Sudan: Beziehungen zu Russland im innenpolitischen Wettstreit

Dieser Kurzbeitrag erschien am 3.5.2022 als Teil von: Jenseits des Westens: Wie afrikanische und nahöstliche Staaten auf den Russland-Ukraine-Krieg blicken, SWP 360 Grad.

Am 27. Februar 2022, drei Tage nach Beginn der russischen Invasion der Ukraine, trafen westliche Diplomaten den geschäftsführenden sudanesischen Außenminister Ali al-Sadiq. Ihre Botschaft war klar: „Wir haben die Republik Sudan aufgerufen, sich der Gruppe der Nationen anzuschließen und sich öffentlich für die multilaterale, auf Regeln basierende Ordnung einzusetzen und deren Verletzung durch die Russische Föderation in aller Deutlichkeit zu verurteilen“, hieß es in einem Statement nach dem Treffen.

Appelle an Sudans Verantwortung für den Multilateralismus haben jedoch wenig Aussicht auf Erfolg. Die Militärjunta, die seit dem Putsch vom 25. Oktober 2021 Sudan beherrscht, ist auf den Schutz durch die Vetomacht Russland im VN-Sicherheitsrat angewiesen. Russland ist Sudans größter Weizenlieferant und pflegt enge Kontakte zum Sicherheitssektor des ostafrikanischen Landes. In der Tradition seiner Zugehörigkeit zur Blockfreien-Bewegung enthielt sich Sudan in der Generalversammlung der VN in den Abstimmungen zu Russlands Krieg gegen die Ukraine.

In Sudan gibt es einen regelrechten Wettbewerb um die Kontrolle der Beziehungen zu Russland. Während der Revolution 2018/19 trainierten private russische Militärfirmen sudanesische Sicherheitskräfte. M-Invest, ein Unternehmen, das von dem russischen Oligarchen Jewgeni Prigoschin kontrolliert wird, soll der Bashir-Regierung eine Desinformationskampagne gegen die Demokratiebewegung vorgeschlagen haben. Dennoch bot Außenministerin Mariam al-Mahdi al-Sadiq als Vertreterin der späteren, inzwischen entmachteten zivilen Übergangsregierung bei einem Besuch in Moskau im Juli 2021 an, den nächsten Russland-Afrika-Gipfel auszurichten.

Insbesondere seit dem Putsch versucht Mohamed Hamdan Dagalo, genannt Hemedti, als Führer der paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF) die Beziehungen zu Russland zu nutzen, um seine Position unter den bewaffneten Kräften Sudans zu stärken. So war er während des Beginns der russischen Invasion der Ukraine in Moskau, wo er auch Außenminister Sergei Lawrow traf. Hemedtis RSF sichern Minen und Produktionsgebiete, während ein Tochterunternehmen von M‑Invest in Sudan Gold abbaut. Hemedti profitierte überdies von Fake-News-Kampagnen, die offenbar von einer Trollfabrik in Sankt Petersburg lanciert wurden, bevor Facebook die Konten abschaltete.

Hemedtis außenpolitische Aktivitäten konkurrieren mit denen Abdel Fattah al-Burhans, des Vorsitzenden des Souveränitätsrats und Führers der Streitkräfte. Dieser will zumindest die Kontrolle über die offiziellen diplomatischen Beziehungen zu Russland bewahren und sich nicht von Hemedti ausstechen lassen. So ist die sudanesische Russlandpolitik ein weiteres Spielfeld des Wettbewerbs zwischen den beiden machtvollsten Putschistenführern des Landes.

Machtkampf in Sudan

Der Putsch vom 25. Oktober 2021 setzte dem demokratischen Übergangsprozess in Sudan ein jähes Ende. Militär- und Sicherheitskräften gelingt es seitdem jedoch nicht, ihre Herrschaft zu festigen. Eine Rückkehr zu einer dauerhaften und stabilen Militärregierung in Sudan ist unwahrscheinlich. Zu groß sind die internen Gegen­sätze der Putschistengruppierungen und die wirtschaftlichen Herausforderungen des Landes. Die Demokratiebewegung ist gut organisiert und dank ihrer dezentralen Struktur in der Lage, Verhaftungen und Gewalt zu trotzen. Ein neuer demokratischer Übergangsprozess wird nicht allein durch Wahlen herbeizuführen sein, welche die Putschisten für Sommer 2023 planen. Jedwede internationale Vermittlung in Sudan hat nur dann eine Chance, wenn sie eng auf die zivilgesellschaftlichen Pläne für eine Neuausrichtung des Staates abgestimmt ist.

SWP-Aktuell erschienen am 10.März 2022.

Am 28. Februar 2022 veröffentlichte die United Nations Integrated Transition Assis­tance Mission in Sudan (UNITAMS) eine Zu­sammenfassung des fünf Wochen dauern­den Prozesses, in dem sie eine breite Aus­wahl sudanesischer Stakeholder konsultiert hat. Die Mission identifizierte zwar einige Gemeinsamkeiten, doch bleibt die wichtig­ste Frage unbeantwortet: Wie kann das Land am Nil aus der Krise herausfinden?

Seit ihrer erneuten Machtübernahme im Oktober 2021 ist es den sudanesischen Militär- und Sicherheitskräften nicht gelun­gen, ihre Herrschaft grundlegend zu kon­solidieren. Seitdem die Ministerinnen und Minister der Forces of Freedom and Change (FFC), der breiten Koalition politischer Par­teien und Angehörigen der Zivilgesellschaft, am 22. November 2021 zurückgetreten sind, besteht das Kabinett hauptsächlich aus ge­schäftsführenden Staatssekretären. Im Amt sind nur noch jene Minister, die das Militär und die Unterzeichner des Juba-Friedens­abkommens von 2020 nominiert haben. Der Regierung fehlen sowohl die Mittel als auch die Partner, um das Land zu stabilisieren.

Lediglich über Gewaltmittel verfügen die Militär- und Sicherheitskräfte noch, die es ihnen ermöglichen, Demonstrierende mit gezielten Schüssen, Tränengas und schwe­ren Waffen in Schach zu halten. Immer noch gehen regelmäßig tausende Menschen in Khartum und vielen weiteren Städten des Landes auf die Straße, obwohl bei den Protesten bereits 83 Menschen ums Leben und mehr als 2.600 verletzt worden sind. Die zivile Übergangsregierung von Premier­minister Abdalla Hamdok, die seit der Ver­fassungserklärung von August 2019 im Amt gewesen war, genoss breite Zustimmung in der Bevölkerung, bei aller Kritik an einzel­nen ihrer Maßnahmen. Das unterscheidet Sudan von anderen Staaten in Sub-Sahara-Afrika, deren Regierungen in den letzten zwölf Mo­naten Opfer eines Militärputschs wurden.

Drei Faktoren erklären die Schwäche des Sicherheitssektors: seine internen Spannun­gen, die katastrophale wirtschaftliche Situa­tion im Land und die Resilienz der Demo­kratiebewegung. Eine Rückkehr zu einer dauerhaft amtierenden Militärregierung steht damit vor erheblichen Herausforderungen.

Fragmentierung des Sicherheitsapparats

Die Schwäche des Sicherheitssektors beruht erstens auf seiner Fragmentierung. Die Sudanesischen Streitkräfte (SAF) unter Füh­rung von General Abdel Fattah al‑Burhan haben keine effektive Kontrolle über die Rapid Support Forces (RSF) unter dem Kom­mando von Generalleutnant Mohamed Hamdan Dagalo, genannt Hemedti. Die Bashir-Regierung hatte die RSF seit 2013 als separate Miliz zur Aufstandsbekämpfung in Darfur eingesetzt. Noch im Juni 2021 wider­setzte sich Hemedti Forderungen von Bur­han und Rebellengruppen, die Kommandostrukturen zu vereinheitlichen. Hemedti, der auch stellvertretender Vorsitzender des Sovereignty Council (kollektive Staats­führung während der Transition) ist, hat bes­sere Beziehungen zu jenen Gruppen, die das Juba-Friedensabkommen von 2020 unter­zeichnet haben, das er als einziger Vertreter der sudanesischen Regierung unterschrieben hat (Burhan zeichnete ledig­lich als Zeuge). Die Militärführung hin­gegen kann sich auf die Geschlossenheit der eigenen Streitkräfte nicht hundertprozentig verlas­sen. Daher entließ sie im Februar 2022 hunderte Offiziere. Kurzfristig sei Bur­han auf die RSF angewiesen, um Khartum zu kontrollieren, langfristig sei Hemedti jedoch sein größter Gegner, schreibt auch die renommierte Expertin Kholood Khair. Burhan soll sich bereits in Gesprächen mit seinen ägyptischen Freun­den besorgt dar­über gezeigt haben, dass Hemedti putschen könnte. Die SAF bestritten solche Berichte.

So wie Burhan und Hemedti ihren För­derer Bashir im April 2019 im Präsidentenpalast gestürzt haben, könnte die Putschisten ein ähnliches Schicksal ereilen, wenn sie zu viel Gewalt einsetzen oder nicht mehr in der Lage sind, die wirtschaftlichen Pfrün­den des Sicherheitssektors zu garantieren.

Militärwirtschaft in der Sackgasse

Zweitens werden die Militär- und Sicherheitskräfte auf absehbare Zeit außerstande sein, die wirtschaftliche Misere Sudans zu überwinden. Zwar wird die sudanesische Wirtschaft von Unternehmen dominiert, die dem Sicherheitssektor zugerechnet wer­den. Sie profitieren jedoch auch von Steuer- und Zollvorteilen, die einer marktwirt­schaftlichen Entwicklung entgegenstehen.

Sudans Wirtschaft leidet unter der zweit­höchsten Inflationsrate der Welt, im Januar 2022 betrug sie 260 %. Blockaden von Bauern und Demonstranten auf der Haupt­verbindungsstraße nach Ägypten ließen die Exporte im gleichen Monat um 85 % zu­rückgehen. Seit dem Putsch kam es immer wieder zu Engpässen bei der Versorgung mit Mehl, Speiseöl und Benzin. Die gerin­gen Währungsreserven erschweren die Ein­fuhr dieser Güter. Die Coup-Regierung hat an­gekündigt, Steuererhöhungen und ihre Exporte von Gold, dem wichtigsten Export­gut Sudans, für den Import dieser strate­gischen Güter zu nutzen. Doch ist unwahr­scheinlich, dass sie damit die internatio­nalen Hilfsgelder ersetzen können, deren Zahlung seit dem Putsch ausgesetzt ist. Nachhaltiges inklusives Wachstum würde ohnehin nur nach tiefgreifenden Reformen möglich sein, die das Versorgungssystem des Sicherheitssektors gefährden würden.

Der mit Abstand größte Haushaltsposten sind Ausgaben eben für den Sicherheits­sektor. Allein die von Internationalem Wäh­rungsfonds und Weltbank ursprünglich in Aussicht gestellten Summen belaufen sich auf rund drei Milliarden US-Dollar, zusätz­lich zu 700 Millionen US-Dollar für Entwick­lungshilfe, welche die USA zurückhalten. Die Regierung musste daher unter anderem das Sudan Family Support Programme strei­chen, das einer Mehrheit der Bevölkerung mittels (geringer) direkter Geldtransfers hel­fen sollte, den Schock der wirtschaftlichen Reformen besser zu verkraften. Seit Beginn des Übergangsprozesses 2019 ist die Zahl der Menschen, die humanitäre Hilfe benö­tigen, um sechs Millionen gewachsen. Bashir verlor die Kontrolle über seine Herrschaft, als er die eigenen Eliten nicht mehr koop­tieren und die Bevölkerung nicht länger mit teuren Subventionen ruhigstellen konnte.

