Äthiopien: „Der nationale Dialog trägt zurzeit wenig bei“

Interview bei Africa.Table, 15.Oktober 2024

Gerrit Kurtz von der Stiftung Wissenschaft und Politik sieht keinegute Perspektive für den nationalen Dialog in Äthiopien, der denVielvölkerstaat eigentlich zusammenbringen soll. Im Gespräch mitMerga Yonas spricht er über Konfl ikte sowie über die Ängste undSorgen der Bevölkerung.

Herr Kurtz, Sie haben vor kurzem einen Artikel über den nationalenDialog in Äthiopien veröffentlicht. Warum halten Sie es gerade jetztfür wichtig, den nationalen Dialog in Äthiopien zu thematisieren?
Der nationale Dialog ist ein zentrales Vorhaben der Regierung. DasNarrativ der Regierung ist, dass dieser ein wesentliches Instrumentist, um die grundsätzlichen Konfl ikte, die das Land seit Jahrhundertenbewegen, anzugehen. Die äthiopische Bevölkerung und auchäthiopische Oppositionsgruppen müssen einen Umgang mit demDialog fi nden. Auch Äthiopiens internationale Partner suchen nacheinem konstruktiven Umgang mit den Konfl ikten im Land, damitÄthiopien nicht nur innerlich stabiler wird, sondern damit auchwieder mehr in die regionale Sicherheit investieren kann. Dafür sollteeigentlich ein solcher Prozess wie der nationale Dialog eine wichtigeRolle spielen.


Sie haben in Ihrer Veröffentlichung erwähnt, dass das Ziel desnationalen Dialogs darin besteht, die Bevölkerung hinter Abiys Einheitskonzept zu versammeln. Wie realistisch wird das sein?

Das ist genau das Problem: Im Moment hat der nationale Dialog sehrgeringe Chancen, zur Einigung des Landes beizutragen. Niemand istgrundsätzlich gegen die Herstellung eines nationalen Konsenses. DasProblem ist, dass diese nationale Einigung unter der Hegemonie Abiysbeziehungsweise der Prosperity Party stattfi nden soll. Es gibt sehr vielMisstrauen bei der Bevölkerung, bei bewaffneten Gruppen undanderen Oppositionsgruppen gegenüber dem nationalen Dialog, weildas Parlament, das die Kommission eingesetzt hat, massiv von derProsperity Party dominiert wird. Solange die Dominanz des gesamtenStaatsapparats durch die Regierungspartei so stark ist, wird es immerein hohes Misstrauen geben. In der Theorie ist der Dialog ein gutesInstrument, in der aktuellen Praxis gibt es sehr viele Fragezeichen.


Wenn Dialog hilft, Frieden zu schaffen, warum arbeitet die Regierung dann dagegen?
Ich glaube, es gibt eine komplexe Motivlage. Klar, die schärfstenKritiker würden sicherlich sagen, die Regierung hat den nationalenDialog nur geschaffen, um internationale Geber oder auchinnerstaatliche Kritiker zu besänftigen. Das funktioniert offensichtlichnicht. Die Leute, die den nationalen Dialog durchführen, meinen esdurchaus ernst. Es ist aber auch so, dass ein solcher Dialog ungewohntist, in dem Sinne, dass er eine staatsferne öffentliche Sphärevoraussetzt, bei der auch das Regierungshandeln infrage gestelltwerden könnte. Daher kommt dann auch dieser Widerspruch.


Die Opposition befürchtet, dass die Regierung den Dialog nutzen könnte, um Verfassungsänderungen durchzusetzen. Wenn sich diese Befürchtungen bewahrheiten, was wird dann aus der Regierung Abiy und dem Schicksal der Menschen in diesem Land?

Die Befürchtung der Oppositionsparteien ist eben, dass es Verfassungsänderungen gibt, mit denen sie nicht einverstanden sind,beispielsweise könnten einige der großen Bundesstaaten verkleinert werden oder das Prinzip des Ethno-Föderalismus gestrichen werden.Oder dass statt eines parlamentarischen Systems ein Präsidialsystemeingeführt werden könnte. Aber es ist ja noch nicht klar, welcheÄnderungen überhaupt angestrebt werden. Das kann man jetzt auchnoch nicht konkret sagen. Das löst diese Sorgen aus. Ich kann erstmalnur über diese berichten, die wiederum Ausdruck des Misstrauens inTeilen der Bevölkerung sind.


