Ein Besuch in Auschwitz

Rampe und Tor vom Lager Auschwitz-Birkenau.

Ein dunkles Augenpaar von einer alten Schwarzweißaufnahme blickt mich direkt an. Es ist Teil des Aufklebers, den jeder Besucher und jede Besucherin der Gedenkstätte von Auschwitz trägt. Mein Aufkleber ist hellblau. Oben steht groß „Deutsch“ drauf. Ich klebe ihn mir aufs Hemd an die Brust, gehe durch die Sicherheitsschranke und stehe in einem weiten Hof mit vielen anderen Menschen. Hinter einem Baum am anderen Ende des Hofs sehe ich bereits den Eingang mit den berüchtigten Worten: Arbeit macht frei.

Nacheinander kommen Menschen mit Namensschildern, halten Schilder hoch und sammeln so ihre jeweilige Gruppe um sich. „Wo kommen Sie her?“ fragt die Führerin, „Sind Leute aus Österreich, der Schweiz oder Holland dabei?“ Ich komme aus Deutschland, aus Berlin noch dazu. Dem Ort, an dem der Plan zur Vernichtung der europäischen Juden entworfen wurde.

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Zuerst wollte ich gar nicht viel über meinen Besuch in Auschwitz sagen. Beiträge auf sozialen Medien wie Instagram, Facebook und Twitter, die ich sonst regelmäßig nutze, schienen mir nicht angemessen zu sein. Bilder von dem Tor und der Rampe des Lagers zwischen Reiseeindrücken und Schnappschüssen – ein Besuch in Auschwitz passt schlecht zur schnellen, oberflächigen Kultur des Likens und Teilens. Unsere Profile dort dienen zu einem erheblichen Teil unserer eigenen Selbstdarstellung, unsere Timelines der ständigen Zerstreuung. Auschwitz verlangt Konzentration und tiefste Demut, erst recht für einen Deutschen.

Aber wir müssen darüber reden, was in Auschwitz geschehen ist, immer und immer wieder. 2,1 Millionen Menschen besuchten die Gedenkstätte letztes Jahr, die meisten von ihnen Jugendgruppen. 76.000 Besucherinnen und Besucher kamen aus Deutschland. Jeder sollte diesen Ort einmal im Leben gesehen haben, höre ich hier mehrfach. Allein schon aus logistischen Gründen ist das kaum möglich – im Sommer gibt es jetzt schon Engen wegen der vielen Besuchergruppen. Umso wichtiger ist es, dass wir, die wir diesen Ort gesehen haben, davon erzählen, so gut wir können.

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Ich besteige am Busbahnhof von Kraków einen Kleinbus nach Oświęcim, das die Nazis bei ihrer Ankunft in Auschwitz umbenannten.  So viele Leute drängen sich in den Bus, dass die letzten im Gang stehen müssen. Ich bin der einzige mit einem Koffer. Der Bus hält an kleinen Orten und fährt durch dunkle Wälder und an weiten Wiesen vorbei. Welche Taten verübten Wehrmacht, SS und Einsatzgruppen in dieser Gegend? Von der ehemaligen Königsstadt Kraków beherrschte, plünderte und drangsalierte NS-Gouverneur Hans Frank das besetzte Polen.

In Oświęcim angekommen laufe ich noch ein Stück von der Haltestelle zu meinem Hotel. Dazu muss ich das abgesperrte Gelände des Stammlagers umrunden. Die SS räumte die gesamte Stadt und die Umgebung, die sie zum sogenannten Interessengebiet erklärte. Erst nach dem Krieg konnten die Bewohner zurückkommen. Auf der abgewandten Seite des Eingangs stehen Mietshäuser. In den Vordergärten spielen Kinder auf Gerüsten. Wie muss es wohl sein, hier zu wohnen? In der Ferne höre ich das Quietschen von Containerzügen.

Wir haben die Studientour gebucht, insgesamt sechs Stunden für das Stammlager und das ein paar Kilometer entfernte Lager Auschwitz-Birkenau, auch Auschwitz II genannt. Die Führerin erklärt, wo das Lagerorchester spielte, zu dessen Märschen die Gefangenen im Rhythmus laufen mussten. Wo der Appellplatz war, zu dem selbst während der Arbeit am Tag gestorbene Menschen gebracht werden mussten. Die Zahlen mussten stimmen, sonst gab es Strafen: stundenlanges Stehen in sommerlicher Hitze oder winterlicher Kälte. Die Stehbunker, in denen mehrere Gefangen in völliger Dunkelheit mit nur kleinen Luftschlitzen für kleinere Vergehen geschickt wurden. Die doppelten Stacheldrahtzäune, die Wachtürme in schwarz gestrichenem Holz und die Stoppschilder zeigen, dass es aus dem Lager kein Entrinnen gab.

Das Stammlager, das früher als Kaserne der polnischen Armee diente, ist praktisch komplett erhalten. Die roten Backsteinhäuser stehen in geraden Reihen, die Wege sind von erst in den letzten Jahrzehnten gepflanzten Bäumen gesäumt, wie schmale Alleen. Es ist herrliches Sommerwetter, nur wenige Wolken verdecken den blauen Himmel und die warme Sonne. Besuchergruppen drängen sich durch die Ausstellungen in den Baracken, und mehrfach müssen wir warten, bevor wir in den nächsten Raum gehen können.

Viele Besucherinnen und Besucher halten ihre Handys und Tablets beständig hoch, um Fotos zu schießen. Mehrmals muss unsere Führerin Leute ermahnen, auf dem Gelände des Konzentrationslagers nichts zu essen. Auch zwei Deutsche aus unserer Gruppe packen ihr Brot in einer Pause aus. „Menschen sind hier massenweise verhungert, wir müssen den Respekt waren,“ sagt sie. Auschwitz ist keine Touristenattraktion wie jede andere.  

Von Station zu Station und von Ausstellung zu Ausstellung hören wir von den Verbrechen, welche die Nazis hier begingen. Von Zahlen, die wir längst kennen, und die dennoch unfassbar bleiben. 1,3 Millionen Menschen waren im Lagerkomplex bis 1945, etwa 1,1 Millionen von ihnen wurden ermordet, an einem einzigen Ort. Über 90% der Opfer waren Juden. Die Menschen litten unter den Unterbringungsbedingungen, der harten körperlichen Arbeit, dem Mangel an Nahrungsmitteln und Hygiene. Die kargen Rationen reichten nicht zum Überleben aus. Auch das Arbeitslager Auschwitz diente letztlich der Vernichtung.

Die wahrscheinlich wirkungsvollste Ausstellung im Stammlager kommt ohne viele Worte aus. Sie zeigt den industriellen Charakter der Todesmaschine Auschwitz. Ankommende Menschen mussten ihr Gepäck zurücklassen, das sie im Glauben, umgesiedelt zu werden, mit vielen Gegenständen des täglichen Bedarfs mitgenommen hatten. Ihr Haar wurde rasiert. Alles verwerteten die Nazis weiter. Mäntel schickten sie an die Ostfront für Soldaten, Haushaltsgegenstände zur Verteilung ins Reich, und aus Haaren ließen sie Matratzen anfertigen.

Große Glasvitrinen zeigen Berge von menschlichem Haar, links und rechts eines Ganges. Andere Vitrinen zeigen die Lederkoffer, die noch die Beschriftungen ihrer Eigentümer tragen, wieder andere Haufen von Schuhen, Brillen, Schuhbürsten und Emailletöpfe. Jeder Gegenstand steht für einen Haushalt und für Menschen mit Persönlichkeit, Erfahrung und Charakter. „Es sind nicht nur Zahlen“, betont die Führerin, die uns auch immer wieder Geschichten von einzelnen Gefangenen aus Auschwitz erzählt.

Hinter einer Glasscheibe liegen Dutzende leere Blechbüchsen. Sie enthielten Zyklon-B, das Gift der Gaskammern. Während die SS die Gaskammern und Krematorien in Auschwitz-Birkenau vor dem Verlassen des Lagers sprengte, ist die erste experimentelle Gaskammer im Stammlager erhalten bzw. rekonstruiert. Das frühere Munitionslager der Kaserne erhielt Öffnungen im Dach, durch die das Gift geschüttet wurde, und direkt daneben, Krematorien. Die Führung geht durch diesen Bau. Innen ist es dunkel, die Menschen drängen sich durch die Räume mit den bloßen Wänden. Nur fünfzig Meter weiter, in Sichtweite, wohnte Lagerkommandant Rudolf Höß mit Frau und Kindern.

Ein Shuttlebus bringt die Gruppen in das wenige Kilometer entfernte Lager Auschwitz-Birkenau. Um ein Vielfaches größer als das Stammlager, vermittelt der Ort einen Eindruck des Ausmaßes der Vernichtung. Schienen führen bis in die Mitte des Lagers, zwischen Baracken, die hier meist aus Holz waren. Ich muss an Fotos denken, die wir in einer Ausstellung gesehen hatten. Man sieht ankommende Juden nach oft tagelanger Fahrt in Viehwaggons mit schwerem Gepäck, das sie noch auf der Rampe zurück lassen mussten. Im Hintergrund zeigen zwei hohe Schornsteine, was sie hier erwartete. Ein anderes zeigt die Selektion noch auf der Rampe. Korrekt gekleidete Offiziere und Ärzte sortieren die Menschen innerhalb von Sekunden. Alte, Kinder, Schwangere, Kranke wurden sofort zu den Gaskammern geschickt.

Die Gaskammern mit angeschlossenen Krematorien hier in Birkenau waren nach dem neusten Stand der Technik mit Lastenaufzügen ausgestattet. Ofen grenzte an Ofen. Sie hatten eine deutlich größere Kapazität als das Krematorium im Stammlager. Es sollten so viele Menschen wie möglich getötet werden.

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Wir sehen und hören viel, was hier geschehen ist. Und doch bleibt es unvorstellbar. Wir sehen die Rampe, die Barracken und die Öfen. Doch das Leid, das hier herrschte, sehen wir nicht. Wir hören von der Konstruktion der Gaskammern, aber die Schreie der Menschen hören wir nicht. Wie riechen auch nicht den Gestank der menschlichen Ausdünstungen in den Unterkünften. Wir fühlen nicht die Schläge der Aufseher und die Enge der hölzernen Pritschen.

Sich vorzustellen, was in Auschwitz passierte, geht gegen jede menschliche Vernunft. Wir kennen Rache oder Neid als Motive für Gewalttaten, auch Abschreckung und Kriegführung. Doch die Shoa lässt sich damit nicht erfassen. Die Shoa war nicht spontan oder aus dem individuellen Hass Einzelner geboren, sondern ein strategisch angelegter Plan zur Vernichtung der europäischen Juden, der auf der ganzen Macht des Staates und tausender von Tätern beruhte.