Resilienz der Demokratiebewegung

Den Putschisten steht eine breite Demokratiebewegung gegenüber, die sich rekrutiert aus politischen Parteien, organisierter Zivil­gesellschaft, Berufsverbänden, Gewerkschaften, Bauern und Akademikern. Im Zen­trum stehen die lokalen Widerstandskomitees, in städtischen Bezirken organisierte Gruppen vor allem junger Menschen aus unterschiedlichen sozialen Milieus. Sie spielten schon während der Proteste gegen das Bashir-Regime 2018/19 eine wichtige Rolle. Seit dem Putsch vom Oktober 2021 führen sie einen Protestkalender für regel­mäßige Demonstrationen. Tausende gehen in vie­len Städten Sudans auf die Straße, auch wenn Khartum die größte Aufmerksamkeit erfährt.

Die Widerstandskomitees koordinieren sich zunehmend auf Ebene der Bundes­staaten Sudans. Ihr Motto ist ein dreifaches Nein: zur Partnerschaft mit dem Militär, zu Verhandlungen, zu Kompromissen. Der Einfluss der Widerstandskomitees zeigt sich nicht zuletzt darin, dass die in den Forces for Freedom and Change vertretenen politi­schen Parteien Teile ihrer Positionen über­nommen haben und ebenfalls eine rein zivile Regierung fordern, ohne Militärbeteiligung.

Die größte Stärke der Demokratiebewegung ist zugleich auch ihre markanteste Schwäche. Es mangelt ihr an einer einheit­lichen, konkreten Vorstellung von einem neuen Übergangsprozess. Einer der führen­den Köpfe der FFC, Khalid Omer Yousif (Sudanese Congress Party), ehemaliger Minister, warnte bereits vor einem erneu­ten Gerangel unter den politischen Parteien um die Verteilung von Posten. Solche inter­nen Differenzen blockierten auch die Ein­richtung des Übergangsparlaments vor dem Putsch. Es gibt auch keine einigende Füh­rungsfigur.

Gleichzeitig ist die Demokratiebewegung aufgrund ihrer horizontalen Organisation und der Vielfältigkeit der Stimmen weniger anfällig für Verhaftungen und gezielte Gewalt gegen einzelne Personen. Trotz aller inhaltlichen Unterschiede sowohl innerhalb des FFC als auch zwischen FFC-Mitglie­dern und Widerstandskomitees ist das zivile Lager vereint geblieben im Widerstand gegen die Militärregierung.

Als eine der größten Schwächen des Sicherheitssektors hat sich erwiesen, dass er nicht in der Lage war, zivile Partner für die Regierung zu gewinnen. Nach dem Putsch hatte Premierminister Abdalla Hamdok aus dem Hausarrest im eigenen Namen am 21. November 2021 gemeinsam mit Burhan eine neue politische Erklärung unterzeich­net. Diese brachte ihn vorübergehend zurück ins Amt, doch FFC und Demokratiebewegung lehnten sie rundweg ab. Hamdok trat am 2. Januar 2022 frustriert zurück, nachdem es ihm nicht gelungen war, das angestrebte Technokraten-Kabinett zu ernennen. Die Putschisten haben seitdem zwar hunderte von Beamten wieder in ihre Ämter eingesetzt, welche die Hamdok-Regierung wegen zu großer Nähe zum isla­mistischen Regime entfernt hatte. Doch die ehemals regierende National Congress Party bleibt verboten und zerschlagen. Keine zivile Partei von Bedeutung schlug sich bis­her auf die Seite der Putschisten.

Ausblick

Die drei genannten Faktoren können sich gegen­seitig verstärken. Während Ägypten, Bur­hans engster Partner, medizinische Hilfsgüter liefert, bemühte sich Hemedti in jüngster Zeit in den Vereinigten Arabischen Emiraten und Russland um wirtschaftliche Unterstützung und militärische Zusammen­arbeit. Ohne Strukturreformen können Hil­fen jedoch nur kurzfristig wirken. Voraussetzung für tiefer greifende Reformen ist die Rückkehr zu einem demokratischen Über­gang, der in Wahlen mündet. Damit es zu einer solchen Rückkehr kommt, müssen vier grund­legende Prozesse ineinandergreifen.

(1) Zuerst bedarf es einer möglichst brei­ten Einigung auf ein Verfahren, um eine neue Übergangsregierung herbeizuführen. UNITAMS startete zu diesem Zweck Anfang Januar 2022 Konsultationen. In der ersten Phase kam in 110 Treffen Missionspersonal mit über 800 Personen zusammen. Nach anfänglicher Skepsis gegenüber UNITAMS ließen sich mit der Zeit mehr und mehr Gruppen auf die Treffen ein. Weitgehend parallel dazu finden Gespräche zwischen, vor allem aber innerhalb der Widerstandskomitees, politischen Parteien, unter Wis­senschaftlern und anderen Vertretern der Zivilgesellschaft statt, die jeweils eigene Ent­würfe für eine politische Erklärung ver­öffentlichten. Doch nur ein einheitlicher Prozess wird breite Akzeptanz finden, auch bei den Generälen.

(2) Die Bildung einer neuen Übergangsregierung und die Abgabe der Regierungs­macht von Militärs und Sicherheitskräften würden sich im zweiten Schritt anschließen. Dann könnten auch internationale Geber ihre Unterstützung wieder aufnehmen. Zumindest die politischen Parteien und Widerstandskomitees müssten sich auf ein Übergangssystem, ein Personaltableau einschließlich Premierminister und eine Aufgabenverteilung während der Übergangs­phase einigen.

(3) Ein weiterer Faktor ist der Friedensprozess mit bewaffneten Gruppen. Das Juba-Friedensabkommen von 2020 ist bis­lang nur schleppend umgesetzt worden. Die Unterzeichnergruppen wurden durch das Ab­kommen politisch aufgewertet, bewaffnete Akteure bekamen mehr Gewicht in der Regierung als das zivile Lager, während die wichtigsten bewaffneten Gruppen des Landes außen vor blieben. Eine künftige Über­gangsregierung sollte die (Neu-)Ver­hand­lung von Friedensabkommen nicht wie in der Vergangenheit den Sicherheits­akteuren überlassen.

(4) Schließlich müsste eine neue Übergangsregierung die Bedingungen für freie und faire Wahlen schaffen. Zu diesen Bedingungen gehören ein Ende der Gewalt und der will­kürlichen Verhaftungen sowie eine (Übergangs-)Verfassung, ein Zensus und eine unabhängige Wahlbehörde. Inter­nationale Organisationen könnten tech­nische Hilfe leisten und Wahlbeobachtungsmissionen entsenden.

Schlussfolgerungen

Deutschland und seine Partner können die Sudanesinnen und Sudanesen dabei unter­stützen, einen neuen Übergangsprozess einzuleiten. Dazu sollten sie den unterein­ander abgestimmten diplomatischen Druck auf die Putschisten aufrechterhalten und gezielte Sanktionen für Störer der Vermittlungsbemühungen vorbereiten. UNITAMS kann zwischen den zivilen Gruppen ver­mitteln und ihnen dabei helfen, sich auf einen Prozess zur Bildung einer neuen Übergangsregierung zu verständigen, ver­mag das Militär aber nicht davon über­zeugen, abzutreten. Um dies zu erreichen, könnte sich Deutschland im Rahmen der Friends of Sudan einbringen, einer informellen Gruppe von Vertretern westlicher und regionaler Regierungen und internationaler Organisationen, die Deutschland mitgegrün­det hat. In diesem Rahmen könnte die Bun­desregierung ihre Kontakte zu den regio­nalen Partnern der sudanesischen Regierung nutzen, um die Militärs zu veranlas­sen, ihre Lage und die Option einer ver­handelten Abgabe von Macht neu zu bewer­ten. Dabei könnte eine hochrangige inter­nationale Vermittlung hilfreich sein, wenn sie ihre Vorstellungen – auch in­direkt – eng auf die zivilgesellschaftlichen Pläne für eine Neuausrichtung des Staates abstimmt.

Dr. Gerrit Kurtz ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.

Sudan’s civilian leader resigned. Now the military has sole control of the government.

The October coup is faltering — here’s why.

This text appeared on 11 January 2022 on The Monkey Cage blog of the Washington Post.

On Monday, the U.N. mission in Sudan initiated consultations aimed at helping resurrect the country’s democratic transition, amid a growing political crisis after Prime Minister Abdalla Hamdok resigned Jan. 2. His resignation followed months of turmoil after a military coup on Oct. 25 derailed Sudan’s two-year effort to transition toward democracy. Hamdok had agreed to return as prime minister after being placed under house arrest in October, but he quit after the military interfered in his governance.

Hamdok’s resignation leaves only Sudan’s military leaders in control, complicating U.S. and international efforts to facilitate the return to a civil-military power-sharing agreement. His return had failed to persuade a highly mobilized grass-roots movement that Sudan is back on track toward full civilian rule. Sudan’s coup leaders have yet to come to terms with the widespread protests, which have continued despite dozens of demonstrators killed and hundreds injured.

What just happened — and what’s ahead for Sudan? The country at the Horn of Africa is in a pivotal phase.

Why did the military seize power in the first place?

In the early hours of Oct. 25, military and security forces arrested Hamdok, along with several cabinet ministers and other government officials. By noon, Lt. Gen.Abdel Fattah al-Burhan, the head of the armed forces, dissolved the cabinet and the Sovereign Council, the joint military and civilian leadership body created in 2019 to oversee key reforms during a transition toward democratic elections. He said he aimed to “rectify the revolution’s course” and pledged to hold elections by 2023.

Hamdok had led a transitional government since August 2019. That government was based on a carefully negotiated constitutional declaration that military and civilian political forces had agreed on after deposing longtime ruler Omar Hassan al-Bashir earlier that year, amid large-scale demonstrations against the regime.

The military takeover in 2021 did not come as a complete surprise. Had the transitional government’s program succeeded, military and security forces would have had to cede their control of large sections of the economy to enable inclusive growth. And the military leaders could have faced accountability for their involvement in past human rights violations.

The coup faced early roadblocks

But Sudan’s military appeared poorly prepared to rule, despite having reportedly considered such a coup several times.

Burhan first promised the creation of a “technocratic” government without representatives of political parties by the end of the following week. By mid-November, he had appointed new members to the Sovereign Council, keeping himself as head of this collective leadership body, which he endowed with executive powers. The military authorities also appointed officials from the former Bashir regime to sub-cabinet positions as arrests continued.

The search for nonpartisan cabinet members has remained elusive, however. Only two former rebel movements that had joined the government — together with other armed movements involved in the implementation of the October 2020 Juba peace agreement — have remained allied to the coup plotters. No other notable civilian leaders joined the coup.

Burhan has also failed to attract international support, even from governments that tend to maintain close relations with Sudan’s military and security forces. Under U.S. and British pressure, the United Arab Emirates and Saudi Arabia co-signed a statement calling “for the full and immediate restoration of [Sudan’s] civilian-led transitional government and institutions.” Only Egypt, itself ruled by a military leader, and Russia, which has expressed interest in building a naval base along Sudan’s Red Sea coast, were more supportive of the coup. The African Union suspended Sudan from regional activities.

Coup leaders hoped to co-opt civilian stakeholders

Sudan’s generals have been trying to produce a government that at least appears to be civilian-led and that can prepare elections at the end of the transition period. It’s likely the coup leaders are well aware that a government with military officers in top leadership roles would never be acceptable to the public or to Sudan’s international partners.