Die Menschen befürchten, dass der Dialog als Instrument benutztwerden könnte, um Artikel 39 der Verfassung abzuschaffen, der ein uneingeschränktes Recht auf Selbstbestimmung, einschließlich des Rechts auf Sezession, verspricht. Haben die Menschen bei Ihren Recherchen solche Befürchtungen geäußert?
Das ist genau die Sorge, dass es eine weitere Zentralisierung geben könnte. Die Transformation der früheren Regierungskoalition derEPRDF zur jetzigen Regierungspartei der Prosperity Party wird da alsein entsprechendes Zeichen gesehen. Im Gegensatz zur EPRDF ist diePP stärker hierarchisch an der Führung des Premierministersorientiert. Gleichwohl hat die aktuelle Regierung ja auch dieAnwendung der weiteren Selbstbestimmung im Süden des Landeszugelassen, wo neue Bundesstaaten entstanden sind.


Warum unterstützen Deutschland und NGOs wie die Berghof-Stiftung weiterhin die Kommission, obwohl sie bereits wussten, dass die Kommission auf dem falschen Weg ist?

Die Unterstützung ist ja genau darauf ausgerichtet, die
Kommissionsmitglieder zu unterstützen, den Prozess effektiver und
glaubwürdiger zu machen. Das Ziel ist nicht, damit per se die
Regierung zu unterstützen. Man sieht das Potenzial des nationalen
Dialogs und nicht viele Alternativen, die einer konstruktiven
Friedensförderung zumindest dienen könnten. Ich glaube, dass die
Gefahr noch nicht so groß ist, solange die Kommission Konsultationen
durchführt. Der mögliche Schaden würde erst eintreten, wenn daraus
Empfehlungen kommen oder wenn die Regierung diesen nationalen
Dialog beispielsweise für Verfassungsänderungen nutzen sollte oder
für andere politische Entscheidungen. Aus der deutschen und
internationalen Unterstützung entsteht natürlich auch eine gewisse
Legitimierung für den Prozess. Deswegen ist es so wichtig, dass diese
Partner genau beobachten, um nicht für eine autoritäre
Konsolidierung eingespannt zu werden.


Ist ein Dialog in der jetzigen Form und in dem Verfahren der
Kommission möglich? Wenn nicht, was sind die Alternativen?

Die hohen Ambitionen, welche das äthiopische Parlament für den nationalen Dialog formuliert hat, werden sicher nicht eingelöst werden. Im besten Fall könnte dieser Prozess auch eher den Rahmen dafür schaffen, nationale Streifragen in Zukunft konstruktiv auszutragen. Danach sieht es im Moment aber überhaupt nicht aus. Die äthiopische Regierung riskiert damit, dass einige der Streitfragen auch weiterhin gewaltsam ausgetragen werden und sich die Fliehkräfte vergrößern könnten. Alternativen könnten zumindest Dialoge auf lokaler und bundesstaatlicher Ebene sein, um die dortigen Streitfragen systematisch anzugehen, auch wenn Fragen der nationalen Identität, verfassungsmäßigen Ordnung und des politischen Systems aufgrund des autoritären Kontexts nicht offen besprochen werden können.

Dr. Gerrit Kurtz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Kurtz hat in Friedens- und Konfliktstudien am King’s College London promoviert. Vor kurzem hat er einen Artikel über die Herausforderungen des nationalen Dialogs in Äthiopien veröffentlicht.

Regionale Spannungen am Horn von Afrika, was ist da los?

“Sowohl für Äthiopien als auch für Ägypten und Somalia geht es auch um Einflussnahme, um eine Drohgebärde, um auf eine andere Art und Weise ihre Ziele zu erreichen.”

Interview mit Deutschlandfunk Kultur, Weltzeit, 10.Oktober 2024 (ab Minute 17:16)

The Narrow Limits of Ethiopia’s National Dialogue

In its current form, the process will do little to address the country’s structural problems.

SWP Comment 2024/C 32, 05.08.2024

Ethiopia has long been in a period of upheaval characterised by massive levels of violence. Relations between the largest ethnic groups are in flux, as is their relationship with the government. The state lacks legitimacy in the central regions of the country, its monopoly on the use of force is contested, and it does not have enough financial resources to provide for the population on a nationwide scale. The national dialogue is intended to facilitate Ethiopia’s transformation and increase support for the state among the population. However, the conditions for a confidence-building dialogue are not in place, given the armed uprisings in the two most populous states of Amhara and Oromia; the severely restricted independence of the media and free­dom of expression; and the dominance of the ruling party in parliament and society. An additional structured dialogue at the level of the most important political players could mitigate one of the main weaknesses of the process. International actors who, like Germany, support the national dialogue should be careful not to allow themselves to be used for authoritarian consolidation.

