Die Gegenwart der Geschichte in Sarajevo

Sarajevo Taube Graffiti
„Meine Stadt ist international vor allem für drei Dinge bekannt: die Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinands im Juni 1914, die den Anlass zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs gab; die dreieinhalbjährige Belagerung während der 1990er Jahre und die olympischen Winterspiele von 1984,“ verkündete Neno, freiberuflicher Stadtführer in Sarajevo, der Hauptstadt Bosnien und Herzegowinas. „Ich will euch zeigen, dass es in meiner Stadt noch mehr zu sehen gibt.“
Sagte Neno und führte die gut dreißig Touristen in seiner Gruppe als erstes zu einer „Sarajevo Rose“, einem rot ausgemalten Einschlagskrater der serbischen Artillerie, welcher Zivilisten zum Opfer gefallen waren. Nach Ende der Belagerung wurden rund einhundert dieser Krater in dieser Weise markiert. Sie erinnern noch mehr als zwanzig Jahre nach Ende der Belagerung an die alltäglichen Opfer der Bewohner von Sarajevo.
Den Spuren des Zerfallskrieges Jugoslawiens kann man hier nicht entkommen, schließlich wütete er in Bosnien und Herzegowina mit besonderer Brutalität. Gleichzeitig hat Neno recht: Sarajevo lässt sich nicht nur über Kriege definieren, sondern auch über Jahrhunderte religiöser Toleranz und des friedlichen Zusammenlebens. Diesen Eindruck konnte ich auch während meines Besuchs in der Stadt gewinnen, und er verdient es, weiterverbreitet zu werden. Die historischen Ereignisse in Sarajevo haben gerade in diesen Tagen eine besondere Aktualität.
At this corner, Gavrilo Princip shot Archduke Franz Ferdinand and his wife Sofia on 28 June 1914.
An dieser Ecke fielen die folgenreichsten Schüsse des 20. Jahrhunderts.
Was wäre, wenn
Nach dem Rückzug der Osmanen stand Bosnien und Herzegowina seit 1878 unter der Herrschaft Österreich-Ungarns. Wie die vielen prächtigen Fassaden in der Innenstadt noch heute bezeugen, war dies eine Zeit der Modernisierung. Die Donaumonarchie führte sogar die erste Straßenbahnlinie in ihrem Reich in Sarajevo ein; sie diente später Wien zum Vorbild. Doch die Besatzung stieß auf Widerstand bei nationalistisch gesinnten Serben. Als am 28. Juni 1914 der österreich-ungarische Thronfolger Franz Ferdinand mit seiner Frau Sophia Sarajevo besuchte, witterte der erst 19jährige bosnische Serbe Gavrilo Princip zusammen mit seinen sechs Mitverschwörern seine Chance. Soweit kannte ich die Geschichte, aber Neno erzählte uns die ganze Dramatik des Sommertages vor 102 Jahren, während wir unter einem schattenspendenden Baum schräg gegenüber der Brücke standen, an deren Ecke das Attentat stattfand.
„Von dort hinten kam der offene Wagen mit Franz Ferdinand und seiner Frau angefahren“, sagte er, während er auf die Uferstraße den Fluss hinunter wies. Links und rechts winkten dem Paar Schaulustige zu, als es knallte. Ein Attentäter hatte eine Bombe auf die Wagenkolonne des Thronfolgers geworfen. Er traf aber nur einen Begleitwagen. Mit Hochgeschwindigkeit fuhr der Wagen mit Franz Ferdinand die wenigen hundert Meter weiter zum Rathaus, wo er offizielle Treffen hatte. Dort angekommen verkündete Franz Ferdinand, das Treffen kurz zu halten und möglichst bald zurück zu fahren, um die Verwundeten im Krankenhaus zu besuchen.
Derweil setzte sich Princip in ein Café an der Straße, an welcher der Wagen gerade an ihm vorbeigesaust war. Wegen des allgemeinen Chaos und der Geschwindigkeit des Wagens hatte Princip nicht schießen können. So trank er jetzt frustriert einen Kaffee. Das Attentat schien gescheitert.
Doch kaum hatte er sich versehen, stand plötzlich der Wagen direkt vor ihm auf der Straße. Der Fahrer hatte angehalten, weil er nicht wusste, dass Franz Ferdinand zum Krankenhaus fahren wollte und nun wenden musste. Kurz entschlossen nahm Princip seine Pistole und erschoss Thronfolger und Gemahlin. Sie verbluteten noch am selben Tag.
Das Attentat führte zur sogenannten Julikrise 1914 – Österreich-Ungarn erklärte Serbien den Krieg, welches zum Kriegseintritt fast aller weiteren europäischen Mächte aufgrund ihrer Bündnisverpflichtungen führte. Der Erste Weltkrieg begann.
Holiday Inn Hotel, aus dem die ersten Schüsse des Bürgerkriegs fielen
Holiday Inn Hotel, aus dem die ersten Schüsse des Bürgerkriegs fielen