On Nov. 21, after international and Sudanese mediation, the generals released Hamdok from his house arrest. Hamdok then signed an agreement with Burhan, reinstating himself as prime minister and tasking him with forming a technocratic government.

Hamdok justified his decision, for which there was no legal basis, by citing his desire to avoid further bloodshed and salvage the economic and international gains of the transitional government. He said he planned to negotiate a new political agreement between all Sudanese stakeholders to put the transition on a more stable footing.

Sudan’s military maintains a tight hold

Hamdok’s hopes did not pan out. The military and security forces have reportedly continued to shoot, tear-gas, rape and detain peaceful demonstrators who have thronged to Sudan’s cities in the hundreds of thousands at frequent intervals since the October coup. In the western region of Darfur, security forces have failed to protect hundreds from being killed in a fresh wave of mass violence.

In Khartoum, Hamdok was unable to get political parties to settle on a new power-sharing agreement. The Nov. 21 agreement appears to have effectively destroyed Hamdok’s popularity among the activists who had demanded his release — many see his deal with Burhan as a betrayal.

With Hamdok out of the political picture, Sudan has no other civilian leader who could command similar legitimacy. This void may redirect attention to the neighborhood “resistance committees” at the heart of the protest movement. Protest organizers have mobilized despite Internet and phone shutdowns, and have adopted innovative tactics against military repression. They reportedly are preparing a political manifesto of their own, reaching out to established political parties to gain broad acceptance.

With the military in sole control of Sudan’s government, international efforts to help resolve the political crisis and salvage the democratic transition process have received a renewed sense of urgency.

Gerrit Kurtz is a nonresident fellow with the Global Public Policy Institute, a think tank in Berlin. Follow him @gerritkurtz.

Don’t lose faith in state-building

The implosion of the Afghan government and the rapid capture of Kabul by the Taliban forces lead policymakers to similar conclusions about a “more realistic” approach to international engagements in armed conflicts—not least in Mali where Europeans are engaged in a similar mission.

This text appeared in IP Quarterly on 7 September 2021.

On the day the German evacuations from Kabul started, Chancellor Angela Merkel said that it was already apparent that the “objectives of such deployments need to be smaller.” Annegret Kramp-Karrenbauer, Germany’s minister of defense, called for countries to “face the concrete threat for Europe realistically” in the Sahel. Heiko Maas, the foreign minister, said during a press conference in Pakistan that military interventions were not the appropriate means to “export our preferred political order.” Finally, French President Emmanuel Macron told Journal du Dimanche, “I don’t believe in state-building. It is not up to the West to build a state in Mali, but it is for the Malians to do that in the zones that were liberated from the terrorist enterprise.”

Statements like these are an expression of an understandable frustration with the apparent lack of sustainable success of anything more ambitious than denying a transnational jihadist network space for training grounds (and even that doesn’t look promising). Didn’t President Ashraf Ghani flee Afghanistan without so much as a formal resignation? Could there be a more symbolic failure of state-building than the hasty departure of the co-author of the book “Fixing Failed States”?

Problematic Assumptions

A proper lessons learned process should start with the right assumptions. For many years in Afghanistan, democracy promotion and building functioning state institutions were not the focus of the US-led engagement, as long-time analysts of Afghanistan have noted. It is true though that programs to improve the governance sector “were rarely effective in the Afghan context,” a meta-review of development cooperation led by political scientist Christoph Zürcher found last year. According to Zürcher, hampering factors were “entrenched patronage-based practices within the government, a lack of buy-in from the government, donor-driven top-down project design with little regard for the core institutional requirements and demands of the partner institutions, and lack of political will of the government especially for decentralization.”

The other problematic assumption is that democracy, rule of law, and fundamental human rights were somehow inappropriate in a tribal society such as Afghanistan. They may look and work differently than in Western countries, but accountability of officials, public participation in policy-making, and basic protection of life and property are important for any society. Simply put, just because outsiders have a hard time understanding the norms, traditions, and tensions of a local society they should not assume people are happy living in a repressive system—nor that outsiders have all the answers for a better life.

Finally, reducing international engagement in a conflict-affected country to a counterterrorism mission, as postulated by US President Joe Biden at the end of the airlift from Kabul, is not likely to be effective and could even be counterproductive. Attempting to destroy a jihadist armed group only with drone strikes or special forces is unlikely to lead to success.

This is even more the case for groups such as the al-Qaeda affiliate JNIM coalition in the Sahel that are well connected in parts of the local population. A narrow security focus risks empowering the very elites whose corruption, negligence, and abuses provide recruitment grounds for armed groups. A major study of jihadist recruitment in Africa by the UN Development Programme found that the experience of government abuses among family and friends provided the tipping point for more than two thirds of respondents to join extremist groups when others in similar situations did not. Thus, trying to neutralize jihadist groups by military means alone risks the very entrenchment of foreign forces that leaders like Biden and Macron say they want to avoid.

Questioning Western Roles

One of the most important lessons that foreign interveners should learn from the Afghanistan fiasco, therefore, is to take the politics and the political economy of an international engagement seriously. This means constantly analyzing the prevailing power relations in a country and the many ways in which international interventions—military, development, diplomatic—shape these power relations. This requires sufficient intelligence and diplomatic analysis capacities. Both in Afghanistan and in Mali, Western governments have supported deeply corrupt governments with little popular support, continuing lavish disbursements of aid and security forces training after disputed elections and military coups, for example. The minimum standard for international engagement should remain not to exacerbate a conflict or enable grave violations of human rights.

Any security assistance, be it training, equipment, or the direct use of force against armed groups, needs to rely on a vetting and human rights risk assessment, like the due diligence policy already practiced by the United Nations. Furthermore, international partners should base their support on guarantees of accountability of security forces. Amnesty provisions such as in a provision of the newly created Special Forces in Burkina Faso should be a red line.

International assistance for state-building in conflict-affected societies can certainly become much better. There is already a fruitful debate in academic and practitioner circles that policymakers can draw on. It all starts with taking local contexts and the agency of local populations seriously, investing heavily in conflict analysis, dialogue processes, strengthening resilience, and constantly trying out different options. Outsiders can partner more effectively with grassroots peace initiatives and ensure that their support is at least as accountable to the needs of civilian populations as it is to the demands of donors, including through reporting and project management mechanisms. If those same populations agree on local ceasefires with armed groups for example in the Central Sahel, their international partners should not reign them in, as France, supported by Germany, does when it declares its opposition to any negotiation and dialogue with jihadist groups.

Don’t Give Up, Learn

The age of external regime change, exemplified by the wars in Afghanistan and Iraq (albeit in different contexts), may be ending. Drawing lessons from the significant mistakes of those interventions is important but should not result in knee-jerk reactions giving up on state-building completely. Instead, the focus needs to be on how to create sustainable peace more effectively.

Photo credits: Chairman of the Joint Chiefs of Staff, Flickr.

Sudans ungerader Reformprozess

Seit seinem Amtsantritt im August 2019 bemüht sich Abdalla Hamdok, Sudans Premierminister, um Frieden in seinem Land. Der Übergangsprozess nach dem Sturz von Diktator al-Bashir sei eine große Chance für sein Land und die gesamte Region am Horn von Afrika, betonte er bei zahlreichen internationalen Auftritten. Gleichzeitig sei die Transition „unordentlich“ und „nicht-linear“. Im letzten Jahr wurde sehr deutlich, was Hamdok damit meinte.

Dieser Text erschien im Jahrbuch 2020/21 der Deutschen Afrika Stiftung. Redaktionsschluss des Texts war März 2021.

Ein widriges Erbe

Hamdoks Regierung stand vor einem Grundproblem vieler demokratischen Transitionen. Sie musste einer massiven Wirtschaftskrise mit einem völlig kapazitätsschwachen Staat begegnen. Mit einer zivil-militärischen Übergangsregierung und einem überwiegend technokratisch geprägten ersten Kabinett und ohne eigenes demokratisches Mandat konnte Hamdok nicht „durchregieren“. Wirtschaftsreformen verlangten der Bevölkerung und der fragilen Koalition Härten und Zugeständnisse ab. Internationale finanzielle Unterstützung erfolgte nur allmählich, auch weil diese auf bestimmte grundlegende Reformen angewiesen war. So war jeder Schritt der Regierung im Übergangsprozess unvollständig, umstritten und erfolgte häufig verzögert.

Viele ehrgeizige Zeitpläne gingen nicht auf. Die Friedensverhandlungen dauerten viermal so lang wie ursprünglich geplant. Dazu kamen Krisen, die selbst deutlich besser aufgestellte Regierungen unter Druck gesetzt hätten: Covid-19 belastete Sudans ohnehin schwaches Gesundheitssystem. Rekordfluten überschwemmten rund ein Viertel aller Ackerflächen. Der Krieg in der äthiopischen Region Tigray trieb über 60.000 Menschen über die Grenze nach Sudan und führte zu militärischen Spannungen in einem zwischen beiden Ländern umstrittenen Grenzgebiet.

Zentrale Akteure spalteten sich, was die politische Abstimmung erschwerte. Dies betraf insbesondere die Koalition aus Parteien, Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Organisationen, die „Forces of Freedom and Change (FFC)“. Die Umma Party, welche die letzte zivile Regierung vor al-Bashirs Putsch 1989 geführt hatte, sagte sich von den FFC los. Auch die kommunistische Partei zog sich einige Monate später aus den FFC zurück. Gleichzeitig fehlte es den zivil geführten Ministerien an allen Ecken und Enden an zuverlässigem Personal, um Regierungsprojekte zu planen und umzusetzen.

Schließlich brachten selbst nominelle Fortschritte erhebliche Risiken für den Übergangsprozess mit sich. Der Subventionsabbau im Rahmen der Wirtschaftsreformen ging mit enormen Preissteigerungen für Güter des täglichen Bedarfs und nachhaltigen Protesten einher. 2020 hatte Sudan laut IWF die zweithöchste Inflationsrate weltweit. Während Hamdok vom Militär kontrollierte Unternehmen unter zivile Kontrolle bringen wollte, drohte De-Facto-Staatschef General Abdel Fattah al-Burhan im August unverhohlen mit einem erneuten Putsch.

Abgetrotzte Erfolge

Angesichts dieser komplexen Lage sind die Erfolge der sudanesischen Regierung nicht zu verachten. Am 3. Oktober 2020 unterzeichnete sie das Juba Peace Agreement mit einer Reihe von bewaffneten Gruppen. Die Finanzierung und Umsetzung vieler Mechanismen des Friedensabkommens sind noch unklar. Seine Auswirkungen sind jedoch bereits heute deutlich erkennbar. Anfang Februar 2021 berief Premierminister Hamdok ein neues, „politisches“ Kabinett, dem auch sieben Minister aus den Unterzeichnergruppen angehören. Das Friedensabkommen verlängerte zudem den Übergangsprozess um rund 13 Monate. Er soll jetzt erst mit Wahlen Anfang 2024 enden.

Das neue Kabinett einigte sich sogleich auf die Abwertung des sudanesischen Pfundes. Dies war eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass internationale Hilfsgelder fließen und der Entschuldungsprozess vorangehen konnten. So konnte die Regierung zusammen mit ihren internationalen Partnern auch das „Sudan Family Support Programme“ ins Werk setzen: Ein monatlicher Betrag von umgerechnet fünf Dollar pro Person soll die Auswirkungen der Preissteigerungen für einen Großteil der Bevölkerung abfedern.