Das Verbrechen lässt sich nicht aufs Pathologische schieben. Das ist der ganze Abgrund von Auschwitz: dass Menschen dazu fähig sind, Morden zum System zu machen. Was bedeutet angesichts dieser Fähigkeit noch Menschlichkeit?

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Am Ende der Tour zeigt uns die Führerin ein Foto mit zwei Kindern, beide Opfer von Auschwitz. Sie hatten ihr Leben noch vor sich, hatten Träume, Wünsche, Hoffnungen. Das Augenpaar auf dem blauen Aufkleber gehört einem von ihnen.

Mastering pretence – A visit to Northern Cyprus

This photo essay was published on November 12, 2016 on Strife

It’s half past five in the morning, but the fast food restaurant at the airport is already open. This is not your typical American fast food chain however. It’s called “Burger City” and can be found all over the Turkish Republic of Northern Cyprus. To the casual observer, the burgers look strangely familiar. One of our guides during this visit to Northern Cyprus explains why– “’Burger City’ is ‘Burger King’ pretending not to be ‘Burger King.’ It cannot open a restaurant under its own brand in the North because of consumer protests in the South,“ he says. Our guide’s explanation reveals an important feature of Northern Cyprus—the   battle of perceptions. Mastering the art of pretence is a national sport in Northern Cyprus.

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Burger City outlet in Northern Nikosia. © Gerrit Kurtz.

Trying to be a state

Deception is deeply rooted in Northern Cyprus. The statelet in the Eastern Mediterranean is only recognized by Turkey, which has stationed 42,500 troops in the territory. Ever since the abrogation of the power-sharing arrangement by the Greek Orthodox majority in 1963 and the Turkish military intervention in 1974, Cyprus has been divided.

Peace negotiations have been hampered by the unequal status of the of the Republic of Cyprus and the Turkish Republic of Northern Cyprus. The Republic of Cyprus enjoys international legitimacy and full EU membership. The unilateral declaration of a Turkish Cypriot state in Northern Cyprus was an attempt to level the diplomatic playing field. Turkish Cypriots seek to gain politically equal status, even though they only make up about a quarter of the South’s population (313,000 to 1.1 million today).

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Cargo ships at the ancient port of Famagusta only have one (legal) destination: Turkey. © Gerrit Kurtz.

Caught in limbo

Its unrecognised status has skewed the economy of Turkish Cyprus. Green-yellow mandarins and oranges are examples of the delicious produce grown here. But cargo ships in the ancient port of Famagusta cannot deliver these goods anywhere else except through Turkey because of the international embargo imposed on all Northern Cypriot ports and airports following its unilateral declaration of independence in 1983. Heavy regulations also stifle other means  of exporting goods that  would otherwise be possible. Meanwhile, uncertainty about property rights of land occupied after the 1974 Turkish intervention deter large foreign investors and hamper local production.

Since exporting agricultural and manufactured goods remains difficult, the economy depends more on its service sector. Driving along the central coast to the city of Girne/Kyrenia (many of the cities were given Turkish names after the Greeks fled), bright neon signs announce one of the mainstays of the North’s shadowy service economy–casinos. Eighteen casinos bring in money from the Turkish mainland, from where the majority of their customers hail.

Other economic activities are less problematic. The Turkish Cypriots have discovered a perhaps unlikely source of profits: higher education. Twelve universities currently attract around 85,000 students, with only about twenty percent from the island itself. The universities are connected to the Turkish higher education system, and are cheaper and easier to get into compared with European ones. Quality inevitably varies, but as The New York Times reported in 2014, for some foreign students, a degree from a Turkish Cypriot university can serve as a springboard for another degree from a western university. With one billion U.S. Dollars, the university sector as a whole contributes a thirdof Northern Cyprus’ GDP.

A church? A mosque! The Lusignan kings used to be crowned in the majestic St Nicholas church in Famagusta. The Ottomans turned it into a mosque in the 16th century. Not it is known as Lala Mustafa Pasha Mosque. © Gerrit Kurtz.
A church? A mosque! The Lusignan kings used to be crowned in the majestic St Nicholas church in Famagusta. The Ottomans turned it into a mosque in the 16th century. Not it is known as Lala Mustafa Pasha Mosque. © Gerrit Kurtz.

First impressions can be deceptive

Things are not always what they seem. This is also evident in the historical architecture of Northern Cyprus. Many powers have conquered Cyprus throughout its history, contributing towards its rich architectural heritage, which can be found in large Gothic churches in Famagusta and Nikosia. Built in the 13th century by the crusading Lusignan (French) that ruled Cyprus at the time, they seem somewhat at odds with their surrounding landscape. Indeed, they are the southern-most examples of brick-stone Gothic churches. However, they are not churches anymore. When the Ottomans conquered the island in 1571, they turned many of the existing places of worship into mosques. Before arriving at the Lala Mustafa Pasha Mosque in Famagusta, one can hear the call to prayer echoing across the square in front of the building.

A Turkish-funded mosque in Northern Cyprus. © Gerrit Kurtz.
A Turkish-funded mosque in Northern Cyprus. © Gerrit Kurtz.

Yet today, Turkish Cypriots are not very religious; rarely can the mosques in the medieval halls be filled. At a recent evening prayer in Nikosia’s main mosque (that used to be the St Sophia Cathedral), barely thirty people follow the calls of the imam. Across Northern Cyprus, newly built white mosques dot the landscape; smaller ones along the villages, and bigger ones in the cities. These new mosques are a visible sign of the influence of Turkey’s Islamic Justice and Development Party (AKP) government, which has funded many new mosques in the past fifteen years in Northern Cyprus. They usually remain empty.

The Islamic influence sits uncomfortably with the secular Cypriots, who tend to revere the secularist Kemal Atatürk, the founder of modern Turkey. Dozens of statues, busts, and larger-than-life photos of Atatürk attest not so much to the nationalism of Turkish Cypriots, but to their secular, Kemalist antics. Just another sign that first impressions can be deceptive–the display of a Turkish nationalist leader can actually be a sign of tensions with the Turkish mainland.

The division cuts streets in half, but life continues as if nothing happened. Café at the UN Buffer Zone in Southern Nikosia, Republic of Cyprus. © Gerrit Kurtz.
The division cuts streets in half, but life continues as if nothing happened. Café at the UN Buffer Zone in Southern Nikosia, Republic of Cyprus. © Gerrit Kurtz.

Perceptions matter

A Western fast food chain pretending to be a non-branded restaurant, an economy built on  dubious entertainment and higher education industry, churches turned into mosques, and a building boom of new mosques giving the impression of a very pious society–all are related to the status of the Turkish Republic of Northern Cyprus that pretends to be a state, but lacks international recognition. While the two leaders of the Republic of Cyprus and Northern Cyprus have publicly announced that they want to conclude their current negotiations by the end of this year, observers voiced serious questions whether that was possible and whether reunification is a plausible prospect.

Acting as if the situation was temporary but stable has been the North’s practice since the war in 1974. In the meantime, its society has grown more independent. Identities are a matter of construction, as our Turkish Cypriot guide points out: “Towards Turkey, they are more Cypriot, towards the Greeks they are more Turkish, and towards everyone else they are just Turkish Cypriots.“

A bright future? Street in the old town of Northern Nikosia. © Gerrit Kurtz
A bright future? Street in the old town of Northern Nikosia. © Gerrit Kurtz

Gerrit Kurtz is a PhD Candidate at the War Studies Department, King’s College London. He recently attended the Cyprus Course of the Research School on Peace and Conflict Studies by the Peace Research Institute Oslo (PRIO), of which he is a member. His publications can be found at http://www.gerritkurtz.net. 

Die Gegenwart der Geschichte in Sarajevo

Sarajevo Taube Graffiti
„Meine Stadt ist international vor allem für drei Dinge bekannt: die Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinands im Juni 1914, die den Anlass zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs gab; die dreieinhalbjährige Belagerung während der 1990er Jahre und die olympischen Winterspiele von 1984,“ verkündete Neno, freiberuflicher Stadtführer in Sarajevo, der Hauptstadt Bosnien und Herzegowinas. „Ich will euch zeigen, dass es in meiner Stadt noch mehr zu sehen gibt.“
Sagte Neno und führte die gut dreißig Touristen in seiner Gruppe als erstes zu einer „Sarajevo Rose“, einem rot ausgemalten Einschlagskrater der serbischen Artillerie, welcher Zivilisten zum Opfer gefallen waren. Nach Ende der Belagerung wurden rund einhundert dieser Krater in dieser Weise markiert. Sie erinnern noch mehr als zwanzig Jahre nach Ende der Belagerung an die alltäglichen Opfer der Bewohner von Sarajevo.
Den Spuren des Zerfallskrieges Jugoslawiens kann man hier nicht entkommen, schließlich wütete er in Bosnien und Herzegowina mit besonderer Brutalität. Gleichzeitig hat Neno recht: Sarajevo lässt sich nicht nur über Kriege definieren, sondern auch über Jahrhunderte religiöser Toleranz und des friedlichen Zusammenlebens. Diesen Eindruck konnte ich auch während meines Besuchs in der Stadt gewinnen, und er verdient es, weiterverbreitet zu werden. Die historischen Ereignisse in Sarajevo haben gerade in diesen Tagen eine besondere Aktualität.

At this corner, Gavrilo Princip shot Archduke Franz Ferdinand and his wife Sofia on 28 June 1914.
An dieser Ecke fielen die folgenreichsten Schüsse des 20. Jahrhunderts.

