der ganzen Macht des Staates und tausender von Tätern beruhte.

Das Verbrechen lässt sich nicht aufs Pathologische schieben. Das ist der ganze Abgrund von Auschwitz: dass Menschen dazu fähig sind, Morden zum System zu machen. Was bedeutet angesichts dieser Fähigkeit noch Menschlichkeit?

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Am Ende der Tour zeigt uns die Führerin ein Foto mit zwei Kindern, beide Opfer von Auschwitz. Sie hatten ihr Leben noch vor sich, hatten Träume, Wünsche, Hoffnungen. Das Augenpaar auf dem blauen Aufkleber gehört einem von ihnen.