Das Cash-Programm ist Ausdruck der internationalen Unterstützung für Sudans Übergangsprozess. Premierminister Hamdok traf im Februar 2020 Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin und bemühte sich allgemein um gute Beziehungen zu zentralen Gebern. Es war eine Strategie, die sich auszahlte: Im Juni richtete Deutschland zusammen mit dem Sudan, der EU und den UN eine virtuelle Sudan-Partnerschaftskonferenz aus, die rund 1,8 Milliarden Dollar für humanitäre Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit und das Sudan Family Support Programme einsammelte. Im Juli 2020 begann der IWF ein zwölfmonatiges Reformprogramm, das Voraussetzung für weitere Unterstützung und Entschuldung ist. Im Dezember 2020 wiederum strichen die USA Sudan von ihrer Liste Terrorismus fördernder Länder, eine lang erwartete Entscheidung, die sudanesische Banken wieder Zugang zum internationalen Finanznetzwerk gibt.

Revolutionsziele bleiben Baustellen

Die Liste der ausstehenden Reformen in Sudan bleibt lang. Nach Abschluss der Friedensverhandlungen und Ernennung des neuen Kabinetts fehlt weiter die Einberufung des Übergangsparlaments. Dieses könnte dazu beitragen, mehr Transparenz herzustellen und weitere gesellschaftliche Gruppen an der Transition zu beteiligen. Noch fehlen auch Friedensabkommen mit den zwei wichtigsten bewaffneten Gruppen Sudans, die das Juba Peace Agreement nicht unterzeichnet haben.

Die Regierung wird jetzt unter Beweis stellen müssen, dass sie für Sicherheit und Wohlstand gerade auch in den lange benachteiligten Regionen Sudans, etwa in Darfur, sorgen kann. Bisher ist ihr das nur unvollkommen gelungen: Mit Verweis auf eigene Kapazitäten hatte sie sich für den Abzug der AU-UN-Friedensmission UNAMID zum 31. Dezember 2020 stark gemacht. Doch nur wenige Wochen später starben über 200 Menschen bei bewaffneten Auseinandersetzungen.

2018/19 waren die Menschen für „Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit“ auf die Straße gegangen. Der Weg dorthin wird weiterhin steinig und alles andere als gerade sein.

Zwar arbeitet Sudan jetzt mit dem internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zusammen und Ex-Präsident al-Bashir sitzt rechtskräftig verurteilt in Khartum in Haft. Auf den Abschluss von weiteren Verfahren zur Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen warten viele Menschen in Sudan aber weiterhin. Eine umfassende Reform des Sicherheitssektors sowie eine Neuordnung der verfassungsmäßigen Ordnung stehen ebenfalls noch aus.

Zivile Konfliktbearbeitung. Prioritäten für die nächste Bundesregierung

Das deutsche Engagements für zivile Konfliktbearbeitung findet weitgehend unterhalb der öffentlichen Aufmerksam­keitsschwelle statt. Dabei hat die Bundesregierung in den letzten Jahren signifikant in Krisenprävention, Stabilisierung und Friedensförderung investiert und sie konzeptionell weiterentwickelt. Wachsende Mittel und neue Strategie­dokumente sind begrüßenswert. Sie leben jedoch von politischer Führung, die bereit ist, das finanzielle und politische Kapital Deutschlands gezielt für die darin formulierten Ziele einzusetzen.

DGAP Memo erschienen am 25. August 2021.

Die nächste Bundesregierung sollte ihre Interessen und Ziele klarer kommunizieren, die ressortübergreifende Steuerungsarchitektur für präventives Handeln ausbauen und die Auslandsvertretungen in fragilen Staaten stärker personell ausstatten. Der Bundestag sollte eine detailliertere Rechenschaft der Bundesregierung in Form eines Umsetzungsplans mit Erfolgsindikatoren einfordern.

Frieden ist ein Kern­interesse deutscher Außenpolitik

Massenverbrechen gegen die Zivilbevölkerung und gewaltsame Konflikte gefährden grundlegende internationale Normen, die von entscheidender Bedeutung für Deutschlands Rolle in der Welt sind. Deutschlands Wohlstand und Sicherheit hängen an einer halbwegs funktionierenden Weltordnung, die den Austausch von Ideen, Talenten, Waren und Dienstleistungen ermöglicht. Wenn Regierungen oder bewaffnete Gruppen Gewalt gegen Zivilbevölkerung verüben oder den Zugang für humanitäre Hilfe blockieren, stellen diese Menschenrechtsverletzungen das normative Fundament in Frage, in das auch Deutschland jahrzehntelang investiert hat. Ohne Einsatz für diese Ordnung können Deutschland und Europa dem autoritären Gegenwind außenpolitisch wenig entgegensetzen. Deutschland ist dabei nach Kolonialismus, zwei Weltkriegen und Shoa in einer besonderen Verantwortung: nicht als besserwisserischer Heilsbringer, sondern als reiches und stabiles Land, das internationaler Solidarität selbst viel zu verdanken hat und sich somit für Frieden und Menschenrechte einsetzen sollte, wenn diese unter Beschuss sind. 

Rahmenbedingungen

Akzteptanz korrupter und re­pressiver Regierungen verschärft Konflikte

Nach dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und angesichts der sich verschlechterten Sicherheitslage in Mali trotz des internationalen Einsatzes, sollte die deutsche Politik  „realistische Ziele“ nicht zu eng setzen. Terrorismus, organisierte Kriminalität oder Fluchtbewegungen sind letztlich Symptome schlechter Regierungsführung. Organisierte Gewalt droht besonders dort, wo Regierungen ganze Bevölkerungsgruppen von Macht und Wohlstand ausschließen. In Ländern, in denen breite Proteste gegen staatliche Missstände gewaltsam niedergeschlagen werden, kann latente Unzufriedenheit in offene Rebellion eskalieren. Dieser Prozess lässt sich etwa in Myanmar seit dem Putsch im Februar 2021 in Echtzeit verfolgen. Solche dysfunktionalen Regierungen drohen zu Objekten von Regionalmächten oder transnationalen Terror-Netzwerken wie dem sogenannten Islamischen Staat in Syrien zu werden. Mit der impliziten Akzeptanz korrupter und repressiver Regierungen im Kampf gegen Terrorismus geht das Risiko einher, Konflikte zu verschärfen.

Zivile Konfliktbearbeitung zum Markenzeichen deutscher Politik machen

Globale Krisen fordern die Fähigkeit von nationalen Regierungen und internationalen Organisationen zur friedlichen Bearbeitung von Konflikten heraus. Die Corona-Pandemie hat über 80 Millionen Menschen zusätzlich in absolute Armut gestürzt und strapaziert die Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe. Die Klimakrise verschärft die Kapazitätsengpässe vieler Staaten, Konflikte um Land und Wasser friedlich zu managen.

Globale Führungsmächte für Konfliktbearbeitung wie die USA und Großbritannien wenden sich stärker Herausforderungen im eigenen Land zu. Großbritannien kürzt beispielsweise seine Entwicklungsausgaben aktuell stark zusammen. Während die Verlässlichkeit enger Verbündeter sinkt, mischen sich China und Russland sowie Regionalmächte wie die Vereinigten Arabischen Emirate zunehmend auf der Seite autoritärer Strömungen in fragilen Staaten ein. Multilateralen Institutionen wie dem UN-Sicherheitsrat oder der Afrikanischen Union (AU) gelingt es kaum, in aufflammenden Konflikten wie in Bergkarabach oder Äthiopien zu einheitlichen Positionen geschweige denn effektiven Maß­nahmen zu gelangen.

Deutschland hat sich in den letzten Jahren vorgenommen, weltweit mehr zu Frieden und Sicherheit beizutragen. So zählt Deutschland mittlerweile zu den wichtigsten Förderern ziviler Konfliktbearbeitung. 2019 gab Deutschland so viele als Entwicklungsmittel anrechenbare Gelder für Frieden und Sicherheit aus wie kein anderer Geber außer den EU-Institutionen. Mit entsprechenden Projekten bemüht sich die Bundesregierung, selbst in besonders verfahrenen Konflikten einen konstruktiven Beitrag zu leisten, um z.B. den Zugang zur Justiz oder Friedensmediation zu stärken. Viele neue Mechanismen, zum Beispiel zur Krisenfrüherkennung, befinden sich zwar noch in der Experimentierphase, haben aber das Potential, international Maßstäbe zu setzen. Zivile Konfliktbearbeitung könnte zum Markenzeichen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik werden.

Deutschland verfügt als engagiertes Mitglied internationaler Organisationen und im Vergleich zu wichtigen Partnern relativ wenig gespaltene Gesellschaft über erhebliche diplomatische Handlungsfähigkeit. Dieses Kapital setzte Deutschland beispielsweise ein, um eine internationale Kontaktgruppe zur Unterstützung des Übergangsprozess in Sudan zu organisieren, Vermittlungsprozesse in Libyen zu unterstützen, und vom sogenannten „Islamischen Staat“ befreite Gebiete in Irak zu stabilisieren. Keines dieser Beispiele ist unproblematisch, aber sie zeigen, dass Deutschland sich mehr diplomatische Führung zutrauen kann.

GRAFIKEN_WEB_Memo_03_16zu9_1

Herausforderungen

Unterschiedliche Wirkungs­­­logiken verhindern Synergien

In den Vorstellungen der zuständigen Ministerien in Deutschland finden sich unterschiedliche Wirkungslogiken zur Konfliktbearbeitung. Obwohl sich die Bundesregierung seit langem zu einem „vernetzten Ansatz“ aller Akteure und Instrumente in der Sicherheitspolitik bekennt, gibt es noch viele fachliche Silos. Ressortkoordination in der Konfliktbearbeitung ist wichtig, um Widersprüche und Ineffizienzen zu vermeiden und Synergien zu ermöglichen. Wirtschaft, Umwelt, Entwicklung, Sicherheit, Landwirtschaft – die verschiedenen Perspektiven jedes Ressorts können sich gegenseitig entlang gemeinsamer Oberziele bereichern. Zu diesen Oberzielen gehören etwa Krisenverhinderung, Konfliktbewältigung und Friedensförderung, so wie es die 2017 von der Bundesregierung verabschiedeten Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ formulieren. Doch trotz Fortschritten in ressortgemeinsamen Strategieprozessen sieht der Bundesrechnungshof zwischen dem Auswärtigen Amt (AA) und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) aber noch eine „Abwehrhaltung“, die unter Berufung auf das Ressortprinzip eingenommen werde. Gespräche mit den Ressorts zeigen: Tiefgehende Zusammenarbeit ist stark von der Bereitschaft der beteiligten Personen abhängig. Es fehlt an hochrangiger politischer Führung für die Konfliktbearbeitung.

Wirkung zu selten erfasst  

Es ist schwierig zu sagen, welchen Erfolg deutsche Maßnahmen in der Konfliktbearbeitung hatten. Das liegt vor allem daran, dass es kaum unabhängige Untersuchungen gibt, die zumindest versuchen, den spezifisch deutschen Beitrag zur Konfliktbearbeitung herauszuarbeiten. Abschlussuntersuchungen hochrangingen Engagements wie zu Norwegens Rolle in Sri Lanka und Afghanistan oder Fallstudien des präventiven Engagements der Vereinten Nationen zeigen, dass es durchaus möglich ist, Wirkung, Lehren und Einfluss ziviler Konfliktbearbeitung zu erfassen. Solche Untersuchungen können differenziertere Bewertungen als parlamentarische Ausschüsse liefern, die an die Logik von Regierung und Opposition gebunden sind. Beispielsweise hat der Berliner Prozess die Konfliktakteure in Libyen zwar wohl nicht zu ihrem Waffenstillstand bewegt (sondern der militärische Patt), aber zumindest einen hochrangingen Rahmen geliefert, in dem sie diesen aushandeln und nächste Schritte besprechen konnten. Eine institutionenübergreifende Lernplattform, wie sie die Bundesregierung eigentlich mit den Leitlinien hatte einrichten wollen, könnte solch praxisnahen Untersuchungen und Austausche voranbringen.