Was wäre, wenn
Nach dem Rückzug der Osmanen stand Bosnien und Herzegowina seit 1878 unter der Herrschaft Österreich-Ungarns. Wie die vielen prächtigen Fassaden in der Innenstadt noch heute bezeugen, war dies eine Zeit der Modernisierung. Die Donaumonarchie führte sogar die erste Straßenbahnlinie in ihrem Reich in Sarajevo ein; sie diente später Wien zum Vorbild. Doch die Besatzung stieß auf Widerstand bei nationalistisch gesinnten Serben. Als am 28. Juni 1914 der österreich-ungarische Thronfolger Franz Ferdinand mit seiner Frau Sophia Sarajevo besuchte, witterte der erst 19jährige bosnische Serbe Gavrilo Princip zusammen mit seinen sechs Mitverschwörern seine Chance. Soweit kannte ich die Geschichte, aber Neno erzählte uns die ganze Dramatik des Sommertages vor 102 Jahren, während wir unter einem schattenspendenden Baum schräg gegenüber der Brücke standen, an deren Ecke das Attentat stattfand.
„Von dort hinten kam der offene Wagen mit Franz Ferdinand und seiner Frau angefahren“, sagte er, während er auf die Uferstraße den Fluss hinunter wies. Links und rechts winkten dem Paar Schaulustige zu, als es knallte. Ein Attentäter hatte eine Bombe auf die Wagenkolonne des Thronfolgers geworfen. Er traf aber nur einen Begleitwagen. Mit Hochgeschwindigkeit fuhr der Wagen mit Franz Ferdinand die wenigen hundert Meter weiter zum Rathaus, wo er offizielle Treffen hatte. Dort angekommen verkündete Franz Ferdinand, das Treffen kurz zu halten und möglichst bald zurück zu fahren, um die Verwundeten im Krankenhaus zu besuchen.
Derweil setzte sich Princip in ein Café an der Straße, an welcher der Wagen gerade an ihm vorbeigesaust war. Wegen des allgemeinen Chaos und der Geschwindigkeit des Wagens hatte Princip nicht schießen können. So trank er jetzt frustriert einen Kaffee. Das Attentat schien gescheitert.
Doch kaum hatte er sich versehen, stand plötzlich der Wagen direkt vor ihm auf der Straße. Der Fahrer hatte angehalten, weil er nicht wusste, dass Franz Ferdinand zum Krankenhaus fahren wollte und nun wenden musste. Kurz entschlossen nahm Princip seine Pistole und erschoss Thronfolger und Gemahlin. Sie verbluteten noch am selben Tag.
Das Attentat führte zur sogenannten Julikrise 1914 – Österreich-Ungarn erklärte Serbien den Krieg, welches zum Kriegseintritt fast aller weiteren europäischen Mächte aufgrund ihrer Bündnisverpflichtungen führte. Der Erste Weltkrieg begann.

Holiday Inn Hotel, aus dem die ersten Schüsse des Bürgerkriegs fielen
Holiday Inn Hotel, aus dem die ersten Schüsse des Bürgerkriegs fielen

Leben unter Belagerung

78 Jahre später begann ein neuer Krieg in Sarajevo. Am 5. April 1992, wenige Wochen nachdem eine Mehrheit für die Unabhängigkeit der früheren jugoslawischen Teilrepublik gestimmt hatte, versammelte sich eine Menschenmenge in Sarajevo, um gegen den heraufziehenden Krieg zu demonstrieren. Als sie am Parlament vorbeizogen, flogen Schüsse aus dem Holiday Inn Hotel auf die Demonstranten und töteten zwei Menschen. Kurze Zeit später blockierten bosnisch-serbische Einheiten alle Zugänge zur Stadt, die in einem Kessel liegt, und der bosnische Bürgerkrieg begann. Die bosnischen Serben zerstörten bald die Hauptpost, die auch die Zentrale für alle Telefonverbindungen der Stadt war, und ein wichtiges Kraftwerk. Fortan gab es kaum Elektrizität. Wasser, das elektrische Pumpen benötigte um in die Haushalte zu gelangen, konnte fortan nur noch per Lastwagen geliefert werden. Die Belagerung der Stadt hielt 44 Monate lang an und wurde damit zur längsten Belagerung des 20. Jahrhunderts.
Auch mehr als 20 Jahre nach Ende des Bürgerkriegs kann man über Sarajevo nicht sprechen ohne die Belagerung zu erwähnen. Zu viele Häuser, insbesondere außerhalb des unmittelbaren Stadtzentrums, weisen noch Einschusslöcher und Spuren von Schrapnell auf. Überall finden sich Plaketten und Monumente für die Opfer: mehr als 11.000 Tote sind namentlich bekannt. Ich hatte zur Einstimmung  ein Buch über das tägliche Leben der Bewohner einer Straße in Sarajevo gelesen („Besieged“ von der BBC-Journalistin Barbara Demick, die immer wieder während des Krieges Zeit in der Stadt verbrachte). Dank Demicks eindringlicher Schilderung nahm ich auf diese Weise einige Orte besonders war. Da ist die mittlerweile vollständig sanierte Markthalle, in deren Nähe sich zwei der größten Massaker der Belagerung ereigneten. Die Brauerei, deren deutschsprachiges Schild auf ihre Errichtung zu österreich-ungarischer Zeit verweist, produzierte nicht nur den ganzen Krieg hindurch sein frisches Pils, sondern funktionierte vor allem als Verteilerstelle von Frischwasser, da sie über eine eigene Wasserquelle verfügt.

Monument für humanitäre Hilfe während der Belagerung
Monument für humanitäre Hilfe während der Belagerung

In einem Museum sah ich die Ofen, welche viele der Bewohner Sarajevos sich selbst zusammen zimmerten und darin nach und nach alles verbrannten, was warm hielt: Regalbretter, Parkbänke, Plastikmüll, und irgendwann auch Bücher. Die Stadt ist umringt von dicht bewaldeten Hügeln, aber diese wurden allesamt von serbischen Einheiten kontrolliert. Hinter dem Museum steht eine überdimensionierte Dose mit konserviertem Rindfleisch auf einem Sockel: ein Denkmal für die humanitären Hilfslieferungen, welche die Vereinten Nationen während der Belagerung über den Flughafen in die Stadt bringen konnten. Dazu zählten auch Kekse und Trockenfleisch aus den 1970er Jahren: Restbestände der US-Armee aus Zeiten des Vietnamkrieges. Zusätzlich bauten einige Menschen selbst Gemüse an; ein Paar in der Logavinastraße, von der das Buch handelt, riss dafür seine Garageneinfahrt auf: angesichts unerschwinglicher Benzinpreise würden sie das Auto ohnehin nicht benutzen.
Das Leben spielte sich drinnen ab: „Ich habe mehre Jahre meiner Kindheit im Keller unseres Wohnhauses verbracht“, erzählte Neno. Draußen drohten Scharfstützen und Artillerieeinschläge. Unterricht gab es trotzdem, soweit es ging, und nicht sehr häufig. Mit kleinen Gesten zeigten die Menschen ihren Widerstand. Frauen trugen Make-up und Stöckelschuhe, wenn sie Wasser holten. Aus den Vietnamkeksen und Grundnahrungsmitteln ersannen sie Kriegsrezepte für Kuchen. In einem Dokumentarfilm aus der Zeit, den eine Ausstellung zeigte, spielten vielleicht zehnjährige Kinder mit großer Fantasie in einem zerschossenen Auto. „Welche Radiostation willst du hören?“ fragen sie in fließendem Englisch den Filmemacher und fangen an Lieder verschiedener Genres zu singen: „Country? Rock’n Roll? Italienische Musik?”

Tunnel Museum
Tunnel Museum

Der einzige offizielle Zugang zur belagerten Stadt war der Flughafen, welchen Friedenstruppen der Vereinten Nationen kontrollierten. Allerdings mussten diese sicherstellen, dass keine Menschen über den Flughafen fliehen oder diesen für militärische Zwecke verwerden. So errichtete das bosnische Militär einen 800 Meter langen Tunnel, der unter dem Flughafengelände hindurch führte. Auf diese Weise konnten Lebensmittel, militärisches Material, und vor allem Soldaten in die Stadt kommen. Viele junge männliche Bewohner Sarajevos wurden zur Armee eingezogen und kämpften an der nahe gelegenen Front, durften aber alle ein bis zwei Wochen nach Hause. Unser Wanderführer, mit dem ich an einem Tag eine Wanderung an der Grenze zu Montenegro machte, gehörte auch dazu. Er berichtete uns, wie er den niedrigen Tunnel hunderte Male durchquert habe und in den Wäldern Ostbosniens kämpfte – ohne verletzt zu werden. Dabei war die bosnische Armee vollkommen unterbewaffnet: mehrere Leute teilten sich ein Gewehr, während die Serben alle 35 Meter einen Panzer oder Mörser um Sarajevo stationiert hatten.
Der größte Teil des Tunnels ist heute eingestürzt, aber ein etwa fünfundzwanzig Meter langer Teil lässt sich durchqueren. Der Zugang liegt unter einem Wohnhaus – der Tunnel war ein militärisches Geheimnis, auch wenn die bosnischen Serben davon wussten: das Haus ist überseht mit Einschusslöchern.

Gazi Husrev Beg Moschee
Gazi Husrev Beg Moschee

„Wo sich Ost und West treffen”

Die allgegenwärtigen Kriegsspuren schafften es dennoch nicht, den Geist der Stadt zu brechen. Die Berichte über ethnische Auseinandersetzungen während des Jugoslawienkrieges täuschen leicht darüber hinweg, aber Sarajevo ist stets eine multikulturelle, multireligiöse Stadt gewesen. Im Stadtzentrum gibt es einen Platz, von dem aus eine osmanische Moschee, eine orthodoxe Kirche, eine katholische Kathedrale und eine jüdische Synagoge in nicht mehr als fünf Minuten zu erreichen sind. Eine Markierung auf dem Boden zeigt die alte Stadtgrenze des osmanischen Sarajevo, an dessen vierhundert Jahre alte Markthallen und Gassen eine moderne Einkaufsstraße anschließt: „wo sich Ost und West treffen“ steht auf dem Boden. Das ist sehr plakativ, die Wirklichkeit ist gemischter.
400 Jahre osmanische Herrschaft lassen sich nicht als bloße Besatzung bezeichnen. So war Gazi Husrev Beg, welcher im frühen sechzehnten Jahrhundert eine Art Gouverneur Bosniens war, Sohn eines bosnischen Muslims und einer Sultanstochter. Husrev Beg stiftete eine ganze Reihe von öffentlichen Gebäuden in Sarajevo, wie die nach ihm benannte Moschee, eine Bibliothek, Brunnen, ein Bad und eine religiöse Schule (Madrasa). Die mit seinem Vermögen angelegte Stiftung existiert bis heute und betreibt die genannten Einrichtungen.
Die Moschee liegt inmitten eines belebten Marktviertels, dem am stärksten touristisch geprägten Teil der Stadt. Im Vergleich zu einem türkischen Basar, wie ich ihn zum Beispiel aus Izmir oder Bodrum kenne, geht es hier aber recht geordnet zu. Heute gibt es auch mehr Cafés und Restaurants und Souvenirshops als Handwerker, die ihre eigenen Arbeiten hier früher verkauften. Die schwarz verschleierten Frauen, die mit Einkaufstausche vor ihrem Glas Wasser sitzen, sind in der Regel Touristen aus den Golfstaaten: die Bosnier pflegen einen ziemlich liberalen Islam. Fünfmal am Tag klingen die inbrünstigen Rufe des Muezzin zum Gebet in einer der vielen Moscheen, aber dem Trubel zu Fuße der aus den Dächern hervorragenden Minarette tut dies keinen Abbruch. Es ist so alltäglich wie das ebenfalls gegenwärtige Kirchenglockenläuten; nur dem deutschen Besucher ist es ungewohnt. Religion wird in Sarajevo traditionell als soziale Angelegenheit verstanden: man besucht zusammen den Weihnachtsgottesdienst, gleich welchem Glauben man angehört, und feiert das Ende des Ramadan mit seinen Nachbarn.