Leben unter Belagerung

78 Jahre später begann ein neuer Krieg in Sarajevo. Am 5. April 1992, wenige Wochen nachdem eine Mehrheit für die Unabhängigkeit der früheren jugoslawischen Teilrepublik gestimmt hatte, versammelte sich eine Menschenmenge in Sarajevo, um gegen den heraufziehenden Krieg zu demonstrieren. Als sie am Parlament vorbeizogen, flogen Schüsse aus dem Holiday Inn Hotel auf die Demonstranten und töteten zwei Menschen. Kurze Zeit später blockierten bosnisch-serbische Einheiten alle Zugänge zur Stadt, die in einem Kessel liegt, und der bosnische Bürgerkrieg begann. Die bosnischen Serben zerstörten bald die Hauptpost, die auch die Zentrale für alle Telefonverbindungen der Stadt war, und ein wichtiges Kraftwerk. Fortan gab es kaum Elektrizität. Wasser, das elektrische Pumpen benötigte um in die Haushalte zu gelangen, konnte fortan nur noch per Lastwagen geliefert werden. Die Belagerung der Stadt hielt 44 Monate lang an und wurde damit zur längsten Belagerung des 20. Jahrhunderts.
Auch mehr als 20 Jahre nach Ende des Bürgerkriegs kann man über Sarajevo nicht sprechen ohne die Belagerung zu erwähnen. Zu viele Häuser, insbesondere außerhalb des unmittelbaren Stadtzentrums, weisen noch Einschusslöcher und Spuren von Schrapnell auf. Überall finden sich Plaketten und Monumente für die Opfer: mehr als 11.000 Tote sind namentlich bekannt. Ich hatte zur Einstimmung  ein Buch über das tägliche Leben der Bewohner einer Straße in Sarajevo gelesen („Besieged“ von der BBC-Journalistin Barbara Demick, die immer wieder während des Krieges Zeit in der Stadt verbrachte). Dank Demicks eindringlicher Schilderung nahm ich auf diese Weise einige Orte besonders war. Da ist die mittlerweile vollständig sanierte Markthalle, in deren Nähe sich zwei der größten Massaker der Belagerung ereigneten. Die Brauerei, deren deutschsprachiges Schild auf ihre Errichtung zu österreich-ungarischer Zeit verweist, produzierte nicht nur den ganzen Krieg hindurch sein frisches Pils, sondern funktionierte vor allem als Verteilerstelle von Frischwasser, da sie über eine eigene Wasserquelle verfügt.
Monument für humanitäre Hilfe während der Belagerung
Monument für humanitäre Hilfe während der Belagerung
In einem Museum sah ich die Ofen, welche viele der Bewohner Sarajevos sich selbst zusammen zimmerten und darin nach und nach alles verbrannten, was warm hielt: Regalbretter, Parkbänke, Plastikmüll, und irgendwann auch Bücher. Die Stadt ist umringt von dicht bewaldeten Hügeln, aber diese wurden allesamt von serbischen Einheiten kontrolliert. Hinter dem Museum steht eine überdimensionierte Dose mit konserviertem Rindfleisch auf einem Sockel: ein Denkmal für die humanitären Hilfslieferungen, welche die