On 4 June 2024, the first event of the regional phase of the national dialogue at the level of the federal states and city admin­istrations concluded in Addis Ababa. The aim of the overall process is to identify the most important issues that are driving the country apart, determine possible solutions, and nominate representatives for the last round of consultations at the national level. The event in Addis Ababa alone was attended by more than 2,000 people who had been delegated from previous meetings at the local level in the city of Addis Ababa. Similar events are to follow in the other federal states.

The national dialogue is a central project of Prime Minister Abiy Ahmed’s government, which hopes that the dialogue can make a decisive contribution towards paci­fy­ing the country, increase the legitimacy of the state across the entirety of Ethiopian society, and thus also boost economic devel­opment. The overarching goal is to rally the population behind Abiy’s idea of national unity. The dialogue can only take place within the narrow confines of the government’s continued hegemony.

State and society under stress

Abiy has not succeeded in uniting Ethiopia in recent years. On the contrary, his style of governance, the way he has fought insur­gencies, and delayed economic reforms are partly responsible for the conflicts, vio­lence, and existential hardships in parts of the country. The Ethiopian state crisis that brought Abiy to office has been exacerbated by some of his actions.

Contrary to Abiy’s pan-Ethiopian rhetoric, the country continues to be characterised by its orientation along ethnic (or “national”) identities. The ethnic federalism enshrined in the 1995 constitution con­tinues to play an important role in terms of gaining access to state power. A new nation­al narrative has not yet been established. Instead, polarisation and a zero-sum men­tality characterise politics, as even Ethiopia’s National Security Council has noted. A greater role for one ethnic group is seen by others as a decline in their own level of influence. This is particularly evident in the rise of Oromos in politics after Abiy took office, a development that is viewed criti­cally by traditional elites from Amhara and Tigray.

But Abiy’s style of governance is based less on the hegemony of one ethnic group (although some accuse him of favouring Oromos in government and state enterprises) and more on shifting partnerships, in line with his understanding of pragmatic power politics. However, in a context char­acterised by a zero-sum mentality and a lack of national identity, Abiy’s trans­actional politics is alienating former sup­porters, especially in Amhara and Oromia. It is also fuelling conflict within ethnic groups between those who are cooperating with the government and those who are turning away in disappointment. Abiy himself accused the opposition of plotting a coup in early July.

Both the government and some elements of the opposition see violence as a legitimate means of conflict resolution. This atti­tude was reflected not only in the war in the north of the country between 2020 and 2022, but also in the uprisings in Oromia and Amhara. Although the government has recognised that it must also focus on nego­tiations with the armed groups, it always aims to do so from a position of military strength. For example, the Pretoria Agree­ment with the Tigray People’s Liberation Front (TPLF) was signed in November 2022, when the army was already close to Tigray’s capital, Mekelle.

At the same time, the way in which the government fights insurgencies tends to fuel conflicts. In the war against the TPLF, the government fought in conjunction with paramilitary forces and irregular Fano units from Amhara. When these Amhara regional militias were to be demobilised and dis­armed after the Pretoria Agreement, many of the units refused because they saw the agreement as a betrayal of Amhara inter­ests. The Fano were able to attract a con­siderable number of these well-trained paramilitary fighters, which enabled them to hold their own against the government army. Since then, the insurgents have con­trolled large parts of the rural areas and been able to occasionally advance into towns such as Amhara’s regional capital of Bahir Dar and the UNESCO World Heritage Site of Lalibela.

The government forces pose a significant threat to the civilian population in these conflict areas. The UN High Commissioner for Human Rights holds them responsible for 70 per cent of the human rights vio­lations that it documented in Ethiopia in 2023. The Ethiopian Human Rights Com­mis­sion reported about the extrajudicial killings by state security forces and mass arbitrary arrests in Amhara, Oromia, and Addis Ababa. In addition, the use of drones, which has resulted in high numbers of civilian casualties, has been criticised. There are reports that the army frequently kills civilians indiscriminately when it is unable to apprehend Fano rebels in Amhara. All of this is fuelling further resistance from the affected population.

Although the government is investing in prestigious projects in Addis Ababa, it is leaving large sections of the population behind. More than 21 million people in Ethiopia are dependent on humanitarian aid. In some parts of the country, there is acute food insecurity as a result of drought, conflict, and poor macroeconomic con­ditions. Although inflation has fallen since last year, it remains high at 22.7 per cent, particularly for food (19.9 per cent overall). Driven by rising prices, high unemployment, and restrictions on the freedom of movement, criminal violence is spreading. State institutions have withdrawn from some conflict areas. In the area surrounding Addis Ababa, the danger of becoming a victim of kidnapping is so great that many people no longer dare to leave the capital by land.