Osmanisches Markviertel
Osmanisches Markviertel

Dies ist denn auch der Eindruck, der für mich überwiegt. Oberflächlich wirkt Sarajevo heute wie eine geteilte Stadt. Es gibt zwar keine Grenze, aber wer den bosnisch-kroatischen Teil der Stadt verlässt, wird von einem großen Schild in der Republika Srpska, der bosnisch-serbischen Teilrepublik des Landes begrüßt – auf der Gegenseite gibt es solche Schilder nicht. Serbische Fahnen lassen Zweifel an der Loyalität der Bewohner zum bosnisch-herzegowinischen Gesamtstaat aufkommen. Doch die Kinder gehen in gemischte Schulen, auch wenn es noch an einer gemeinsamen Geschichtsschreibung mangelt.
In der Stadt wie im gesamten Land gibt es ohne Zweifel erhebliche Probleme und anhaltende Streitigkeiten. Das Dayton-Abkommen von 1995 brachte zwar Frieden, aber zementierte auch die ethnische Spaltung des Landes. Sie erschwert das Regieren erheblich. Es gibt drei gleichberechtigte Präsidenten, die sich alle sechs Monate mit dem Vorsitz der Präsidentschaft abwechseln. Jede Volksgruppe hat ihre eigenen Parteien, von denen viele eher die Unterschiede als die Gemeinsamkeiten zwischen Serben, Kroaten und bosnischen Muslimen betonen. „Alles ist besser als Krieg“, kommentiert Mustafa, der Wanderführer, die politische Situation in seinem Land.

Von Italien gestiftetes Denkmal für ein friedliches Zusammenleben der Völker
Von Italien gestiftetes Denkmal für ein friedliches Zusammenleben der Völker

Sarajevos Geschichte hat uns heute viel zu lehren: über Bündnispolitik und Krisenmanagement, über militärische Interventionen, Waffenembargos und gerechten Frieden, über religiöse Vielfalt in einer liberalen Gesellschaft. Mögen wir die richtigen Schlüsse daraus ziehen.

Vom Marinestützpunkt zur Luxusriviera

Die Bucht von Kotor in Montenegro diente bereits in der Antike als Marinestützpunkt. Heute ersetzen Luxusjachten und Kreuzfahrtschiffe das Militär, aber der jahrhundertelange Einfluss fremder Mächte hat viele Spuren hinterlassen.

Bucht von Kotor, gesehen von der Festung St. Johan
Bucht von Kotor, gesehen von der Festung St. Johann

Der Blick war überwältigend. Wie ein Keil roter Dächer ragte 280 Meter unter mir die Altstadt von Kotor in die Meeresbucht hinein. Ein breites, tiefblaues Band zog sich bis zum Horizont, wo der innerste und am besten geschützte Teil der Bucht sich durch eine nur wenige hundert Meter breite Enge zum äußeren Becken der Bucht öffnet. Links und rechts erhoben sich steile Abhänge mit schroffen, herausstehenden Felsen, nur leicht mit Bäumen und Gestrüpp grün gesprenkelt. Ich stand auf den Ruinen der Festung von Sankt Johann (San Giovanni), einer venezianischen Befestigungsanlage, die im 15. Jahrhundert errichtet wurde – an einer Stelle, an der bereits die vorrömischen Illyrer Verteidigungsanlagen errichtet hatten.
Die Bucht von Kotor erinnert an norwegische Fjorde, nur wurde sie nicht durch einen Gletscher, sondern durch einen Fluss geschaffen. Durch ihr tiefes Wasser ist sie bis zum Ende schiffbar für Hochseeschiffe. Zu jugoslawischer Zeit lagen an den steilen Hängen mehrere Militärstützpunkte für Titos Flotte; heute kommen Kreuzfahrtschiffe und Luxusjachten hier rein geschippert. Sandalenbewehrte Touristen und breite Sonnenbrillen tragende Jachteigner schlendern nunmehr durch die engen Gassen Kotors und die neu angelegten Promenaden an der 28 Kilometer langen Bucht. Die allgegenwärtige Strandurlaubsatmosphäre verdeckt nur auf den ersten Blick die tiefen Spuren, welche fremde Mächte über Jahrhunderte hier hinterlassen haben – und die Auseinandersetzung der Montenegriner mit diesen.

Promenade von Tivat
Promenade von Tivat

Untergekommen war ich in Tivat, das mit seinen 14.000 Einwohnern zu den mittelgroßen Städten Montenegros gehört. Zu jugoslawischer Zeit gab es hier eine große Schiffswerft, die jedoch in den 1990er Jahren mit dem Bundesstaat zerfiel. 2006 kaufte dann der kanadische Milliardär Peter Munk die Anlage. Sein Ziel: ein „Monaco an der Adria“ zu schaffen, „Porto Montenegro”. Nach erheblichen Investitionen waren bei meinem Besuch die Ähnlichkeiten unverkennbar: eine breite, extrem saubere und mit ausladenden Palmen gesäumte Promenade, Liegeplätze mit Dutzenden riesiger Jachten, Boutiquen, Hotelanlagen, Tennisplätze, ein Jachtclub, eine internationale Schule, selbst Französisch hörte ich häufiger in der Gegend.

Doch Montenegro ist weit entfernt von dem Reichtum des Stadtstaats Monaco; der durchschnittliche Bruttolohn liegt laut Statistikbehörde gerade einmal bei 755 € (Netto 502 €). Die meisten Bewohner Tivats werden sich die Cocktails, Designerkleidungen und Bootstouren nicht leisten können. So haben die Leute von Tivat ein gespaltenes Verhältnis zur Porto Montenegro. Natürlich sorgt die Anlage für lokales Wachstum, Arbeitsplätze und verbesserte Infrastruktur, aber einige hatten sich den Fortschritt doch irgendwie anders vorgestellt, meinten die Gastgeber in meiner Unterkunft.

Gornja Lastva
Gornja Lastva

Weg von dieser Umgebung führt eine schmale Straße das Bergmassiv Vrmac hinauf, das sich hinter Tivat erhebt. Nachdem ich die Häuser hinter mir gelassen habe, begegnen mir in anderthalb Stunden nicht mehr als eine Handvoll Autos in beiden Richtungen. Etwa 300 Meter über dem Meeresspiegel erreiche ich das Örtchen Gornja Lastva. Schmale, mit Schieferplatten befestige und teilweise überwachsene Wege führen zwischen den Häusern entlang. Ich sehe eine Reihe von zerfallenen Gebäuden, deren Bewohner schon lange weggezogen sind, aber auch einige Häuser, die anscheinend noch weiterhin bewohnt sind – auch wenn die meisten Bewohner mittlerweile ins Tal gezogen sind. Die sechshundert Jahre alte Kirche ist von Weitem zu sehen – in dem Vrmac Massiv zwischen Tivat und Kotor liegen noch mehr verlassene Weiler und sehr alte Kirchen. Am Ortseingang erinnert ein Gedenkstein an die „für Freiheit und Sozialismus 1941-45 gefallenen Soldaten“, darunter sechs mit dem gleichen Nachnamen. Im Zweiten Weltkrieg besetzten die Achsenmächte die adriatische Küste, die Bucht von Kotor wurde von Italien verwaltet. Partisanen kämpften jahrelang und am Ende erfolgreich für die Unabhängigkeit der Region.

Auf dem Weg von Tivat nach Kotor
Auf dem Weg von Tivat nach Kotor

Am nächsten Vormittag nehme ich den Bus nach Kotor. Der alte französische Postbus, in dem ein Schild darauf hinweist, dass Schwarzfahren mit 50 Francs bestraft wird, tuckert die schmale Uferstraße entlang. Die Straße führt in den inneren Teil der Bucht, an deren Ende die namensgebende Stadt liegt. Mit jeder Kurve werden die Felsen am gegenüberliegenden Ufer steiler und die Szenerie dramatischer. Das stark von der venezianischen Herrschaft zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert geprägte Kotor scheint, so formuliert es mein Reiseführer, geradezu aus dem Felsen herauszuwachsen. Dicke Festungsmauern umgeben die Alstadt und über dem Haupttor erinnert eine Tafel mit Tito-Zitat an die Befreiung Kotors im November 1944.

Kotor selbst ist sehr touristisch geprägt. Palazzi und orthodoxe Kirchen dominieren das Stadtbild architektonisch. An einer Stelle zeigt eine Tafel den Ort eines Gefängnisses aus österreich-ungarischer Zeit an. Montenegro wurde 1918 zusammen mit den anderen fünf Teilrepubliken als Mitglied des Königtums Jugoslawiens unabhängig von der zerfallenden Donaumonarchie. Kotor ist ohne Zweifel eine hübsche Stadt, aber die vielen Tourismusagenturen, Restaurants, Cafes und Hotels – und die vielen Gäste der vor Anker liegenden Kreuzfahrtschiffe – lassen die eigentlichen Bewohner der Stadt vermissen. Andererseits  leben die meisten hier vom Tourismus; nicht wenige Montenegriner kommen nur während der Hochsaison her und müssen in ein paar Monaten genug verdienen, um damit über das ganze Jahr zu kommen.

Stausee im Norden Montenegros
Stausee im Norden Montenegros

Montenegro ist nicht nur ein zunehmend beliebtes Urlaubsland im westlichen Balkan; es ist demnächst auch unser militärischer Verbündeter. Im Mai unterzeichneten die 28 NATO-Mitgliedstaaten ein Beitrittsprotokoll mit Montenegro. Wenn alle Mitgliedstaaten dieses ratifiziert haben werden, wird Montenegro in ungefähr einem Jahr Mitglied des Militärbündnisses. Einige befürchten schon, dass dann wieder Marineschiffe in der Bucht von Kotor vor Anker gehen könnten. Gerade einmal 2.000 Menschen gehören dem montenegrinischem Militär an, das über Schiffe aus jugoslawischem Bestand verfügt, über 20 Hubschrauber und Landstreitkräfte. Der Beitritt hat somit eher symbolische Bedeutung. Er zeigt die anhaltende Attraktivität und Offenheit der NATO und er hindert Russland daran, die Bucht von Kotor für eigene militärische Zwecke zu nutzen.