Entscheidungsfähigkeit braucht abgestimmte Mechanismen

Laufende Zielkonflikte zu bearbeiten, Maßnahmen miteinander abzustimmen und auf Anzeichen von Gewalt frühzeitig zu reagieren erfordert einen effizienten und effektiven Entscheidungsmechanismus innerhalb der Bundesregierung. Im Zuge der Umsetzung der Leitlinien gibt es zwar mehr ressortgemeinsame Treffen und Abstimmungen, doch diese sind teilweise noch schwerfällig oder nicht optimal an die Leitungsebene angebunden. So trifft sich die ressortübergreifende Arbeitsgruppe zur Krisenfrüherkennung viermal im Jahr, um ein gemeinsames Lagebild zu besprechen. Bislang reichen die Kapazitäten allerdings nur dafür, dass sich die Arbeitsgruppe mit einer Situation pro Sitzung befasst. Doch wirkliche Frühwarnungen widersprechen meist der herrschenden Meinung und werden sich daher schwer in der im Konsens entscheidenden Gruppe durchsetzen können. Akute Krisen verdrängen dazu oft die Aufmerksamkeit für Krisenfrüherkennung in der politischen Leitungsebene.

Mangelnde Kapazitäten zur diplomatischen Begleitung

Um Projekte zur Friedensförderung auszuwählen und zu begleiten sowie politische Akteure und Prozesse voranzutreiben braucht es ausreichend qualifiziertes Personal. Wegen des enormen Aufgaben- und Mittelzuwachses hat das AA in den letzten Jahren auch mehr Planstellen erhalten. Allerdings platzen die Ausbildungskapazitäten für neue Attachés aus allen Nähten. An einigen Auslandsvertretungen fehlt schlichtweg der Büroplatz für mehr Kolleginnen und Kollegen. In Ländern wie Niger und Burkina Faso, die für die Sahelpolitik der Bundesregierung strategisch wichtig sind, sollen gerade einmal jeweils drei Mitarbeitende aus dem höheren Dienst den politischen Dialog führen. Dabei kommt gerade Auslandsvertretungen eine Schlüsselrolle in der Konfliktbearbeitung zu. Sie sind es, die das Engagement der Bundesregierung in einem Land zusammenführen, die Situation im Land laufend analysieren, Beziehungen zu allen relevanten Stakeholdern pflegen, und sich mit internationalen Partnern abstimmen. Das Rotationsprinzip des AA und die verbreitete Nutzung von Zeitvertragskräften, die nach zwei Jahren den Arbeitgeber wechseln, erschweren das Wissensmanagement, das der Bundesrechnungshof bereits seit 20 Jahre als unzureichend kritisiert. Für Postenvorbereitung und Weiterbildung bleibt häufig zu wenig Zeit.

GRAFIKEN_WEB_Memo_03_16zu9_2

Empfehlungen

Strategische Interessen klären

Die nächste Bundesregierung sollte ihre Interessen, Ziele und Maßnahmen in der internationalen Konfliktbearbeitung klarer kommunizieren und kohärenter umsetzen. Zivile Konfliktbearbeitung ist weder mutlose Alternative zu Militäreinsätzen noch ist sie frei von Zielkonflikten und Machtpolitik. Konfliktbearbeitung ist immer „politisch“ und darf sich nicht in floskelhaften Bekenntnissen, lokale Zivilgesellschaft zu stärken, erschöpfen. Stattdessen braucht es mehr integriertes Denken und Handeln. Der Bundestag sollte realistische Zielvorstellungen für Konfliktbearbeitung entwickeln und von der Bundesregierung Ziele einfordern, die sowohl erreichbar sind als auch transformative Möglichkeiten eröffnen. Führende Vertreterinnen und Vertreter der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik sollten Krisenprävention und Konfliktbearbeitung einen höheren Stellenwert in ihren sonstigen bilateralen Treffen einräumen. Wer sich Klarheit über die eigenen Ziele und Interessen verschafft, kann auch gegenüber seinen Partnern selbstbewusster auftreten, wenn diese wie Frankreich im Sahel Terrorismusbekämpfung statt nachhaltige Konfliktbearbeitung priorisieren.

Ressortübergreifende Steuerungsarchitektur ausbauen

Die Mitglieder des nächsten Bundeskabinettes sollten konstruktive Zusammenarbeit vorleben und ziviler Konfliktbearbeitung eine größere Priorität einräumen. Ein gemeinsames Steuerungsgremium auf Kabinettsebene wie ein nationaler Rat für Frieden und Sicherheit könnte zumindest einen Ort bieten, um Zielkonflikte zwischen den gemeinsamen Oberzielen der Bundesregierung explizit zu machen, statt die Kosten von außenpolitischen Entscheidungen unter den Tisch fallen zu lassen. Auf Arbeitsebene können mehr integrierte Strukturen wie der 2019 geschaffene Arbeitsstab Sahel helfen, die unterschiedlichen Ressortperspektiven als Bereicherung und weniger als Konkurrenz zu verstehen. Deren Leiterinnen und Leiter können als Sondergesandte effektiv regionale Diplomatie betreiben. Ein allmählich wachsender gemeinsamer Haushaltstitel für Stabilisierung und Friedensförderung könnte einen Anreiz für mehr Zusammenarbeit von AA und BMZ bieten. Die Bundesregierung sollte ebenfalls Instrumente zur Konfliktbearbeitung dort stärker miteinander kombinieren, wo diese sich gegenseitig ergänzen können, zum Beispiel Vergangenheitsbearbeitung und Friedensmediation.

Auslandsvertretungen und Diplomatie stärken

Die nächste Leitung des Auswärtigen Amts sowie der Haushaltsausschuss des nächsten Bundestags sollten die ausreichende Personalausstattung des Auswärtigen Diensts zu einer größeren Priorität machen, gerade mit Blick auf Referate und Auslandsvertretungen mit Relevanz für konfliktbetroffene Staaten. Dazu braucht es allerdings nicht allein ausreichend Referentinnen und Referenten, sondern auch den entsprechenden Unterbau der anderen Laufbahnen, sprachlich versierte Ortskräfte, eine zuverlässige, sichere IT und ausreichend physische Arbeitsplätze. Eine weitere Öffnung für Quereinsteiger könnte dabei helfen, Menschen mit spezifischen Erfahrungen und Fähigkeiten in der Konfliktbearbeitung, Konfliktanalyse und Friedensförderung über zweijährige Verträge hinaus anzuziehen, abseits des regulären Generalistenprinzips. In den Zielvereinbarungen mit den Auslandsvertretungen sollten Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und Friedensförderung eine größere Rolle spielen. Neben bereits laufenden Weiterbildungen wären diese ein geeignetes Mittel, die Relevanz und Sichtbarkeit des Themas in der sonstigen diplomatischen Arbeit zu erhöhen.

Für Frieden in der Welt!

Deutsche Außenpolitik kann einiges dazu beitragen, weltweit Krisen zu verhindern und Konflikte zu bewältigen. Es lohnt sich, genauer hinzuschauen.

Dieser Text erschien in der Ausgabe 3/2021 der Zeitschrift Internationale Politik.

Der Bundeswehrabzug aus Afghanistan, Waffenlieferungen an die Ukraine, der Nahost-Konflikt: In diesem Bundestagswahljahr dringen außen- und sicherheitspolitische Themen in die öffentliche Debatte. Das erste Zusammentreffen von Annalena Baerbock, Armin Laschet und Olaf Scholz als Kandidatin und Kandidaten für das Kanzleramt drehte sich im Mai sogar nur um europäische und internationale Fragen. Das ist folgerichtig. Spätestens die Corona-Krise hat gezeigt, wie stark unser aller Leben mit internationalen Entwicklungen verbunden ist. Umso mehr gilt: Wer außenpolitisch gestalten will, sollte präventiv handeln.


Krisenprävention im engeren Sinn ist jedoch eher ein Nischenthema in der außenpolitischen Debatte in Deutschland. Fragen zur Sahel-Politik, zu den Entwicklungen in der mosambikanischen Provinz Cabo Delgado oder in Myanmar kommen selbst in außenpolitisch orientierten Runden mit dem politischen Spitzenpersonal eher selten vor. Das Gleiche gilt für spezialisierte Instrumente der Konfliktbearbeitung, in die Deutschland investiert – wie Friedensmediation, zivile Stabilisierung oder Sicherheitssektorreform. Dabei putschte die von der EU ausgebildete Armee in Mali im Mai 2021 zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres. Eine militärische Ausbildungsmission will die EU auch in den Norden Mosambiks schicken, wo eine dschihadistische Gruppe die Bevölkerung terrorisiert. Und in Myanmar warnen die Vereinten Nationen angesichts der blutigen Niederschlagung von Protesten gegen den Putsch vom Februar 2021 vor einem Bürgerkrieg wie in Syrien.


Deutschland ist direkt betroffen

Gewaltkonflikte, Aufstände und staatliche Repression drängen früher oder später auf die innenpolitische Tagesordnung oder schränken die sonstigen Handlungsoptionen ein. Ob Anfragen von Verbündeten, Druck von hiesiger Diaspora, massive Fluchtbewegungen, organisierte Kriminalität, die Gefährdung von Handelswegen und Lieferketten oder steigende humanitäre Bedürfnisse: Es gibt viele Kanäle, durch die internationale Gewaltprozesse Deutschland direkt betreffen.


Dabei gehen Deutschlands eigene Verpflichtung und historische Lehre deutlich tiefer als die Frage, ob ein Konflikt die deutsche Sicherheit unmittelbar berührt. Der Völkermord des sogenannten Islamischen Staates an den Jesiden im Irak, Massaker an der Zivilbevölkerung in Mali oder die gezielte Vertreibung der Rohingya aus Myanmar gehen uns nicht primär wegen möglicher Fluchtbewegungen, eventueller Terrorismusgefahren für Europa oder humanitärer Kosten an. Sich für den Frieden in der Welt und die Würde aller Menschen einzusetzen, ist die Grundbedingung des deutschen Staates, wie sie das Grundgesetz nennt. Die historische Verantwortung Deutschlands nach Shoah und zwei Weltkriegen besteht nicht allein in Vergangenheitsarbeit und Antirassismus im Innern, sondern ist fest in seiner außenpolitischen Identität verankert.


Der pathetische Bezug auf Grundgesetz und deutsche Geschichte mag so manchem Realpolitiker schief erscheinen. Schwierigkeiten mit einer deutschen Führungsrolle einmal beiseite: Haben Interventionen und Stabilisierungsbemühungen der vergangenen Jahrzehnte nicht gezeigt, dass sich Demokratie und Menschenrechte nicht so einfach in autoritäre oder von Stammesbeziehungen geprägte Gesellschaften exportieren lassen? Gab es nicht gerade einen enormen Einsatz von Entwicklungsmitteln, Sicherheitskräften und Diplomatie in Afghanistan, wo jetzt die Taliban mit dem internationalen Truppenabzug Distrikt um Distrikt zurückerobern?