Vereinten Nationen während der Belagerung über den Flughafen in die Stadt bringen konnten. Dazu zählten auch Kekse und Trockenfleisch aus den 1970er Jahren: Restbestände der US-Armee aus Zeiten des Vietnamkrieges. Zusätzlich bauten einige Menschen selbst Gemüse an; ein Paar in der Logavinastraße, von der das Buch handelt, riss dafür seine Garageneinfahrt auf: angesichts unerschwinglicher Benzinpreise würden sie das Auto ohnehin nicht benutzen.
Das Leben spielte sich drinnen ab: „Ich habe mehre Jahre meiner Kindheit im Keller unseres Wohnhauses verbracht“, erzählte Neno. Draußen drohten Scharfstützen und Artillerieeinschläge. Unterricht gab es trotzdem, soweit es ging, und nicht sehr häufig. Mit kleinen Gesten zeigten die Menschen ihren Widerstand. Frauen trugen Make-up und Stöckelschuhe, wenn sie Wasser holten. Aus den Vietnamkeksen und Grundnahrungsmitteln ersannen sie Kriegsrezepte für Kuchen. In einem Dokumentarfilm aus der Zeit, den eine Ausstellung zeigte, spielten vielleicht zehnjährige Kinder mit großer Fantasie in einem zerschossenen Auto. „Welche Radiostation willst du hören?“ fragen sie in fließendem Englisch den Filmemacher und fangen an Lieder verschiedener Genres zu singen: „Country? Rock’n Roll? Italienische Musik?”
Tunnel Museum
Tunnel Museum
Der einzige offizielle Zugang zur belagerten Stadt war der Flughafen, welchen Friedenstruppen der Vereinten Nationen kontrollierten. Allerdings mussten diese sicherstellen, dass keine Menschen über den Flughafen fliehen oder diesen für militärische Zwecke verwerden. So errichtete das bosnische Militär einen 800 Meter langen Tunnel, der unter dem Flughafengelände hindurch führte. Auf diese Weise konnten Lebensmittel, militärisches Material, und vor allem Soldaten in die Stadt kommen. Viele junge männliche Bewohner Sarajevos wurden zur Armee eingezogen und kämpften an der nahe gelegenen Front, durften aber alle ein bis zwei Wochen nach Hause. Unser Wanderführer, mit dem ich an einem Tag eine Wanderung an der Grenze zu Montenegro machte, gehörte auch dazu. Er berichtete uns, wie er den niedrigen Tunnel hunderte Male durchquert habe und in den Wäldern Ostbosniens kämpfte – ohne verletzt zu werden. Dabei war die bosnische Armee vollkommen unterbewaffnet: mehrere Leute teilten sich ein Gewehr, während die Serben alle 35 Meter einen Panzer oder Mörser um Sarajevo stationiert hatten.
Der größte Teil des Tunnels ist heute eingestürzt, aber ein etwa fünfundzwanzig Meter langer Teil lässt sich durchqueren. Der Zugang liegt unter einem Wohnhaus – der Tunnel war ein militärisches Geheimnis, auch wenn die bosnischen Serben davon wussten: das Haus ist überseht mit Einschusslöchern.
Gazi Husrev Beg Moschee
Gazi Husrev Beg Moschee