Jenseits der strategischen und historischen Bedeutung des Landes lohnt ein Besuch dieses Flecken Erde vor allem wegen seiner beeindruckenden Landschaft. Dazu zählt nicht nur die Bucht von Kotor, sondern ein Großteil des insgesamt sehr bergigen Landes. Auf dem Weg in den Norden Montenegros fuhr ich an herrlichen Seen, grasbedeckten Ebenen zu Fuße von felsigen Hügeln, langen Stauseen umgeben von dunklen, bewaldeten Hängen und tiefen Schluchten mit kristallklarem Wasser entlang. Hinter der Bucht von Kotor ragen links und rechts der Straße spitze, haushohe Felsen in einer Ebene hervor. Im Durmitor Nationalpark liegt mit der Taraschlucht die zweittiefste Schlucht der Erde, in der ich eine adrenalingeladene Wildwasserfahrt unternahm.
Ein Besuch Montenegros ist also absolut lohnenswert und sollte sich nicht allein auf die touristisch am besten erschlossene Küste begrenzen.

Von fliegenden Walen und einem Wald aus Blumen

London erlebt sein erstes Lichtfestival
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In Berlin erstrahlen jedes Jahr Unter den Linden und das Brandenburger Tor sowie einige weitere öffentliche Orte in bunten Farben. Vergangenes Wochenende konnte nun auch London in sein erstes Lichtfestival eintauchen. Die Weltstadt verwandelte sich in ein Reich der Phantasie, bevölkert von den bezaubernden Schöpfungen internationaler Lichtkünstler.

Mein Besuch begann am Trafalgar Square, dem Herz der ehemaligen Kolonialmacht mit Statuen für General Havelock, der den indischen Aufstand 1857 niederschlug, und den ehemaligen Verwaltungssitzungen kolonialer Regierungen von Kanada, Südafrika, Nigeria und Australien in der näheren Umgebung. Einer der beiden zentralen Brunnen auf dem Platz war geschmückt mit einem Ring aus Licht. Bei näherem Hinsehen wurde deutlich, dass die Installation aus allerlei Plastikflaschen bestand, dem schwer vergänglichen Müll moderner Gesellschaften. Der Anblick erinnerte mich an Straßenseiten in Delhi, Puri oder Juba; eine Müllquelle und Umweltverschmutzung wurde sichtbar, die sonst den meisten Menschen hier in Europa in ihren Auswirkungen verborgen bleibt.

Den Menschenmengen folgend lief ich weiter zum Leicester Square mitten im Vergnügungsviertel Londons mit seinen Kinos, Theatern und Restaurants. Die kleine Parkfläche des Platzes war verwandelt in eine Szene aus Alice im Wunderland. Überlebensgroße Blumen und Pflanzen formten einen regelrechten Lichterwald. Neongrüne Gräser erhoben sich links und rechts des Weges, Blüten hingen herab wie Glocken und rote Spitzen krönten die gigantischen Graspflanzen.

Immer enger schoben sich die Zuschauerinnen und Zuschauer – das viertägige Festival kam trotz Temperaturen nur wenig über dem Gefrierpunkt sehr gut an. Es ging Richtung Einkaufsviertel. Piccadilly Circus ist zu normalen Zeiten schon sehr belebt, nun ging es nur noch langsam voran. Grell blendeten die Leuchtreklamen von Londons Version vom New Yorker Times Square.

Doch heute Abend spielte der Kommerz nur zweite Geige. Der Platz bietet eine beeindruckende Kulisse viktorianischer Prachtbauten, deren angestrahlte Schmuckfassaden sich in den anschließenden Straßen fortsetzen. Es war eine gebührende Bühne für meinen persönlichen Höhepunkt von London Lumiere. Der majestätische Anblick dieses Kunstwerk aus Form, Farben und Musik ließ erwachsene Menschen verstummen und mit offenem Mund gen Himmel blicken.

Drei meterlange Wal-artige Figuren mit breiten Flügeln und langgezogenem Schwanz flogen über der gekrümmten Straße. Zu mal spielerischer, mal sphärenhafter Geigen- und Klaviermusik flatterten diese Giganten der Lüfte zwischen den Häusern. Durch die ständige Bewegung mit Steuerungsseilen vom Boden erschien es so, als schwämmen die Wale über den Köpfen der Menschen. Rauf und runter, vor und zurück, von Häuserwand zu Häuserwand bogen sie sich in gemächlichen Bewegungen und wechselten dabei ihre Farben. Der sichelförmige Mond, der sich über den Ballonwalen erhob, vervollständigte die magische Atmosphäre.

Dass eine Installation in London, die naturgemäß zuerst Besucherinnen und Besucher: sprich Konsumentinnen und Konsumenten, Touristinnen und Touristen anziehen soll, überhaupt solch eine Wirkung entfalten kann, ist nicht selbstverständlich. London ist zur globalen Marke geworden, seine Sehenswürdigkeiten werden zu Hunderten in Souvenirshops als Modelle, auf T-Shirts und Postkarten verkauft und sind aus allen erdenklichen Winkeln abgeknipst und auf Festplatten und in Photobüchern festgehalten. Londons Einkaufsstraßen sind voller Geschäfte internationaler Ketten, Cafés und Restaurants sind häufig austauschbar. Wachwechsel vor Buckingham Palace oder der Geburtstag der Königin sind vor allem Schauspiele für Touristinnen und Touristen. Die Stadt und ihre Bevölkerung haben schon so viel gesehen, in ständiger Wiederholung.

Kunst, so heißt es in den Zielen des Kreativunternehmens Artichoke, welches das Festival organisierte, soll den prosaischen Alltag durchbrechen und „eine Welt erschaffen, in der wir alle gern leben würden.“ Die über dreißig Lichtinstallationen boten Raum zum Staunen, Nachdenken, und manchmal gar zum Schwärmen. Die dadurch gewonnene Inspiration kann vielleicht in der Tat den Möglichkeitsraum schaffen, in dem neues Denken für eine bessere Welt entstehen kann.

P.S.: Hier sind ein paar Photos vom Festival: https://www.flickr.com/photos/gerritkurtz/albums/72157663668637065

Fragiler Schutz

Bei der UN-Friedensmission im Südsudan

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Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog Junge UN-Forschung.

Gedrungene, dunkelgrüne Bäume sprenkeln die weite Ebene unter uns, die sich kaum zu einer Ansammlung verdichten, welche die Bezeichnung Wald verdiente. Nur selten tauchen strohbedeckte Hüttenrunden in dem Muster auf, begleitet von weißen Punkten: Kühe sind das Ein und Alles hier: Lebensunterhalt, Statussymbol, Konfliktanlass.

Ich bin im Südsudan, dem jüngsten Staat der Erde. Den weißen Nil immer im Blick befinden wir uns im Anflug auf Bor, die Landeshauptstadt von Jonglei, dem bevölkerungsreichsten Bundesstaat des Landes. Im weißen UN-Helikopter sitzen sich Offiziere und Zivilisten aus Indien, Australien, der Schweiz und anderen Ländern gegenüber. Meine beiden Kollegen und ich wollen in den kommenden Tagen herausfinden, wie die UN Mission im Südsudan (kurz UNMISS) zur Bearbeitung lokaler Konflikte beiträgt. Dafür besuchen wir zivile Teams an drei Standorten; Bor ist unser erster Stopp.

Sanft setzt der Hubschrauber auf dem planierten, nicht geteerten Rollfeld auf. Kaum ausgestiegen begrüßt uns Erik, ein gut gelaunter Endfünfziger aus Schweden, der uns in den kommenden Tagen auf vielen Treffen begleiten wird. Die Vereinten Nationen haben ihr Camp direkt gegenüber vom Flughafen errichtet. In immer-gleichen weißen Containern arbeiten und schlafen die Mitarbeiter der Mission. Um die Büros und Wohneinheiten herum haben die militärischen Kontingente ihre Lager aufgeschlagen. Neben Offizieren und kleineren Einheiten aus vielen verschiedenen Ländern sind das vor allem vier Länder: ein indisches und ein äthiopisches Bataillon, eine koreanische Ingenieurseinheit und ein sri lankisches Militärkrankenhaus. Insgesamt sind im dem Land, das ungefähr so groß wie Frankreich ist, über 11.200 Soldaten für die Vereinten Nationen stationiert, dazu etwa 2.300 zivile Mitarbeiter und 1.100 Polizeikräfte.

Seit der Unabhängigkeit im Juli 2011 hatte der Südsudan kaum Zeit, zur Ruhe zu kommen. Insbesondere in Jonglei fanden wiederholt Kämpfe zwischen bewaffneten Gruppen und Regierungseinheiten statt. Bewegungen von Militäreinheiten sind dabei weitgehend auf die vielleicht viermonatige Trockenzeit begrenzt. Wenn es anfängt, dauerhaft zu regnen in dieser sumpfigen, flachen Gegend, werden weite Gebiete überschwemmt. Der Boden wird derart zäh, dass kein landgetriebenes Fahrzeug durchkommen kann. Selbst mit Gummistiefeln bleibe man häufig stecken: im Grunde könne man in solchen Situationen nur barfuß laufen, hatte uns ein ehemaliger UN-Mitarbeiter in Berlin erzählt.

Das gesamte Land stürzte in eine tiefe Krise, als am 15. Dezember 2013 ein Machtkampf zwischen dem Präsidenten Salva Kiir und seinem langjährigen Weggefährten und ehemaligen Vizepräsidenten Riek Machar außer Kontrolle geriet. Binnen kürzester Zeit nahm der politische Streit eine ethnische Dimension an, da Kiir und Machar unterschiedlichen Volksgruppen angehören und diese innerhalb der Regierungsarmee mobilisierten. Im Zuge dessen töteten Einheiten, welche der Gruppe des Präsidenten angehören (Dinka), Zivilisten der Nuer in Juba, welche sie der Sympathie mit dem als Putschisten geschassten Machar beschuldigten. Innerhalb weniger Tage weitete sich der Konflikt auf andere Teile des Landes aus; Gegenden, in denen viele Nuer leben, wurden zur Basis der bewaffneten Opposition unter Machar. Auch in Bor fanden heftige Kämpfe statt. Die Stadt wechselte die Kontrolle zwischen Regierung und Opposition viermal innerhalb weniger Wochen.