Natürlich ist es richtig, im demokratischen Diskurs den außenpolitischen Anspruch Deutschlands zu kalibrieren. Keiner schlägt die Trommel für eine Berliner Version einer neokonservativen Regimewandel-Agenda, wie sie seinerzeit die US-Regierung von George W. Bush vertrat. Demokratische Entwicklungsprozesse sind komplex und selten gradlinig. Allerdings wäre es zynisch, wenn die Bundesregierung ihren eigenen Einfluss negierte, wenn sie mit korrupten und putschanfälligen Regierungen zur Terrorismusbekämpfung zusammenarbeitet. Deutschland muss nicht immer alle Antworten haben, aber zumindest die richtigen Fragen stellen.


Wer präventiv handeln will, muss gestalten wollen

Gerade weil fragile Kontexte komplex sind und internationale Bemühungen kontraproduktiv sein können, leben sie von Innovation, Kreativität und Mut. „Für eine(n) neue(n) Kanzler(in) mit politischem Gestaltungsanspruch und Mut zu Weichenstellungen bietet gerade das Feld der Krisendiplomatie Ansatzpunkte für überfällige Veränderung“, schrieb Ekkehard Brose, Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, auf dem PeaceLab Blog. Mehr als das negative Ziel, Krisen zu verhindern, die ja auch produktiv wirken können, sollte eine progressive Außenpolitik sich darum bemühen, Wandelprozesse konstruktiv zu begleiten.


Im Konzert mit seinen europäischen und internationalen Partnern hat Deutschland mehr Handlungsmöglichkeiten, als vielen vielleicht bewusst ist. In den vergangenen Jahren ist Deutschland zu einem der größten Geber in Krisenregionen aufgestiegen, oft in Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen und Nichtregierungsorganisationen. 2019 stellte die Bundesregierung laut OECD mehr zivile Mittel für Frieden und Stabilität bereit als die USA oder Großbritannien (nur die EU gab mehr). Damit gehen Steuerungsmöglichkeiten und diplomatische Zugänge einher. Mit seiner begrenzten Kolonialerfahrung, wirtschaftlichen Kraft und offenen Gesellschaft genießt Deutschland in vielen Ländern einen exzellenten Ruf. Die parteinahen Stiftungen und deutschen zivilgesellschaftlichen Organisationen greifen oft tiefer in ihre Gastgesellschaften ein, als Botschaften dies könnten, und bilden langfristige Beziehungen mit sozialen Bewegungen und Parteien aus.
Ende März 2021 veröffentlichte die Bundesregierung einen Zwischenbericht zur Umsetzung der Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“, in dem sie zahlreiche Aktivitäten in dem Bereich auflistet.


Fragiler Übergangsprozess in Sudan

Die Proteste, die im April 2019 den sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir zu Fall brachten und vier Monate später einen zivil-militärischen Übergangsprozess einleiteten, sind ein gutes Beispiel dafür, wie sich Deutschland präventiv gestaltend einbringen kann. In Khartum profitierte die Botschaft von den langjährigen Aktivitäten des Goethe-Instituts und der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES). Aktivistinnen, die Teil des „Young Leaders“-Programms der FES gewesen waren, nahmen führende Rollen in der revolutionären Bewegung ein.


Durch die guten Kontakte wussten die Diplomaten, dass zumindest von der Protestbewegung keine gewaltsame oder ideologische Eskalation zu erwarten war. Heiko Maas war der erste westliche Außenminister, der Anfang September 2019 die zivil-militärische Übergangsregierung traf. Im 30. Jahr nach der friedlichen Revolution in der DDR zogen die Diplomaten Parallelen zwischen der deutschen und der sudanesischen Erfahrung. So  gab es auch eine emotionale Verbindung zu der friedlichen, von jungen Leuten angeführten Protestbewegung mit ihrem Slogan „Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit“.


Kurz nach dem Sturz Bashirs gründeten deutsche Diplomaten die „Friends of Sudan“ als informelle Kontaktgruppe, um das internationale Engagement mit der volatilen Situation eng abzustimmen. Im Juni 2020 richtete Deutschland eine virtuelle Partnerschafts- und Geberkonferenz mit und für Sudan aus, um Mittel für die Reformprozesse einzusammeln. Als nichtständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat verhandelte Deutschland zusammen mit Großbritannien die Einrichtung einer neuen politischen UN-Mission, die den Übergangsprozess seit Anfang 2021 begleitet und von dem Deutschen Volker Perthes geleitet wird.


Die deutsche Rolle in Sudan ist nicht ohne Schatten und Herausforderungen. Im Rahmen des Khartum-Prozesses, eines politischen Dialogs von Herkunfts-, Transit- und Zielstaaten von Migration am Horn von Afrika, sprach die Bundesregierung auch mit der Bashir-Regierung darüber, Menschenschmuggel zu verhindern – was diese als diplomatische Aufwertung sah. Im Gegensatz zu anderen Staaten ernannte Deutschland keinen Sondergesandten für Sudan oder das Horn von Afrika, hat weiterhin sehr begrenzte diplomatische Kapazitäten und konnte die sudanesische Regierung nicht überzeugen, die Friedensmission UNAMID in Darfur über das Jahr 2020 hinaus zu belassen.


Der Übergangsprozess in Sudan bleibt fragil. Allein 2021 starben bereits mehrere hundert Menschen in Darfur bei Angriffen von Milizen und bewaffneten Auseinandersetzungen. Die Sicherheitskräfte könnten die ganze Macht an sich reißen. Doch aus einer islamistischen Diktatur, die Frauen, Minderheiten und Andersdenkende unterdrückte, eine Zeitlang internationalen Terroristen wie Osama Bin Laden eine Plattform bot und für Massaker an der Zivilbevölkerung und Bürgerkrieg mit Hunderttausenden Toten und Millionen Vertriebenen verantwortlich war, ist ein Stabilitätsanker für die Region geworden.


Deutschland kann nicht für sich in Anspruch nehmen, diese Entwicklung vorhergesehen oder herbeigeführt zu haben. Die Sudanesinnen und Sudanesen sind zu Recht stolz auf ihre „home-grown revolution“. Doch die Bundesregierung mobilisierte diplomatische Zusammenarbeit, finanzielle Unterstützung und politische Partnerschaft für einen neuen Sudan, um „alles (zu) tun, damit dieses historische Zeitfenster auch genutzt werden kann“, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrer Pressekonferenz mit Premierminister Abdulla Hamdok im Februar 2020 sagte. Dazu gehörte auch, Staaten wie die Vereinigten Arabischen Emirate oder Saudi-Arabien einzubinden, die eine reine Militärherrschaft in Khartum begrüßt hätten. Eine präventive Einstellung hilft dabei, die eigenen Hebel zu identifizieren und Partner zu mobilisieren.


Drei Weichenstellungen

Das Menschenwürdegebot des Grundgesetzes und die enge internationale Verflechtung Deutschlands verlangen nicht, dass die Bundesregierung jedem Diktator in die Parade fährt. Doch wer außenpolitisch gestalten will, wird im Bereich der Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und Friedensförderung breite Möglichkeiten dazu finden. Drei Weichenstellungen in Politik und Gesellschaft können so ein Engagement weiter unterstützen.


Erstens braucht es möglichst differenzierte Analysen der Interessen, Anreize und Machtquellen der handelnden Akteure in Regierungen, bewaffneten Gruppen und deren gesellschaftlichem Umfeld. Gestaltungsmöglichkeiten entstehen dort, wo Handlungsspielräume klar werden, und seien sie noch so klein. Der nächste Außenminister oder die nächste Außenministerin sollte ihren Apparat anweisen, in Vorlagen häufiger mehrere Handlungsoptionen und nicht nur eine konsensuale Hausmeinung aufzuzeigen.


Zur Analyse gehört auch, politische Gewalt differenzierter zu betrachten. Es macht einen Unterschied, ob Gewaltakteure gezielt gegen die Zivilbevölkerung vorgehen, Gemeinschaften sich gegen Aggression verteidigen oder Bewaffnete direkt aufeinandertreffen. Eine Strategie zur Prävention von Massenverbrechen, wie sie die deutsche NGO Genocide Alert seit Jahren fordert, würde Beamtinnen und Beamten als auch Durchführungsorganisationen bei dieser Sensibilisierung helfen.


Zweitens sollte die Bundesregierung ihre Präventionsarchitektur stärken. Wenn die nächste Koalition einen nationalen Sicherheitsrat auf Kabinettsebene einrichtet, wie einige Parteien vorschlagen, sollte sie ihn eng mit Krisenpräventionsmechanismen verbinden. Dazu gehören regelmäßige Analysen von Eskalations- und Präventionsmöglichkeiten, flexibel einsetzbare Instrumente, ausreichend ausgestattete Auslandsvertretungen und Regionalreferate, ein effizienter Entscheidungs- und bürokratischer Eskalationsprozess sowie die regelmäßige Überprüfung und Reflexion des eigenen Ansatzes. Für alle Mechanismen sollten die zuständigen Ressorts konstruktiver zusammenarbeiten und Instrumente wie die gemeinsame Analyse und abgestimmte Planung von Auswärtigem Amt und Bundesentwicklungsministerium weniger als bürokratische Pflichtübung sehen.


Der in den vergangenen Jahren eingeführte Prozess zur Krisenfrüherkennung bietet ebenfalls ressortgemeinsame Anknüpfungspunkte. Oft bestehen präventive Handlungsspielräume gerade in der Zusammenarbeit zwischen Ressorts, beispielsweise bei wirtschaftlichen Investitionen oder Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel. Zu all diesen Fragen sollte Deutschland eng mit seinen Partnern in EU, AU, UN und den USA zusammenarbeiten, die von ihren Erfahrungen mit dem Aufbau einer bürokratischen und operativen Präventionsarchitektur berichten können.


Drittens sollten die deutsche Zivilgesellschaft und die Bundesregierung konstruktiver in der Konfliktbearbeitung zusammenarbeiten. Sarah Brockmeier und Philipp Rotmann vom Global Public Policy Institute wiesen 2019 darauf hin, dass die Friedensbewegung stärker darauf dringen könnte, „den gesellschaftlichen Großkonsens für Friedensförderung und Krisenprävention in praktisches staatliches Handeln umzusetzen“, um jeden Handlungsspielraum auszunutzen. Umgekehrt tut sich die Bundesregierung mit ihrer zurückhaltenden Kommunikation des eigenen Konfliktengagements keinen Gefallen. Bundestag und Expertinnen und Experten sind mangels Informationen kaum in der Lage, die Aktivitäten der Bundesregierung eingehend zu bewerten – und letztlich wirklich konstruktive Vorschläge zu machen. Zu einer angemessenen Kommunikationsarbeit der Bundesregierung würde auch gehören, eigene Fehlschläge und bewusst in Kauf genommene Kosten des Krisenengagements offenzulegen. Der Zwischenbericht zu den Leitlinien geht darauf praktisch nicht ein.


Krisenprävention geht uns alle an


Ob seine Bürgerinnen und Bürger das wollen oder nicht, Deutschlands Einfluss in der Welt ist gewachsen. Je mehr nationalistische Stimmen bei seinen engsten Verbündeten Auftrieb gewinnen, desto weniger kann Deutschland sich auf Initiativen und Prioritäten seiner Partner verlassen. Eine präventive, gestaltende Außenpolitik darf sich nicht in Floskeln erschöpfen, sondern sollte jeden Spielraum nutzen, um menschliches Leid zu mindern.