„Wo sich Ost und West treffen”

Die allgegenwärtigen Kriegsspuren schafften es dennoch nicht, den Geist der Stadt zu brechen. Die Berichte über ethnische Auseinandersetzungen während des Jugoslawienkrieges täuschen leicht darüber hinweg, aber Sarajevo ist stets eine multikulturelle, multireligiöse Stadt gewesen. Im Stadtzentrum gibt es einen Platz, von dem aus eine osmanische Moschee, eine orthodoxe Kirche, eine katholische Kathedrale und eine jüdische Synagoge in nicht mehr als fünf Minuten zu erreichen sind. Eine Markierung auf dem Boden zeigt die alte Stadtgrenze des osmanischen Sarajevo, an dessen vierhundert Jahre alte Markthallen und Gassen eine moderne Einkaufsstraße anschließt: „wo sich Ost und West treffen“ steht auf dem Boden. Das ist sehr plakativ, die Wirklichkeit ist gemischter.
400 Jahre osmanische Herrschaft lassen sich nicht als bloße Besatzung bezeichnen. So war Gazi Husrev Beg, welcher im frühen sechzehnten Jahrhundert eine Art Gouverneur Bosniens war, Sohn eines bosnischen Muslims und einer Sultanstochter. Husrev Beg stiftete eine ganze Reihe von öffentlichen Gebäuden in Sarajevo, wie die nach ihm benannte Moschee, eine Bibliothek, Brunnen, ein Bad und eine religiöse Schule (Madrasa). Die mit seinem Vermögen angelegte Stiftung existiert bis heute und betreibt die genannten Einrichtungen.
Die Moschee liegt inmitten eines belebten Marktviertels, dem am stärksten touristisch geprägten Teil der Stadt. Im Vergleich zu einem türkischen Basar, wie ich ihn zum Beispiel aus Izmir oder Bodrum kenne, geht es hier aber recht geordnet zu. Heute gibt es auch mehr Cafés und Restaurants und Souvenirshops als Handwerker, die ihre eigenen Arbeiten hier früher verkauften. Die schwarz verschleierten Frauen, die mit Einkaufstausche vor ihrem Glas Wasser sitzen, sind in der Regel Touristen aus den Golfstaaten: die Bosnier pflegen einen ziemlich liberalen Islam. Fünfmal am Tag klingen die inbrünstigen Rufe des Muezzin zum Gebet in einer der vielen Moscheen, aber dem Trubel zu Fuße der aus den Dächern hervorragenden Minarette tut dies keinen Abbruch. Es ist so alltäglich wie das ebenfalls gegenwärtige Kirchenglockenläuten; nur dem deutschen Besucher ist es ungewohnt. Religion wird in Sarajevo traditionell als soziale Angelegenheit verstanden: man besucht zusammen den Weihnachtsgottesdienst, gleich welchem Glauben man angehört, und feiert das Ende des Ramadan mit seinen Nachbarn.
Osmanisches Markviertel
Osmanisches Markviertel
Dies ist denn auch der Eindruck, der für mich überwiegt. Oberflächlich wirkt Sarajevo heute wie eine geteilte Stadt. Es gibt zwar keine Grenze, aber wer den bosnisch-kroatischen Teil der Stadt verlässt, wird von einem großen Schild in der Republika Srpska, der bosnisch-serbischen Teilrepublik des Landes begrüßt – auf der Gegenseite gibt es solche Schilder nicht. Serbische Fahnen lassen Zweifel an der Loyalität der Bewohner zum bosnisch-herzegowinischen Gesamtstaat aufkommen. Doch die Kinder gehen in gemischte Schulen, auch wenn es noch an einer gemeinsamen Geschichtsschreibung mangelt.
In der Stadt wie im gesamten Land gibt es ohne Zweifel erhebliche Probleme und anhaltende Streitigkeiten. Das Dayton-Abkommen von 1995 brachte zwar Frieden, aber zementierte auch die ethnische Spaltung des Landes. Sie erschwert das Regieren erheblich. Es gibt drei gleichberechtigte Präsidenten, die sich alle sechs Monate mit dem Vorsitz der Präsidentschaft abwechseln. Jede Volksgruppe hat ihre eigenen Parteien, von denen viele eher die Unterschiede als die Gemeinsamkeiten zwischen Serben, Kroaten und bosnischen Muslimen betonen. „Alles ist besser als Krieg“, kommentiert Mustafa, der Wanderführer, die politische Situation in seinem Land.
Von Italien gestiftetes Denkmal für ein friedliches Zusammenleben der Völker
Von Italien gestiftetes Denkmal für ein friedliches Zusammenleben der Völker
Sarajevos Geschichte hat uns heute viel zu lehren: über Bündnispolitik und Krisenmanagement, über militärische Interventionen, Waffenembargos und gerechten Frieden, über religiöse Vielfalt in einer liberalen Gesellschaft. Mögen wir die richtigen Schlüsse daraus ziehen.

Vom Marinestützpunkt zur Luxusriviera

Die Bucht von Kotor in Montenegro diente bereits in der Antike als Marinestützpunkt. Heute ersetzen Luxusjachten und Kreuzfahrtschiffe das Militär, aber der jahrhundertelange Einfluss fremder Mächte hat viele Spuren hinterlassen.