In den umkämpften Gebieten fürchteten viele Menschen um ihr Leben. Ihre eigene Regierung wandte sich gegen sie. Wo würden sie noch sicher sein? Die blaue Fahne der Vereinten Nationen versprach Rettung. Zu tausenden strömten Menschen im Dezember 2013 zu den Lagern der UN-Mission. Vor die Wahl gestellt, verantwortlich für die Versorgung von tausenden von Menschen zu sein oder zuzusehen, wie diese vor ihren Augen abgeschlachtet würden, ordnete die damalige Leiterin von UNMISS, die Norwegerin Hilde Johnson, an, die Tore zu öffnen. Auch das Lager in Bor öffnete seine Tore. „Am ersten Tag kamen 2.000, am zweiten waren es bereits 16.000 Menschen auf unserem Gelände“, erzählt uns ein UN-Mitarbeiter an unserem ersten Abend. „Wir waren nicht dafür ausgerüstet. Wir hatten kein Essen, keine Unterkünfte für diese Menschen.“ Wegen der Kämpfe wurden gleichzeitig viele Mitarbeiter von Hilfsorganisationen evakuiert: „Wir waren auf uns selbst gestellt in den ersten Tagen“, sagt er.

Anderthalb Jahre später sind viele Flüchtlinge immer noch da. Mittlerweile versorgen die Vereinten Nationen etwa 130.000 Menschen auf dem Gelände ihrer Stützpunkte im Südsudan (in Bor sind es noch etwa 2.400). Nie zuvor in ihrer Geschichte hat die Organisation so viele Personen über so einen langen Zeitraum direkt geschützt.

Straße zwischen Bor Town und den UNMISS Lager. Hier kam der gewaltsame Mob am 17. April 2014 entlang.

Am nächsten Morgen fahren wir mit Erik die breite Straße runter in die Stadt. Kühe säumen den Weg, Büros von internationalen Hilfsorganisationen und verlassene Villen lokaler Größen. Die meisten Einwohner von Bor wohnen in traditionellen Lehmhütten, die über ein weites Gebiet um die Hauptstraßen verteilt sind. Im Zentrum brummen Marktstände mit Leben, deren Auswahl allerdings auf wenige Güter wie Reis, Bohnen, Mehl, Tomaten, Zwiebeln, Okraschoten und weitere weitgehend importierte Güter beschränkt ist. Dazu kommt die hohe Inflation – ein kleines Bündel Zwiebel kostet schon mal 25 südsudanesische Pfund, über zwei Euro.

Wir treffen einen Minister der Landesregierung, der zum Einstieg betont, es gäbe keine Konflikte mehr in Jonglei, nur noch ab und an kriminelle Aktivitäten. Ja, die Rebellen kontrollieren einen erheblichen Teil im Norden von Jonglei, aber im Grunde ginge es dabei nur um politische Macht in der Zentralregierung in Juba. „Wir wollen Botschaften des Friedens im gesamten Land verbreiten“, sagt er. Wie ernst er es damit meint, bleibt unklar.

Die Wunden sitzen tief, gerade hier in Bor. Die Regierungsarmee vertrieb die Opposition aus der Stadt, was Flüchtlingen anderer Ethnien und nationaler Herkunft erlaubte, das UN-Lager zu verlassen. Nur die Nuer, welche der gleichen Volksgruppe wie die Rebellen angehören, blieben, weil sie Übergriffe von Regierungskräften gegen sie fürchteten. Die Beziehung zwischen der überwiegend von Dinka bewohnten Stadt und den Flüchtlingen blieb angespannt: Nuer wurden regelmäßig belästigt und angegriffen, wenn sie das Lager verließen. Als Berichte in Bor eintrafen, dass Nuer-Flüchtlinge in einer nördlichen Stadt des Landes dessen Eroberung durch die Opposition gefeiert hätten, griff die Stimmung über.

Ein UN-Bericht detailliert, was am 17. April 2014 geschah: Morgens sammelte sich eine aufgebrachte Menge von hundert bis dreihundert jungen Männern, die sich mit Gewehren und Stöckern ausgestattet in einem Zug von der Stadt auf das UN-Lager zu bewegten. Sie umrundeten das Lager und gelangten zur der Seite, wo sich das Flüchtlingslager befand. Etwa zwanzig Männer überwanden den Zaun, Graben und Stacheldraht-bewehrten Wall, übermächtigen die Wache schiebenden UN-Soldaten und ließen mehre Dutzend weitere Männer herein. Die Angreifer gingen von Zelt zu Zelt, raubten die Insassen aus, schlugen sie und raubten Frauen. Sofern sie ihre Opfer nicht an den für Nuer typischen Gesichtsnarben erkannten, fragten sie ihre Opfer, welcher Volksgruppe sie angehörten und droschen auf sie ein, wenn diese nicht in Dinka antworten konnten. Der Angriff ebbte erst ab, als etwa eine halbe Stunde später eine schnelle Eingreiftruppe der UN einrückte.

47 Menschen starben in Folge dieses Angriffs innerhalb des UN-Lagers, und dass, obwohl sie „umgeben von Panzern“ waren, wie uns der hagere Vorsitzende des Flüchtlingsrats innerhalb des Lages später erzählt. Wieder einmal waren die Erwartungen auf Schutz und Sicherheit durch die blaue Flagge der Vereinten Nationen aufs Bitterste enttäuscht worden. Bis zum heutigen Tag ist keiner der Täter zur Rechenschaft gezogen worden.

Gut ein Jahr später gibt es jedoch auch Zeichen der Hoffnung. Ein lange schwelender Konflikt zwischen einer bewaffneten Gruppe einer dritten Volksgruppe, den Murle, konnte letztes Jahr beigelegt werden. Erst vor kurzem gab es eine weitere politische Annäherung auf Landesebene mit einem hochrangigen Treffen von Vertretern der ehemaligen Murle-Rebellen und der Landesregierung. Während in anderen Bundesstaaten des Südsudan sich die Opposition um Machar und die Regierungsarmee gerade Gefechte liefern, ist es in Jonglei relativ ruhiger. In einigen Gebieten mit traditionell gemischter Dinka-Nuer Bevölkerung scheint es vorsichtige Annäherungen zu geben. Die Vereinten Nationen unterstützen diese Prozesse nach Kräften. Ihr Zugang zu den Rebellengebieten ist allerdings sehr begrenzt.

Die Vereinten Nationen haben eine große Verantwortung übernommen für die Flüchtlinge, die direkt in ihren Lagen leben. Sie versprechen ihren Schutz, aber greifen teilweise nicht entschieden genug ein, wenn es darauf ankommt. Mittlerweile bindet der Schutz der eignen Lager und der angeschlossenen Flüchtlingslager über drei Viertel der militärischen Ressourcen und einen Großteil der humanitären Hilfe – dabei leben die allermeisten Flüchtlinge und Hilfsbedürftigen außerhalb der Lager, häufig in schwer zugänglichen Gegenden. Schwierige Entscheidungen stehen bevor.

Leise schlägt der Regen auf die Fensterscheiben. Wir fliegen zurück nach Juba, unsere Zeit in Bor ist zu Ende. Die Soldaten, Offiziere, humanitären Helfer und zivilen Mitarbeiter der UN Mission werden jedoch noch lange bleiben müssen.

Dieser Text gibt ausschließlich die Meinung des Verfassers wieder und entspricht weder notwendigerweise der Einschätzung der Vereinten Nationen noch von GPPi.

Wie eine Mango – unterwegs im Norden Sri Lankas

Nach drei Jahren war ich im März 2014 wieder für eine Woche im Norden Sri Lankas unterwegs.

Gleichmäßig tuckernd saust der Zug an knorrigen Bäumen und roter Erde vorbei. Ich befinde mich auf der Rückfahrt meines Ausflugs in die Nordprovinz Sri Lankas. In vier Tagen besuchte ich die ehemalige Hauptstadt der Tamil Tiger Rebellen Kilinochchi, die Orte der letzten Auseinandersetzungen zwischen Armee und Rebellen um PTK und Mullaitivu, das kulturelle Zentrum der Tamilen in Jaffna und zwei Inseln im äußersten Nordwesten des Landes, Delft und Nanaitivu.

Zerstörtes Haus am Rande der A35 auf dem Weg nach Mullaitivu
Zerstörtes Haus am Rande der A35 auf dem Weg nach Mullaitivu

Seit meinem letzten Besuch in Jaffna, damals auf Dienstreise mit der deutschen Botschaft, sind genau drei Jahre vergangen. Viel ist in dieser Zeit über die Situation in Sri Lanka geschrieben und gesagt worden, doch ich wollte endlich die Lage selbst sehen, wenn auch in der Kürze der Zeit erzwungenermaßen oberflächlich. Welche Spuren des Krieges und der Rebellen sind noch zu erkennen? Wie hat sich die wirtschaftliche Lage verändert?

Kilinochchi, das nach harten Kämpfen am 2. Januar 2009 an die Sri lankische Armee fiel, lässt jeglichen Hinweis auf die immerhin knapp fünfzehnjährige Existenz des Proto-Staates Tamil Eelam vermissen. Selbst der Krieg scheint fern – zerstörte Häuser sind äußerst selten, nur ein von der LTTE zerstörter Wassertank und ein Mahnmal der Armee erinnern direkt daran. Stattdessen dominiert die vierspurig ausgebaute Hauptverbindungsstraße zwischen Norden und Süden das Stadtbild. Genau wie die Zugstrecke wurde sie erst letztes Jahr wieder eröffnet. Jede Menge kleiner Läden säumen die Straßenränder. Zwei Kinderparks, von USAID und der Sri lankischen Armee, bieten Freizeitausgleich an. An den Verwaltungsgebäuden scheint die Farbe gerade getrocknet zu sein. Doch je länger ich durch die Stadt laufe, kommt mir das alles seltsam vor. Es scheint, als wäre die ganze Stadt mit wahrscheinlich mehreren zehntausend Einwohnern erst vor fünf Jahren gegründet worden. Es fällt schwer, irgendein Haus zu finden, das offensichtlich älteren Datums ist. Es ist eine Stadt ohne Seele.

Hauptstraße in Kilinochchi
Hauptstraße in Kilinochchi

Mit dem Tuk-Tuk mache ich mich auf den Weg Richtung Osten, wo die letzten Gefechte im Frühjahr 2009 ausgetragen wurden. Die Tamil Tigers hatten nach dem Fall Kilinochchis die Zivilbevölkerung gezwungen, sich mit ihnen zurück zu ziehen. In einem stetig schrumpfenden Gebiet waren auf diese Weise etwa 300.000 Zivilisten (exakte Zahlen sind heftig umstritten) den Kämpfen ausgeliefert. Das Kalkül der Rebellen, durch die damit verbundenen zivilen Opfer die Unterstützung und Intervention (auf welche Weise auch immer) der internationalen Gemeinschaft zu erlangen, scheiterte katastrophal. Nicht zuletzt kümmerte die Regierung sich herzlich wenig um die laute Rhetorik des Westens so kurz vor dem Ziel.