Mehr als eine bürokratische Pflichtübung: Ressortgemeinsamkeit in der zivilen Konfliktbearbeitung

Im Rahmen des Leitlinienprozesses haben die Ministerien Schritte zur engeren Zusammenarbeit eingeführt. Trotz Verbesserungen hängen Umsetzung und Erfolg ressortgemeinsamer Abstimmung noch stark vom Willen der involvierten Personen ab. In der nächsten Legislaturperiode sollten Bundesregierung und Bundestag mehr integriertes Krisenengagement einfordern – und selbst vorleben.

Dieser Beitrag erschien am 28.4.2021 auf dem PeaceLab Blog.

Bekenntnisse zu gemeinsamen Zielen sind das eine, vertrauliche Zusammenarbeit das andere. Noch vor wenigen Jahren konnte man den Eindruck gewinnen, dass sich die Kernressorts der Konfliktbearbeitung Äußeres, Entwicklungszusammenarbeit, Verteidigung, Inneres und das Kanzleramt nicht die Butter auf dem Brot gönnten. Man konkurrierte um Partner, Aufmerksamkeit und Ressourcen und lud auch schon mal zu separaten Treffen mit den gleichen Themen am gleichen Tag ein.

Der Leitlinienprozess ist mit merklichen Fortschritten in der Ressortkooperation einhergegangen. Als Teil von neuen ressortgemeinsamen Strategieprozessen kommen die RessortvertreterInnen tatsächlich regelmäßig zu Abstimmungs- und Planungszwecken zusammen. Der am 31. März 2021 veröffentliche Zwischenbericht der Bundesregierung zur Umsetzung der Leitlinien erwähnt diese Mechanismen, allerdings ohne Daten zu liefern, um sie bewerten zu können. Wie ein genauerer Blick auf ein neues Abstimmungsinstrument zwischen AA und BMZ zeigt, gibt es weiterhin strukturelle Hindernisse für wirkliche Kohärenz. Guter Wille allein reicht nicht.

Krisen lassen sich nicht in Ressortkompetenzen aufteilen

Gewaltkonflikte und fragile Kontexte lassen sich nicht sauber in die Kompetenzen von Ministerien untergliedern. Deswegen ist es so wichtig, die eigenen Ansätze in der Konfliktbearbeitung gemeinsam zu entwickeln und ständig zu überprüfen. Was bürokratisch scheinen mag, ist tatsächlich der Raum, in dem unvermeidliche Zielkonflikte ausgetragen werden. Hier wird präventive Politik konkret. Um als einzelner Akteur in komplexen fragilen Kontexten eine signifikante Wirkung zu entfalten, kommt es darauf an, alle zur Verfügung stehenden Hebel, Anreize und Ansatzpunkte miteinander zu verbinden. Für lokale und internationale Partner ist es leichter, sich nur einmal mit Deutschland abstimmen zu müssen und nicht mit verschiedenen Ressorts. Umgekehrt können „schwierige Partner“ ein fragmentiertes Auftreten Deutschlands leichter für ihre Zwecke nutzen. Eine Zusammenarbeit der Ressorts ist deshalb unabdingbar.

Gewaltkonflikte und fragile Kontexte lassen sich nicht sauber in die Kompetenzen von Ministerien untergliedern.

Meine folgenden Aussagen stützen sich auf vertrauliche Gespräche mit Beteiligten aus den Ressorts und Durchführungsorganisationen sowie zentrale Dokumente. Eine systematische Begleitung der ressortübergreifenden Abstimmung könnte noch spezifischere Einblicke zu Tage fördern.

Zwischen ehrlichem Bemühen und Abwehrhaltung: gemeinsame Planung in AA und BMZ

Ein entscheidender Anstoß zur Zusammenarbeit war der starke Anstieg der Mittel in der zivilen Konfliktbearbeitung. Seit 2015 haben sich die drei Titel Übergangshilfe (BMZ), humanitäre Hilfe (AA) und Stabilisierung (AA) (insgesamt knapp 3,3 Milliarden Euro im Haushalt 2021) zusammen mehr als vervierfacht. Im Finanzministerium sorgte man sich um mögliche Doppelungen und Ineffizienzen, da AA und BMZ zunehmend mit den gleichen Umsetzungspartnern ähnliche Projekte förderten. Parallel zur Umsetzung der Leitlinien beauftragte das Bundeskabinett die drei Ressorts AA, BMZ und BMF 2017 daher mit einer sogenannten „Spending Review“. Der Abschlussbericht der drei Ressorts fand jedoch „keine praktisch handhabbaren Lösungsansätze“, um die Projektförderung von AA und BMZ im Krisenkontext abstrakt voneinander abzugrenzen. Daher einigte man sich darauf, sich enger abzustimmen.

Aus dieser Einigung entstand das Konzept „gemeinsame Analyse und abgestimmte Planung“ (GAAP), das AA und BMZ im Mai 2019 beschlossen. Die beiden Ressorts wenden das GAAP-Verfahren laut Umsetzungsbericht derzeit für 16 Schwerpunktländer und bezüglich ihrer Unterstützung für die Afrikanische Union an. Für die Analyse teilen die zuständigen Länderreferate der beiden Häuser ihre eigenen Analyseprodukte. In jährlichen Planungstreffen legen sie auf Grundlage eines gemeinsamen Lagebilds Oberziele bezüglich des deutschen Interesses, des Bedarfes vor Ort sowie deutscher Einflussmöglichkeiten und Handlungsoptionen fest. Für konkrete Programme und Projekte tauschen AA und BMZ Projektskizzen aus. Eine zentrale Rolle für die Koordination der Projekte vor Ort übernehmen die Auslandsvertretungen. Im Gegensatz zu den überwiegend getrennt arbeitenden Ministerien in Bonn und Berlin haben die Botschaften integrierte Strukturen mit vom BMZ (und ggfs. weiteren Ministerien) abgeordneten VertreterInnen.

Insgesamt spricht der Bundesrechnungshof von einer „Abwehrhaltung“ der Ressorts, statt die zusätzlichen Steuerungsmechanismen als Gestaltungsmöglichkeit zu begreifen.

Bislang fällt die Zwischenbilanz zur Praxis des GAAP-Konzepts gemischt aus. Gesprächspartner in beiden Häusern heben ein ehrliches Bemühen der beteiligten Referate und Personen hervor, die Gemeinsamkeiten in den Vordergrund zu stellen. Doch der Erfolg des Austausches sei stark von den jeweils beteiligten Personen abhängig. Bei Ländern, zu denen es bereits eine intensive Zusammenarbeit gibt und sich die zuständigen BeamtInnen gut kennen, liefe es recht reibungslos (z.B. zu Irak und Nigeria). Andere sähen den Austausch eher als bürokratische Pflichtübung, die viel Zeit koste. Das zeigt sich auch an der zögerlichen Umsetzung: Das AA brauchte zehn Monate, um den GAAP-Beschluss in einem Runderlass intern aufzugreifen, während das BMZ die Liste seiner Partnerländer im Rahmen seines „BMZ 2030“-Konzepts ohne Einigung mit dem AA anpasste. Insgesamt spricht der Bundesrechnungshof von einer „Abwehrhaltung“ der Ressorts, statt die zusätzlichen Steuerungsmechanismen als Gestaltungsmöglichkeit zu begreifen.

Institutionelle, organisationskulturelle und konzeptionelle Unterschiede verhindern eine engere Zusammenarbeit

Das Grundgesetz sieht ein hohes Maß an Autonomie der MinisterInnen vor, die selbst für ihren Aufgabenbereich gegenüber dem Parlament verantwortlich sind. Die Bundeskanzlerin kann zwar über Meinungsverschiedenheiten ihrer KabinettskollegInnen entscheiden, aber nicht in deren Kompetenzbereich Maßnahmen ergreifen. MinisterInnen können ihren Spielraum durch „geschickten Umgang mit der Öffentlichkeit“ erhöhen, wie sogar die Seite der Bundesregierung schreibt. Die Entscheidung von Entwicklungsminister Gerd Müller im Februar 2020 nach einem Besuch eines Camps von Rohingya-Geflüchteten in Bangladesch die Entwicklungszusammenarbeit mit Myanmar einzustellen, ohne sich vorher mit dem Auswärtigen Amt zur politischen Einbettung abzustimmen, könnte man zum Beispiel einem entsprechenden Profilierungsanreiz zuschreiben.

Eine Folge der scharfen Trennung der Ressorts sind merkliche Unterschiede in der Organisationskultur und den Prozessen. Das BMZ ist es gewohnt mit Umsetzungspartnern zu operieren, während das AA nach dem Mittelzuwachs der letzten Jahre noch nach den effizientesten Verfahren sucht. Vorhaben des BMZ sind auf dessen Website für jedes Partnerland abrufbar; das AA hat bislang noch nicht einmal eine öffentlich verfügbare Strategie für seine Stabilisierungsprojekte. Der Elefant im Raum ist eine mögliche Zusammenlegung von AA und BMZ wie in anderen Ländern. In der Union kursieren bereits entsprechende Ideen. Besonders im BMZ gibt es erhebliche Bedenken, dass eine Zusammenlegung mit einem Bedeutungsverlust einer nachhaltigen Entwicklungszusammenarbeit einhergehen könnte. Großbritannien, das gerade seine Ministerien zusammenlegte und kurz darauf die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit kürzte, erscheint als abschreckendes Beispiel.

Schließlich sind unterschiedliche Ziellogiken der zentralen Ansätze in Krisenkontexten in AA und BMZ ein weiterer Faktor, der engere Zusammenarbeit erschwert. Stabilisierung im Sinne des AA zielt darauf ab, politische Prozesse in Gewaltkonflikten zu beeinflussen und legitime politische Autoritäten zu stärken, häufig auf nationaler oder grenzüberschreitender Ebene. Im Zentrum stehen politische Opportunitäten und eine enge Steuerung mit hoher Flexibilität. Die strukturbildende Übergangshilfe des BMZ orientiert sich hingegen stärker an lokalen Bedürfnissen und will die Resilienz von Menschen in fragilen Kontexten fördern. Verbindlichkeit und Verlässlichkeit der Zusagen sind wichtiger als die kurzfristige Anpassung von Projekten.

Es braucht mehr politischen Druck zur Zusammenarbeit

Diese Hindernisse sind nicht unüberwindlich. Bundestag und Bundesregierung sollten mehr Anreize für ressortgemeinsames Handeln schaffen, nicht nur in der zivilen Konfliktbearbeitung.

Ein gemeinsamer Haushaltstitel für zivile Konfliktbearbeitung würde auf der institutionellen Ebene ansetzen, indem er ressortgemeinsame Analyse, Planung und Steuerung zur Voraussetzung für die Finanzierung von Projekten machen könnte. Um den laufenden Verständigungsprozess zwischen AA und BMZ in diesem Feld zu unterstützen, sollte so ein Fonds mit überschaubaren Mitteln starten und allmählich wachsen. Das primäre Ziel sollten politische Gestaltungsmöglichkeiten, nicht Kosteneffizienz wie beim Spending Review sein. Als Lehre aus einem ähnlichen Fonds in Großbritannien sollten die Ressorts transparent über die Mittelvergabe berichten und klare Standards für Wirkungsorientierung und Rechenschaftspflicht einführen.

Die unterschiedlichen Herangehensweisen lassen sich jedoch nicht durch Strukturreformen wegwischen. Ihnen zugrunde liegen zumeist echte Zielkonflikte in der Konfliktbearbeitung.