Bucht von Kotor, gesehen von der Festung St. Johan
Bucht von Kotor, gesehen von der Festung St. Johann
Der Blick war überwältigend. Wie ein Keil roter Dächer ragte 280 Meter unter mir die Altstadt von Kotor in die Meeresbucht hinein. Ein breites, tiefblaues Band zog sich bis zum Horizont, wo der innerste und am besten geschützte Teil der Bucht sich durch eine nur wenige hundert Meter breite Enge zum äußeren Becken der Bucht öffnet. Links und rechts erhoben sich steile Abhänge mit schroffen, herausstehenden Felsen, nur leicht mit Bäumen und Gestrüpp grün gesprenkelt. Ich stand auf den Ruinen der Festung von Sankt Johann (San Giovanni), einer venezianischen Befestigungsanlage, die im 15. Jahrhundert errichtet wurde – an einer Stelle, an der bereits die vorrömischen Illyrer Verteidigungsanlagen errichtet hatten.
Die Bucht von Kotor erinnert an norwegische Fjorde, nur wurde sie nicht durch einen Gletscher, sondern durch einen Fluss geschaffen. Durch ihr tiefes Wasser ist sie bis zum Ende schiffbar für Hochseeschiffe. Zu jugoslawischer Zeit lagen an den steilen Hängen mehrere Militärstützpunkte für Titos Flotte; heute kommen Kreuzfahrtschiffe und Luxusjachten hier rein geschippert. Sandalenbewehrte Touristen und breite Sonnenbrillen tragende Jachteigner schlendern nunmehr durch die engen Gassen Kotors und die neu angelegten Promenaden an der 28 Kilometer langen Bucht. Die allgegenwärtige Strandurlaubsatmosphäre verdeckt nur auf den ersten Blick die tiefen Spuren, welche fremde Mächte über Jahrhunderte hier hinterlassen haben – und die Auseinandersetzung der Montenegriner mit diesen.
Promenade von Tivat
Promenade von Tivat

Untergekommen war ich in Tivat, das mit seinen 14.000 Einwohnern zu den mittelgroßen Städten Montenegros gehört. Zu jugoslawischer Zeit gab es hier eine große Schiffswerft, die jedoch in den 1990er Jahren mit dem Bundesstaat zerfiel. 2006 kaufte dann der kanadische Milliardär Peter Munk die Anlage. Sein Ziel: ein „Monaco an der Adria“ zu schaffen, „Porto Montenegro”. Nach erheblichen Investitionen waren bei meinem Besuch die Ähnlichkeiten unverkennbar: eine breite, extrem saubere und mit ausladenden Palmen gesäumte Promenade, Liegeplätze mit Dutzenden riesiger Jachten, Boutiquen, Hotelanlagen, Tennisplätze, ein Jachtclub, eine internationale Schule, selbst Französisch hörte ich häufiger in der Gegend.

Doch Montenegro ist weit entfernt von dem Reichtum des Stadtstaats Monaco; der durchschnittliche Bruttolohn liegt laut Statistikbehörde gerade einmal bei 755 € (Netto 502 €). Die meisten Bewohner Tivats werden sich die Cocktails, Designerkleidungen und Bootstouren nicht leisten können. So haben die Leute von Tivat ein gespaltenes Verhältnis zur Porto Montenegro. Natürlich sorgt die Anlage für lokales Wachstum, Arbeitsplätze und verbesserte Infrastruktur, aber einige hatten sich den Fortschritt doch irgendwie anders vorgestellt, meinten die Gastgeber in meiner Unterkunft.
Gornja Lastva
Gornja Lastva
Weg von dieser Umgebung führt eine schmale Straße das Bergmassiv Vrmac hinauf, das sich hinter Tivat erhebt. Nachdem ich die Häuser hinter mir gelassen habe, begegnen mir in anderthalb Stunden nicht mehr als eine Handvoll Autos in beiden Richtungen. Etwa 300 Meter über dem Meeresspiegel erreiche ich das Örtchen Gornja Lastva. Schmale, mit Schieferplatten befestige und teilweise überwachsene Wege führen zwischen den Häusern entlang. Ich sehe eine Reihe von zerfallenen Gebäuden, deren Bewohner schon lange weggezogen sind, aber auch einige Häuser, die anscheinend noch weiterhin bewohnt sind – auch wenn die meisten Bewohner mittlerweile ins Tal gezogen sind. Die sechshundert Jahre alte Kirche ist von Weitem zu sehen – in dem Vrmac Massiv zwischen Tivat und Kotor liegen noch mehr verlassene Weiler und sehr alte Kirchen. Am Ortseingang erinnert ein Gedenkstein an die „für Freiheit und Sozialismus 1941-45 gefallenen Soldaten“, darunter sechs mit dem gleichen Nachnamen. Im Zweiten Weltkrieg besetzten die Achsenmächte die adriatische Küste, die Bucht von Kotor wurde von Italien verwaltet. Partisanen kämpften jahrelang und am Ende erfolgreich für die Unabhängigkeit der Region.
Auf dem Weg von Tivat nach Kotor
Auf dem Weg von Tivat nach Kotor