Auf dieser Straße war die Armee vorgerückt. Irgendwann sagt der Fahrer zu mir: “Here, war. Hundred people killed.” Diese Realität passt wenig mit der offiziellen Linie der Armee zusammen. Bei Puthukkudiyiruppu (PTK) hatte die Armee die erste “No Fire Zone” errichtet. In diese sollten die Zivilisten fliehen, aber Artillerieschüsse trafen Krankenhäuser und andere zivile Ziele hier trotzdem. In der Nähe hat die Armee heute ein “war Museum” eingerichtet, in dem sie Kriegsgerät der Rebellen ausstellen. Darunter sind auch kleine U-Boote, Schnellboote für Selbstmordattentate, Torpedos und Raketenwerfer. Die LTTE galt als eine der professionellsten Rebellengruppen der Welt. Auch Teile ihrer kleinen Luftwaffe werden ausgestellt. Diese als unbezwingbar geltende Gruppe hat also die heroische Sri lankische Armee in einer “Humanitarian Rescue Operation” besiegt. Eine kleine Ausstellung zeigt Bilder und schematische Truppenbewegungen, mit ausschließlich singalesischem Kommentar. Nebenan zeigt ein martialisches “Siegerdenkmal” einen überlebensgroßen Soldaten, der stolz sein Gewehr hoch reißt. Damit auch hier keine Missverständnisse aufkommen, wessen Sieg gemeint ist, hat die Armee die tamilischsprachige Plakette ausgelassen.

Siegesdenkmal bei PTK
Siegesdenkmal bei PTK

Zuletzt kommen wir an den Strand, an dem immer noch rund 250.000 Zivilisten ausharren mussten im April und Mai 2009. Fast kein Baum spendet hier Schatten, die Vegetation überdeckt die immer noch sichtbaren Einschlagskrater und Hinterlassenschaften der Vertriebenen nicht vollständig. Es ist ein bizarres Bild: feinster weißer Sandstrand lädt zum Baden ein, während direkt dahinter das Brachland des Schlachtfelds liegt. An diesem Punkt hatten sich die beiden aus gegensätzlichen Richtungen vorstoßenden Divisionen vereint und damit den noch verbliebenen wenigen hundert Rebellen mit ihrer Führung den Fluchtweg versperrt. Heute leben hinter dem Strand einige Familien in noch nicht fertig gestellten Häusern.

Die Situation im Norden ist wie eine Mango, sagte ein Tamile, den ich in Jaffna treffe. Von außen sieht alles herrlich frisch und neu aus, und erst wenn man die Mango aufschneidet, erkennt man, dass sie faul ist. Die wirtschaftliche Entwicklung, die ich sehen kann, ist in der Tat sehr beachtlich. Wo vor drei Jahren kaum Autos fuhren und der Markt in Jaffna kaum über Lebensmittel hinausging, erhebt sich jetzt eine Mall mit Kino und KFC Restaurant. Die gleiche Straße, die ausgestorben und voller Kriegsschäden war, hat jetzt neue Hotels, Restaurants und Einkaufsläden.
Gleichzeitig besetzt die Armee mit ihren vielen Kasernen und Baracken immer noch viel Land im Norden, das die eigentlichen Besitzer nicht bewirtschaften können. Abends machen sich einige Soldaten über die zahlreichen Kriegswitwen her, sagt der Tamile. Und Kriegsdenkmäler feiern stets auf die ein oder andere Weise den “Sieg über den Terrorismus”. Öffentliche Trauer, zumal über getötete Rebellen, ist nicht vorgesehen. Die Armee hat alle “Heldenfriedhöfe” der LTTE eingeebnet.

An diesem Strand fanden die letzten Auseinandersetzungen im Mai 2009 statt
An diesem Strand fanden die letzten Auseinandersetzungen im Mai 2009 statt

Doch noch in einem dritten Aspekt gleicht der Norden der einheimischen Mango. Es ist eine zutiefst sinnliche Erfahrung hier zu reisen. Die Landschaft ist von rauer, nicht selten atemberaubender Schönheit. Palmen, Palmyra und Wasserbecken, an deren Rändern Kühe grasen, beherrschen das trockene und flache Land. An Wasserlöchern im Distrikt von Mullaitivu labt sich eine Herde Wasserbüffel in der tief roten untergehenden Sonne. In Delft sind die Grundstücke mit kleinen Mauern aus Korallen eingefasst, während wilde Pferde über die Ebenen traben. Gott hat das Land noch nicht verlassen.

High Tea in den Wolken

Während häufig geradezu lächerlich schlechtes Wetter meinen Aufenthalt in Darjeeling im Sinne des Wortes vernebelte, konnte ich dennoch mit der höchsten Eisenbahn Indiens fahren, prunkvolle buddhistische Klöster besuchen und vor allen Dingen reichlich herausragenden aufgebrühten Tee aus der unmittelbaren Umgebung genießen.
Darjeeling4Alle, die in den Bergen leben, haben es natürlich verinnerlicht, genauso wie jede_r Kletter_in – das Wetter am Berg ist unberechenbar. Während die Online-Wettervorhersage von Sonnenschein bei angenehmen zwanzig Grad gesprochen hatte, empfing mich nasskalter Nebel bei meiner Ankunft in Darjeeling. Von hier, am Fuße des östlichen Himalaya, sollte man einen wunderbaren Ausblick auf den höchsten Berg Indiens (und dritthöchsten Berg weltweit), den Kanchenjunga, haben. Majestätisch, mit breiten Schultern sollte er sich über dem mit grünen Teeplantagen übersäten Tal erheben. Doch das konnte ich nur aus den zum Verkauf angebotenen Postkarten erschließen. Die Stadt war in der Regel vollkommen in Wolken eingehüllt, so dass die Sicht häufig unter hundert Meter lag. Die Einwohner bestätigten zwar, dass dies sehr ungewöhnlich für diese Jahreszeit sei, aber andere Reisende berichteten auch, dass das Wetter in den letzten drei Wochen nur äußerst selten besser gewesen sei. So war an ausgedehnte Wanderungen nicht zu denken, gleichwohl die Stadt auch so Beschäftigungsmöglichkeiten bot. Entschleunigung war also unweigerlich.

Darjeeling ist die international sicher bekannteste indische Hill Station, welche die Briten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts errichteten, um der schwülen Hitze Kalkuttas, des damaligen kolonialen Regierungssitzes, zu entkommen. Der Marktplatz und einige alt eingesessene Hotels verraten den früheren Charakter als viktorianischer Erholungsort noch. Mittlerweile ist die Stadt jedoch stark gewachsen und kann den Einwohnern und Touristen nur noch unzureichend mit ihren engen, steilen Straßen sowie akuten Wasserengpässen Herr werden. Die meisten westlichen Touristen sind Bagpacker, die sich auf ihrem Weg zu sich selbst (und durch Indien) meist gerade auf dem Weg in die wirklichen Berge in Sikkim im Norden Darjeelings befinden.

Der auf ca. 2.200 m gelegene Bergort im Norden Westbengalens liegt gleichzeitig in einem strategisch äußerst bedeutsamen Gebiet. Nur wenige Dutzend Kilometer misst der indische Staat an seiner dünnsten Stelle hier, eingezwängt zwischen Nepal und Bangladesch. In diesem schmalen Streifen verläuft die einzige Verbindung des abgelegenen Nordostens mit dem Hauptgebiet Indiens. Die mittlerweile sieben Bundesstaaten (mit Assam als dem größten unter ihnen) sind nach wie vor deutlich schlechter entwickelt als der Durchschnitt des Landes und vielfach von bewaffneten Aufständen durchzogen. Die indische Armee kann hier weitgehend von öffentlicher Kontrolle entledigt agieren, was auch in jüngster Zeit wieder zu starken Protesten geführt hat.

Darjeeling2Im friedlichen Darjeeling ist davon kaum etwas zu spüren. Separationstendenzen lassen sich jedoch auch hier beobachten. Darjeeling ist so etwas wie die Hauptstadt von „Gurkhaland“, dem Land der Gurkhas. Die Gurkhas sind ursprünglich aus Nepal eingewanderte Inder, deren kollektive Identität stark durch die Kolonialherrschaft geprägt wurde, nicht zuletzt als Hilfstruppen der britischen Armee in den Weltkriegen. In den 1980er Jahren bildeten sich Freiheitsbewegungen der Gurkhas heraus, welche, auch mit Gewalt, einen eigenen Bundesstaat für sich forderten. Der damalige indische Premier Rajiv Gandhi konnte jedoch eine weitere Aufsplitterung des indischen Bundesstaates mit der Einrichtung eines Regionalrats für die Gurkhas verhindern. Nachdem die Hauptakteure der Gurkha-Freiheitsbewegung (Gurkha National Liberation Front) sich gut im parlamentarischen System eingerichtet hatten, wurden diese jedoch durch eine neue Bewegung (Gorkha Jana Mukti Morcha) 2007 ersetzt, welche den Forderungen neuen Schwung verlieh. Die allgegenwärtigen Schilder und Plakate für ein eigenständiges Gurkhaland vermitteln ebenfalls diesen Eindruck.

Darjeeling5Wie auch im Westen des Himalaya in Shimla haben die Briten die Hill Station nicht nur durch eine sich in steilen Serpentinen nach oben schlängelnde Straße erschlossen, sondern auch durch eine Schmalspurbahn. Dieser „Toy Train“ ist mittlerweile UNESCO-Weltkulturerbe. Für die etwa 70 Kilometer von der Talstation nach oben braucht er gemütliche sieben bis acht Stunden. Zurzeit ist aber wegen Erdrutschen nur ein kleiner Teil befahrbar. Die indische Eisenbahn bietet speziell für Touristen dreimal täglich einen „Joy Ride“ ins sieben Kilometer entfernte Ghum an, den höchsten Bahnhof Indiens (2438 m). Wenn möglich, wird diese Fahrt sogar noch mit Dampflokomotiven durchgeführt – bei mir musste jedoch eine Diesellokomotive ausreichen.

Darjeeling3In Ghum, wie auch in Darjeeling selbst, liegen herrliche buddhistische Klöster, die sich abseits der engen Gassen auftun. Viele der Gurkhas sind Buddhisten, die den Dalai Lama als geistiges Oberhaupt verehren, wie die Tibeter. Über und über bemalte Tempelräume der Klöster zeigen wilde Dämonenfratzen, welche die zentrale Buddhastatue einrahmen. Während die in rot-gelbe Gewänder gekleideten Mönche auf den Märkten spazieren gehen oder den Klängen ihres iPods lauschen, finden sich in den spärlich beleuchteten Gebetsräumen gern auch meditierende westliche Touristen – auch eine Art kultureller Austausch.

