Ein Land voller Gegensätze

Diese Zeilen schrieb ich während meines ersten Indien-Aufenthalts im Oktober 2012.

Auf dem Flug nach Delhi unterhielt ich mich mit einer Kollegin meines Stipendienprogramms darüber, welche jeweiligen Bilder uns in den Kopf kämen, wenn wir an Indien dächten. Ich sagte, es sei der Tumult, das Wirrwarr, das ich bereits aus Sri Lanka kannte, kombiniert mit einer schroffen Gleichzeitigkeit von erheblichen Wohlstandsunterschieden – sehr arme Bettler direkt neben glitzernden Boutiquen, um es in ein Bild zu packen. Ich hätte es kaum besser treffen können.

Slumbehausung in einem Park

Wir leben hier in einer eher durchschnittlichen Gegend, mit relativ viel Dreck, einfachen Läden, Kühen und Müll auf den Straßen. Im Alltag fahren wir mit dem lokalen Massentransport, zuerst im offenen und häufig übervollen Sammeltaxi, und dann in der unterkühlten, modernen Metro. Das Institut mit der Bibliothek, in der wir praktisch jeden Tag arbeiten, liegt in einer sehr guten Gegend, in der es nicht nur einen Golfplatz und mit Pflanzen gesäumte Straßen gibt, sondern auch viele Büros der Vereinten Nationen oder von anderen Forschungsinstitutionen. Wir haben einen Swimmingpool auf dem Dach, in dem wir mittags für eine kleine Gebühr schwimmen können, während wir danach ein sehr gutes Mittagessen direkt am Pool genießen können (das habe ich aber bisher erst einmal gemacht).

Auf dem Weg zurück zur U-Bahnstation überqueren wir stets eine Kreuzung, auf der junge Mädchen nicht älter als 12 oder 13 rote Blumen verkaufen. Dazu gestikulieren sie eindringlich und zeigen an, dass sie Geld für Essen haben wollen. An anderen U-Bahnstationen zerren kleine Jungen unter zehn Jahren an mir. Während ich vor einiger Zeit in der Haupteinkaufsgegend von Delhi am Wegrand saß und ein Sandwich aß, sahen mich solche Kinder mit ihren Hundeaugen an und wiederholten immer wieder „Chappatti“, den Namen eines Brotes, das sie haben wollten. Oder letztens auf dem Weg zu einem wohl typischen Club von Delhi, zu dem wir immerhin zu vier gequetscht im Rickshaw fuhren, bettelten Jungen an einer großen Straßenkreuzung um zehn Uhr abends. Keinen von diesen Kindern gab ich bisher etwas.

Slumsiedlung im Park

Das Weggehen steht hier in besonders großem Kontrast zu dieser Welt. Es gibt dezidierte „Expat Nights“ von Clubs, in denen weiße Ausländerinnen umsonst Getränke bekommen. Männer kommen zwar umsonst rein, müssen aber entweder ein kleines Bier für ca. 4,50 € oder ein maximal zwei Stunden gültiges Band für unbegrenztes Trinken für knapp 15 € kaufen. Wenn (männliche) Inder nicht gerade Expats mitbringen, müssen sie etwa 30 € Eintritt zahlen. In den guten Clubs in Luxushotels kann der Eintritt für alle Männer sogar bei 45-60 € liegen – ohne Getränke. Natürlich können sich diese Preise nur sehr wenige Inder leisten, auch wenn es immer noch genügend zu geben scheint. Die Clubs mit den „Expat Nights“ rühmen sich ob der weißen Ausländer. Das Schönheitsideal hier in Indien ist auch eher hellere Haut als dunkle zu haben, wie die meisten berühmten Schauspieler und Musiker. Die Expats, die man auf so einer Party trifft, sind nach meinem Eindruck eher solche, die auch zu vergleichbaren Partys in Deutschland gehen würden – wir trafen eine große Gruppe deutscher und österreichischer BWL-Studierenden, die sich darüber wunderten, dass die indischen Studierenden an ihrer Privatuni hier bisher so wenig in Europa gewesen seien und kaum Englisch untereinander sprächen.