Am nächsten Vormittag nehme ich den Bus nach Kotor. Der alte französische Postbus, in dem ein Schild darauf hinweist, dass Schwarzfahren mit 50 Francs bestraft wird, tuckert die schmale Uferstraße entlang. Die Straße führt in den inneren Teil der Bucht, an deren Ende die namensgebende Stadt liegt. Mit jeder Kurve werden die Felsen am gegenüberliegenden Ufer steiler und die Szenerie dramatischer. Das stark von der venezianischen Herrschaft zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert geprägte Kotor scheint, so formuliert es mein Reiseführer, geradezu aus dem Felsen herauszuwachsen. Dicke Festungsmauern umgeben die Alstadt und über dem Haupttor erinnert eine Tafel mit Tito-Zitat an die Befreiung Kotors im November 1944.

Kotor selbst ist sehr touristisch geprägt. Palazzi und orthodoxe Kirchen dominieren das Stadtbild architektonisch. An einer Stelle zeigt eine Tafel den Ort eines Gefängnisses aus österreich-ungarischer Zeit an. Montenegro wurde 1918 zusammen mit den anderen fünf Teilrepubliken als Mitglied des Königtums Jugoslawiens unabhängig von der zerfallenden Donaumonarchie. Kotor ist ohne Zweifel eine hübsche Stadt, aber die vielen Tourismusagenturen, Restaurants, Cafes und Hotels – und die vielen Gäste der vor Anker liegenden Kreuzfahrtschiffe – lassen die eigentlichen Bewohner der Stadt vermissen. Andererseits  leben die meisten hier vom Tourismus; nicht wenige Montenegriner kommen nur während der Hochsaison her und müssen in ein paar Monaten genug verdienen, um damit über das ganze Jahr zu kommen.
Stausee im Norden Montenegros
Stausee im Norden Montenegros

Montenegro ist nicht nur ein zunehmend beliebtes Urlaubsland im westlichen Balkan; es ist demnächst auch unser militärischer Verbündeter. Im Mai unterzeichneten die 28 NATO-Mitgliedstaaten ein Beitrittsprotokoll mit Montenegro. Wenn alle Mitgliedstaaten dieses ratifiziert haben werden, wird Montenegro in ungefähr einem Jahr Mitglied des Militärbündnisses. Einige befürchten schon, dass dann wieder Marineschiffe in der Bucht von Kotor vor Anker gehen könnten. Gerade einmal 2.000 Menschen gehören dem montenegrinischem Militär an, das über Schiffe aus jugoslawischem Bestand verfügt, über 20 Hubschrauber und Landstreitkräfte. Der Beitritt hat somit eher symbolische Bedeutung. Er zeigt die anhaltende Attraktivität und Offenheit der NATO und er hindert Russland daran, die Bucht von Kotor für eigene militärische Zwecke zu nutzen.

Jenseits der strategischen und historischen Bedeutung des Landes lohnt ein Besuch dieses Flecken Erde vor allem wegen seiner beeindruckenden Landschaft. Dazu zählt nicht nur die Bucht von Kotor, sondern ein Großteil des insgesamt sehr bergigen Landes. Auf dem Weg in den Norden Montenegros fuhr ich an herrlichen Seen, grasbedeckten Ebenen zu Fuße von felsigen Hügeln, langen Stauseen umgeben von dunklen, bewaldeten Hängen und tiefen Schluchten mit kristallklarem Wasser entlang. Hinter der Bucht von Kotor ragen links und rechts der Straße spitze, haushohe Felsen in einer Ebene hervor. Im Durmitor Nationalpark liegt mit der Taraschlucht die zweittiefste Schlucht der Erde, in der ich eine adrenalingeladene Wildwasserfahrt unternahm.
Ein Besuch Montenegros ist also absolut lohnenswert und sollte sich nicht allein auf die touristisch am besten erschlossene Küste begrenzen.