Vor allem ist Darjeeling aber die Königin des Teeanbaus. An jeder Ecke im Zentrum kann man die Erzeugnisse der über 80 einzelnen Anbaugebiete in der Umgebung erwerben. Das Happy Valley Tea Estate hat nicht nur den Vorteil, bequem zu Fuß zu erreichen zu sein, sondern bietet auch kostenlose Führungen durch ihre Teefabrik an. Am produktionsfreien Sonntagvormittag war ich der einzige Gast, der eine persönliche Führung durch die Anlage erhielt, welche ausschließlich für Exportmärkte in Großbritannien und Deutschland produziert. Dabei lernte ich, dass der Produktionsprozess für schwarzen Tee aus drei Grundstufen besteht – der vorsichtigen Trocknung, der Oxidation (durch Pressen, Drehen und der Zufuhr frischer Luft für drei Stunden) sowie dem Rösten. Danach werden die Teeblätter nach Größen sortiert und verpackt.

High TeaEine ganze Reihe von Faktoren ist bedeutsam für den Geschmack des Tees. Dabei sind die Größen (ganz, gebrochen, Krümel oder Staub) und die Jahreszeiten (first flush, second flush, summer und autumn) nur die offensichtlichsten. Mit Qualität haben diese nämlich noch nicht in erster Linie zu tun. Diese wird vielmehr durch die Bewirtschaftungsweise, die Unterart der Teepflanze und Abstufungen im Herstellungsprozess bestimmt. Höhenlage, Sonneneinstrahlung und Beschaffenheit des Bodens beeinflussen ebenfalls den Geschmack. Daher lassen sich auch jeweils bemerkenswerte Unterschiede zwischen einzelnen Teegärten ausmachen. Grundsätzlich, so habe ich beim Probieren und Kaufen erfahren, sind first flush Darjeelingtees sehr leicht und werden daher immer ohne Milch getrunken. Herbsttees haben dahingegen häufig einen reichhaltigeren, auch etwas bitteren Geschmack, weswegen sie gern von britischen Kunden (die ihren Tee mit Milch trinken) gekauft, wie mir ein Händler verriet. So ein exklusiver Tee ist durchaus mit edlen Weinen vergleichbar (auch preislich), und ich vermeinte in dem exklusivsten Tee, den ich probierte, feine Orangennoten auszumachen.

Natürlich muss man solch einen Tee entsprechend genießen. Dafür haben die Briten den High Tea am Nachmittag eingeführt. Dazu gibt es in Darjeeling genau die richtigen viktorianischen Etablissements. In plüschigen Sofas kann man sich in britischer Wohnzimmeratmosphäre niederlassen und den Tee eines bestimmten Teegartens bestellen. Dieser wird sogleich von einem weiß gekleideten Kellner zusammen mit zwei dünnen Scheiben trockenen Fruchtkuchens serviert. Definitiv ein Erlebnis wert!

Ein Land voller Gegensätze

Diese Zeilen schrieb ich während meines ersten Indien-Aufenthalts im Oktober 2012.

Auf dem Flug nach Delhi unterhielt ich mich mit einer Kollegin meines Stipendienprogramms darüber, welche jeweiligen Bilder uns in den Kopf kämen, wenn wir an Indien dächten. Ich sagte, es sei der Tumult, das Wirrwarr, das ich bereits aus Sri Lanka kannte, kombiniert mit einer schroffen Gleichzeitigkeit von erheblichen Wohlstandsunterschieden – sehr arme Bettler direkt neben glitzernden Boutiquen, um es in ein Bild zu packen. Ich hätte es kaum besser treffen können.

Slumbehausung in einem Park

Wir leben hier in einer eher durchschnittlichen Gegend, mit relativ viel Dreck, einfachen Läden, Kühen und Müll auf den Straßen. Im Alltag fahren wir mit dem lokalen Massentransport, zuerst im offenen und häufig übervollen Sammeltaxi, und dann in der unterkühlten, modernen Metro. Das Institut mit der Bibliothek, in der wir praktisch jeden Tag arbeiten, liegt in einer sehr guten Gegend, in der es nicht nur einen Golfplatz und mit Pflanzen gesäumte Straßen gibt, sondern auch viele Büros der Vereinten Nationen oder von anderen Forschungsinstitutionen. Wir haben einen Swimmingpool auf dem Dach, in dem wir mittags für eine kleine Gebühr schwimmen können, während wir danach ein sehr gutes Mittagessen direkt am Pool genießen können (das habe ich aber bisher erst einmal gemacht).

Auf dem Weg zurück zur U-Bahnstation überqueren wir stets eine Kreuzung, auf der junge Mädchen nicht älter als 12 oder 13 rote Blumen verkaufen. Dazu gestikulieren sie eindringlich und zeigen an, dass sie Geld für Essen haben wollen. An anderen U-Bahnstationen zerren kleine Jungen unter zehn Jahren an mir. Während ich vor einiger Zeit in der Haupteinkaufsgegend von Delhi am Wegrand saß und ein Sandwich aß, sahen mich solche Kinder mit ihren Hundeaugen an und wiederholten immer wieder „Chappatti“, den Namen eines Brotes, das sie haben wollten. Oder letztens auf dem Weg zu einem wohl typischen Club von Delhi, zu dem wir immerhin zu vier gequetscht im Rickshaw fuhren, bettelten Jungen an einer großen Straßenkreuzung um zehn Uhr abends. Keinen von diesen Kindern gab ich bisher etwas.

Slumsiedlung im Park

Das Weggehen steht hier in besonders großem Kontrast zu dieser Welt. Es gibt dezidierte „Expat Nights“ von Clubs, in denen weiße Ausländerinnen umsonst Getränke bekommen. Männer kommen zwar umsonst rein, müssen aber entweder ein kleines Bier für ca. 4,50 € oder ein maximal zwei Stunden gültiges Band für unbegrenztes Trinken für knapp 15 € kaufen. Wenn (männliche) Inder nicht gerade Expats mitbringen, müssen sie etwa 30 € Eintritt zahlen. In den guten Clubs in Luxushotels kann der Eintritt für alle Männer sogar bei 45-60 € liegen – ohne Getränke. Natürlich können sich diese Preise nur sehr wenige Inder leisten, auch wenn es immer noch genügend zu geben scheint. Die Clubs mit den „Expat Nights“ rühmen sich ob der weißen Ausländer. Das Schönheitsideal hier in Indien ist auch eher hellere Haut als dunkle zu haben, wie die meisten berühmten Schauspieler und Musiker. Die Expats, die man auf so einer Party trifft, sind nach meinem Eindruck eher solche, die auch zu vergleichbaren Partys in Deutschland gehen würden – wir trafen eine große Gruppe deutscher und österreichischer BWL-Studierenden, die sich darüber wunderten, dass die indischen Studierenden an ihrer Privatuni hier bisher so wenig in Europa gewesen seien und kaum Englisch untereinander sprächen.

Reich und Arm können hier sehr nah beieinander liegen. Auf der Zufahrtstraße in eines der reichsten Viertel von Dehli, Hauz Khaz, saß eine Familie im Müll und sortierte brauchbare Teile aus. Als wir mit dem Rickshaw vorbeifuhren, flog eine Horde Schmeißfliegen auf. Auch hier in der Gegend gibt es gut gesicherte Wohnhäuser, während unten auf der Straße Müllsammler ihren Tagesertrag gegen etwas Geld bei Recyclern eintauschen. Wenn man abends durch Delhi fährt, sieht man vielfach die Fahrer von Fahrradrickshaws auf oder neben ihren Gefährten schlafen. Wahrscheinlich sind sie gerade vom Land in die Stadt gekommen und versuchen auf diese Weise Geld für ihre Familie zu verdienen, die sie praktisch nie sehen. Überall schlafen Menschen auf den Gehwegen. Andere haben eine behelfsmäßige Unterkunft mit Planen unter Bäumen oder in schlecht gepflegten Parks gefunden, ohne wirkliche Wasserversorgung. In Indien leben über die Hälfte der Menschen, die weltweit keinen Zugang zu Sanitäranlagen haben. Berichten zufolge sterben deswegen täglich tausend Kinder an Durchfall in Indien, während der Einfluss auf das Wirtschaftswachstum bei gigantischen 6,4% liegen soll.

Wer diese Seite Indiens auch nur annähernd kennen lernt, versteht globale Armutsstatistiken deutlich besser und erhält den Hauch eines Gefühls dafür, was es bedeutet, dass in Indien etwa ein Drittel aller Menschen, die in absoluter Armut weltweit leben müssen (d.h. weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag nach Kaufkraftausgleich zur Verfügung haben), sind. Mehr als zwei Drittel aller Inder haben laut Weltbank nicht mehr als zwei Dollar pro Tag zur Verfügung.

Geschwister bei mir In der Gegend auf der Straße

Wie kann man in solchen Gegensätzen auf Dauer existieren? Manche schaffen es wahrscheinlich durch Verdrängung oder Ignoranz, indem sie ausschließlich in klimatisieren Autos von einem gekühlten Gebäude zum nächsten fahren. Andere versuchen, den Menschen zu helfen und können sich auch an kleinen Gesten und Erfolgen erfreuen, während wiederum andere an der Ineffizienz des Systems verzweifeln. Bei einer Vortragsveranstaltung bezeichnete es ein Wissenschaftler, der für die Regierung zu Entwicklungsthemen arbeit, als Schande, dass auch 65 Jahre nach der Unabhängigkeit Indiens so viele Menschen in Armut, unhygienischen Bedingungen und mit schlechter Bildung existieren. Dazu muss man aber auch anerkennen, wo Indien hergekommen ist. Allein in den letzten fünf Jahren sind fünfzig Millionen Menschen in Indien aus der absoluten Armut gehoben worden. Inklusives Wachstum, das substantiell viele Jobs im formellen Sektor generiert, bleibt jedoch ein Desideratum.

Diese Zustände, diese Menschen zu erleben kann einen nicht kalt lassen. Gleichzeitig darf man nicht vergessen, dass auch die Armen in den Slums der Großstädte ein Leben mit Höhen und Tiefen, mit Kämpfen um Anerkennung, Identität und Bedeutung führen, das in abstrakter Weise den fundamentalen Herausforderungen vieler Menschen auf der ganzen Welt ähnelt. Sie sind nicht nur Opfer, sondern haben auch Vorlieben, Geschmäcker und Ideen. Allerdings müssen sie eine deutlich steilere Wand erklimmen, als wir es uns in Europa überhaupt vorstellen können. Diese Perspektive dürfen wir nicht vergessen. Selbst wenn man nicht ständig in diesen Gegensätzen leben muss, steht es einem gut an, jede Annehmlichkeit im Leben als Privileg und Geschenk anzuerkennen und mit Demut und Bescheidenheit auszuüben.