Reich und Arm können hier sehr nah beieinander liegen. Auf der Zufahrtstraße in eines der reichsten Viertel von Dehli, Hauz Khaz, saß eine Familie im Müll und sortierte brauchbare Teile aus. Als wir mit dem Rickshaw vorbeifuhren, flog eine Horde Schmeißfliegen auf. Auch hier in der Gegend gibt es gut gesicherte Wohnhäuser, während unten auf der Straße Müllsammler ihren Tagesertrag gegen etwas Geld bei Recyclern eintauschen. Wenn man abends durch Delhi fährt, sieht man vielfach die Fahrer von Fahrradrickshaws auf oder neben ihren Gefährten schlafen. Wahrscheinlich sind sie gerade vom Land in die Stadt gekommen und versuchen auf diese Weise Geld für ihre Familie zu verdienen, die sie praktisch nie sehen. Überall schlafen Menschen auf den Gehwegen. Andere haben eine behelfsmäßige Unterkunft mit Planen unter Bäumen oder in schlecht gepflegten Parks gefunden, ohne wirkliche Wasserversorgung. In Indien leben über die Hälfte der Menschen, die weltweit keinen Zugang zu Sanitäranlagen haben. Berichten zufolge sterben deswegen täglich tausend Kinder an Durchfall in Indien, während der Einfluss auf das Wirtschaftswachstum bei gigantischen 6,4% liegen soll.

Wer diese Seite Indiens auch nur annähernd kennen lernt, versteht globale Armutsstatistiken deutlich besser und erhält den Hauch eines Gefühls dafür, was es bedeutet, dass in Indien etwa ein Drittel aller Menschen, die in absoluter Armut weltweit leben müssen (d.h. weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag nach Kaufkraftausgleich zur Verfügung haben), sind. Mehr als zwei Drittel aller Inder haben laut Weltbank nicht mehr als zwei Dollar pro Tag zur Verfügung.

Geschwister bei mir In der Gegend auf der Straße

Wie kann man in solchen Gegensätzen auf Dauer existieren? Manche schaffen es wahrscheinlich durch Verdrängung oder Ignoranz, indem sie ausschließlich in klimatisieren Autos von einem gekühlten Gebäude zum nächsten fahren. Andere versuchen, den Menschen zu helfen und können sich auch an kleinen Gesten und Erfolgen erfreuen, während wiederum andere an der Ineffizienz des Systems verzweifeln. Bei einer Vortragsveranstaltung bezeichnete es ein Wissenschaftler, der für die Regierung zu Entwicklungsthemen arbeit, als Schande, dass auch 65 Jahre nach der Unabhängigkeit Indiens so viele Menschen in Armut, unhygienischen Bedingungen und mit schlechter Bildung existieren. Dazu muss man aber auch anerkennen, wo Indien hergekommen ist. Allein in den letzten fünf Jahren sind fünfzig Millionen Menschen in Indien aus der absoluten Armut gehoben worden. Inklusives Wachstum, das substantiell viele Jobs im formellen Sektor generiert, bleibt jedoch ein Desideratum.

Diese Zustände, diese Menschen zu erleben kann einen nicht kalt lassen. Gleichzeitig darf man nicht vergessen, dass auch die Armen in den Slums der Großstädte ein Leben mit Höhen und Tiefen, mit Kämpfen um Anerkennung, Identität und Bedeutung führen, das in abstrakter Weise den fundamentalen Herausforderungen vieler Menschen auf der ganzen Welt ähnelt. Sie sind nicht nur Opfer, sondern haben auch Vorlieben, Geschmäcker und Ideen. Allerdings müssen sie eine deutlich steilere Wand erklimmen, als wir es uns in Europa überhaupt vorstellen können. Diese Perspektive dürfen wir nicht vergessen. Selbst wenn man nicht ständig in diesen Gegensätzen leben muss, steht es einem gut an, jede Annehmlichkeit im Leben als Privileg und Geschenk anzuerkennen und mit Demut und Bescheidenheit auszuüben.