Politische Führung und integrierte Strukturen können dabei helfen, die unterschiedlichen Perspektiven und Kulturen einander anzunähern. Wichtiger als neue Institutionen ist hier vor allem eine Arbeitskultur des Miteinanders auf allen Ebenen. Die zuständigen MinisterInnen müssten Gemeinsamkeit bereits auf ihrer Ebene vorleben, zum Beispiel durch gemeinsame Reisen und Termine. Auf Arbeitsebene sollten die Ressorts die Erfahrungen mit dem Arbeitsstab Sahel, der derzeit einzigen integrierten Arbeitseinheit mit MitarbeiterInnen verschiedener Ressorts und Abteilungen, systematisch auswerten. Zudem sollten die Ressorts Auslandsvertretungen, denen als integrierte Einheiten eine entscheidende Rolle in der Ressortzusammenarbeit zukommt, mit mehr Personal ausstatten.

Die unterschiedlichen Herangehensweisen lassen sich jedoch nicht durch Strukturreformen wegwischen. Ihnen zugrunde liegen zumeist echte Zielkonflikte in der Konfliktbearbeitung. Hier braucht es vor allem Orte in der Bundesregierung, im Parlament und in der Öffentlichkeit, um diese Konflikte offenzulegen und Herausforderungen zu diskutieren. Der nächste Bundestag sollte dafür den bisherigen Unterausschuss für zivile Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und vernetztes Handeln aufwerten und den Austausch mit den anderen relevanten Hauptausschüssen stärken. Der neue Ausschuss sollte sich von der Bundesregierung regelmäßig berichten lassen, wie ihre ressorteigenen Instrumente sich ergänzen und abgestimmte Wirkungslogiken einfordern. Denn Krisenprävention funktioniert am besten gemeinsam.

Counter-Diplomacy: the many ways to say no

Book chapter published in: J.E.Spence/Claire York/Alastair Masser (eds.): New perspectives on Diplomacy. A new theory and practice of diplomacy, London, I.B.Tauris, p.141-159.

Rwandan troops arrive in South Sudan for deployment in Regional Protection Force, Juba, 8 August 2017. South Sudan’s obfuscation and deferment of international obligations regarding the deployment of the RPF is an example of counter-diplomacy. UN Photo UN7156547

Diplomacy as the professional practice of representing institutional interests, usually on behalf of states through negotiation and communication, builds on a rich corpus of conventions, rules, and norms. Over the past three decades or so, international society has seen an increasing legalization and institutionalization of world politics, including in the field of peace and security.[i] Human rights and human protection norms have gained considerable traction,[ii] even though their evolution is not linear, and their implementation is far from consistent. Faced with such depth of international interventionism, some states deploy what we can call counter-diplomacy. According to Barston, ‘the purpose of ‘counterdiplomacy’ is the use of diplomacy to evade or frustrate political solutions or international rules.’[iii] What are the main features of counter-diplomacy, its origins, practices and consequences for the conduct of principled diplomacy? That is the focus of this chapter.


[i] Abbott, Kenneth W., Robert O. Keohane, Andrew Moravcsik, Anne-Marie Slaughter and Duncan Snidal  (2000), ‘The Concept of Legalization’, International Organization,  3 (54): 401-419.

[ii] Bellamy, Alex J.  (2016), ‘The humanisation of security? Towards an International Human Protection Regime’, European Journal of International Security,  1 (1): 112-133, Kurtz, Gerrit and Philipp Rotmann  (2016), ‘The Evolution of Norms of Protection: Major Powers Debate the Responsibility to Protect’, Global Society,  1 (30): 3-20.

[iii] Barston, Ronald Peter (2013), Modern diplomacy, 4th Ed., New York: Routledge, 5.

To read more, you can buy the book here.


What comes after the revolution?

Two years after the overthrow of al-Bashir, Sudan’s political transition is still extremely volatile — and needs more targeted international support

This text was published by IPG Journal on 9 April 2021.

By Philipp C. Jahn and Gerrit Kurtz

11 April 2019 was a day of great emotion in Khartoum. At noon, the then-Vice President Ibn Auf announced the arrest of President Omar al-Bashir. The residents of Khartoum celebrated the end of his 30-year rule by holding a sit-in in front of the military headquarters.

In the evening, however, the mood shifted when the putschist military council announced two years of military rule. The protests continued. The sit-in grew into a tent city until it was forcibly evicted on 3 June. Only then did the military and the representatives of the protest movement agree on a civilian-military transitional government.

Two years after the overthrow of al-Bashir, the question of Sudan’s political system is still as acute as back then. So far, the interim government, led by Prime Minister Abdalla Hamdok, has undertaken reforms in three areas: economy, peace and democracy.

A world of no alternatives

Hamdok’s first government after the revolution was dominated by technocrats from international financial institutions. Under their leadership, Sudan achieved some important preliminary successes.

The US removed Sudan from its list of states sponsoring terrorism. The World Bank organised a trust fund into which international donors could deposit aid payments to cut down government subsidies. The International Monetary Fund began a structured advisory programme. All of these were steps to reduce Sudan’s extremely high debt, which Bashir had amassed to stay in power. Sudan was required to reduce its debt with international financial institutions before they could provide the government with new funds. Without this budget support, the Sudanese state would face bankruptcy.

However, in the short term the economic reforms have hit the people of Sudan hard. The government cut high subsidies for diesel and petrol and devalued the Sudanese pound against the US dollar by almost 700 per cent. The prices for everyday goods skyrocketed.

Since its independence, Sudan has seen several cycles of democratic rule, military coup, and revolution.

Moreover, the economic reform process is taking place with little public participation. A national economic conference had to be postponed because of the impending Covid-19 pandemic. When it took place six months later, civil society participants were left with the feeling that their only choice was to consent to the reform programme agreed with the IMF. Protests were directed against the rapid removal of subsidies and demanded greater financial contributions from the security forces, which were heavily involved in the economy. Without external funding, however, the government had no alternative but to cut subsidies.

An ambiguous peace agreement

At the beginning of October 2020, a number of rebel groups and the government signed the Juba Peace Agreement, which has had an ambiguous effect on Sudan’s transition process so far. On the one hand, with its implementation, representatives of long-standing rebel groups have now become part of the transitional government. The cabinet, newly appointed by Prime Minister Hamdok in February 2021, is now considered significantly more ‘political’, as it now also includes prominent representatives of political parties.

On the other hand, the price for the peace agreement can’t be underestimanted, especially since it currently contributes little to make the peripheral regions in the west, east and south of Sudan more secure. The deal resets the clock of the 39-month transition process back to zero. It’s now expected to end early 2024, when an elected government is supposed to take over. The government estimates the peace deal will cost $7.5bn over the next ten years. Because they no longer had their own troops in Sudan, groups of signatories recruited to such an extent that the responsible UN sanctions committee felt compelled to admonish them publicly.

At the same time, some key groups are not yet part of the peace agreement: the groups that are still involved in violence in Darfur, as well as the SPLM-North group led by Abdelaziz al-Hilu, which has the most armed fighters any Sudanese rebel group. Al-Hilu signed a declaration of principles with the government in late March. However, a full peace agreement will continue to cost time and money.

An authoritarian backlash remains possible

Despite their shortcomings, international actors as well as the transitional government regard the reforms in the areas of economy and peace as contributions to democratic development. The reason lies in the history of Sudan.

Since its independence, Sudan has seen several cycles of democratic rule, military coup, and revolution. Clear parallels to the current transition period were seen in the last period of democratic rule in the late 1980s under the leadership of the Umma Party. The civilian government inherited a massive economic crisis from the military rule of Jafar an-Numairi, which was accompanied by import difficulties, productivity losses, food shortages and protests. Civil war raged in many parts of the country. Omer al-Bashir used the instability as a pretext for his coup on 30 June 1989.

A developmental state, on the other hand, could be an attractive offer from the Sudanese elite to the starving population, but also the international donor community.

In other words, it is by no means a foregone conclusion that there will again be a democratic regime after the economic and peace reforms. In fact, from a regional perspective, this even appears to be unlikely.

In today’s political discussions in Sudan, two models of authoritarian rule from its immediate neighbourhood are being repeatedly brought up. The rapid failure of the Egyptian revolution and the elected government of Mohammed Morsi serves as a chilling example of a renewed path to military dictatorship. Some politicians consider the Ethiopian model of a developmental state to be more attractive. The indeed impressive economic growth in Ethiopia over the past three decades has taken place with a de facto one-party government with little room for political opposition.

Both models – a military dictatorship and an authoritarian developmental state – are possible pathways in Sudan today. In the summer of 2020, the head of state, General Abdelrahman Burhan, already threatened that the military could take over the business of governing altogether. After all, both Burhan and protesters blamed the continued economic crisis primarily on the Hamdok-led cabinet. However, the military would also be dependent on a successful debt relief process and access to international financial markets.

A developmental state, on the other hand, could be an attractive offer from the Sudanese elite to the starving population, but also the international donor community. It could be accompanied by political stability and economic growth as a result of good cooperation with the international financial institutions. Prime Minister Hamdok, who is familiar with the Ethiopian model from his time at the UN in Addis Ababa, has already brought a democratic developmental state into play.

The transformation needs an inclusive political process

Economic reforms and a peace process along will not move Sudan toward becoming a democratic developmental state. As Volker Perthes, the head of the UN political mission in Sudan (UNITAMS), repeatedly said, this will require an inclusive political process. The transitional government and its democratically minded international partners can provide incentives to facilitate it.

Participation, dialogue and political organisation cannot be limited to negotiating access to institutions within elites. Purely technical and financial support for elections, for which the EU has already reserved €350 million, is not enough. Elections have also taken place in Sudan before.

For a stable and legitimate government to emerge from the elections, there needs to be properly functioning competition among political parties. One lesson from Egypt was that a relatively short transition process privileges whichever political (opposition) force was best organised before the change in power. In Egypt, this was the Muslim Brotherhood; in Sudan it probably applies to the Umma Party and the Communist Party.

What the Sudanese social order should look like can and must only be determined by the Sudanese themselves.

The transitional government could set up a state-funded but independently controlled mechanism to strengthen the development of political parties. Funding for this mechanism could come, for example, from the profits of enterprises that the Ministry of Finance will take over from the security forces during the transition, or from Sudan’s established business families.

These subsidies for political parties could provide an incentive to strengthen intra-party democracy, empower hitherto underrepresented social groups (especially women), broaden the membership base, make party donations more transparent, and promote alliances among the roughly 100 small and micro parties. International actors could support training courses and projects for self-organisation and participation down to the constituency level. After the elections, the new government could transform the mechanism into a permanent form of democratically secured party funding.

Democratisation does not take place overnight

Despite all the justified enthusiasm for the innovative strength and perseverance of the revolutionary movement in Sudan, one should not harbour any illusions: the democratic development and the associated change in the political culture in Sudan will take at least a generation. The ethnic, tribal, religious and regional identity will remain an important political marker for the foreseeable future, especially for previously marginalised segments of the population.

In the short run, elections may even lead to patronage networks and identity politics becoming more important. Parties could degenerate into mere voting machines that help elites secure their power instead of enabling broad political participation. Therefore, a well-organised protest movement will continue to be necessary to fight for a progressive, egalitarian social order.

What the Sudanese social order should look like can and must only be determined by the Sudanese themselves. International support for the Sudanese-led and designed transition process should at least be complementary to a democratic transformation. Incentives for participation, dialogue and debate need to be essential components of international cooperation with Sudan.

Philipp C. Jahn manages the country office of Friedrich-Ebert-Stiftung in Khartoum, Sudan. Gerrit Kurtz is research fellow for crisis prevention and diplomacy in Africa at the German Council on Foreign Relations (DGAP) in Berlin.