Economic relief can be provided through a recent external credit facility agreement with the IMF, budget support from the World Bank, as well as debt restructuring by donors. After years of negotiations, the government has accepted key reform conditions. In July, the National Bank of Ethiopia introduced a new, more flexible monetary policy to fight inflation and floated the exchange rate of the Ethiopian birr. The delay of these reforms had para­lysed private-sector productivity and dis­torted the economy. It will now be key to keep inflation in check and boost social and economic spending.

Very high ambitions for the national dialogue

In principle, the format of a national dialogue can accompany and promote far-reaching political change processes. In a context characterised by violence and repression, dialogue can offer a way to negotiate differences in a peaceful manner. It can also facilitate the opening up of political space by enabling the broader participation of civil society compared to negotiations among just elites. The over­arching objective plays an important role here. Is the aim to reach a consensus on fundamental issues or to create a mechanism for constructively – or at least peace­fully – resolving differences that are deeply rooted in history and identity? The establishment of a national dialogue can help a society to find a framework for its conflicts without necessarily resolving them.

The first initiatives to bring about such a dialogue after Abiy took office in April 2018 were constructive. Political prisoners were released, legislation for non-governmental organisations was relaxed, and opposition politicians returned from exile at the invi­ta­tion of the government. Efforts were made in civil society to organise an inclusive dialogue. To this end, informal and pre­para­tory seminars and workshops were held in 2019 and early 2020. There were also other activities that received the support of the government. In October 2020, a Multi-stake­holder Initiative for National Dialogue (MIND) was formed that included the Des­tiny Ethiopia Initiative, which acted as the secretariat; a number of civil society dia­logue initiatives; the Ethiopian Reconciliation Commission; the Ministry of Peace as the government representative; and the Joint Council of Political Parties (i.e. the opposition parties).

War broke out in Tigray at the beginning of November 2020. The armed conflict was accompanied by a significant polarisation of society and restrictions on the public sphere. Nevertheless, the government con­tinued to push ahead with the dialogue project. On 29 December 2021, the House of Peoples’ Representatives – the lower cham­ber of parliament – passed a proclamation that provided the mandate for the Ethiopian National Dialogue Commission (ENDC). The ENDC took up its work in February 2022. Its term of office is three years. The man­date sets out three overarching goals: to build a “national consensus” on the “most fundamental national issues”, to create trust among the ethnic groups as well as between them and the state, and to pave the way for a culture of dialogue. The ambitions could hardly be higher, as “internal problems that have been simmering for centuries”, accord­ing to the parliament’s declaration, are to be solved through this new culture of dia­logue.

The government itself emphasises that a successful national dialogue would mean significant changes to the way in which fundamental political and social differences have been dealt with up to now. Abiy spoke of how a culture of dialogue could dissolve the strict division between “winners and losers” that has prevailed in Ethiopia to date. However, Abiy’s image of himself as a peacemaker and reconciler of the nation does not match the behaviour of his govern­ment.

The Commission’s approach

The ENDC took a while to find its feet, define its work, and build trust with key stakeholders. Added to this was the logis­tical challenge of holding hearings through­out the country. This was also a learning process for the Commission, ac­cording to those involved. The only output is to be a public final report to parliament and to the government, with the ENDC also devel­oping a system to monitor the imple­menta­tion of the expected recommendations.

The basic design envisages a three-stage process: Events are initially held in all of the 769 districts (woredas), then at the level of the twelve federal states and the two federal cities (Addis Ababa and Dire Dawa), and finally the actual dialogue at the nation­al level. The ENDC is supported in its work by an advisory committee and a secretariat. Experts in constitutional issues attend the events in order to enable the participants to hold an informed discussion.

The hearings at the woreda level followed a standardised pattern. Cooperation part­ners invited a cross-section of the population, around 3,000 people, who exchanged views in rooms of 50 people each. After a briefing, these smaller groups themselves decided who would moderate, report, and who would be nominated for the next level up. The groups were categorised according to 10 demographic and socio-economic criteria, such as being women, young people, displaced persons, teachers, or representatives of the private sector, the public sector, or the subsistence economy (herders and farmers). Commission members accompanied these meetings, which were minuted and recorded for further processing.

In this way, the ENDC said it reached around one hundred thousand people (originally 1.5 million were planned). With the exception of Amhara and Tigray, all federal states were represented. According to the government, 12,294 participants from 679 districts were nominated for the regional conferences so far. These rounds of talks at the local and regional levels are merely intended to collect agenda items and nominate representatives of socio-economic groups for the actual dialogue at the national level. The basic idea is that only topics that cannot be addressed at the district or regional level are brought to the national level. The ENDC also listens to members of the Ethiopian diaspora via video conferences and reviews written submissions.

One challenge for the ENDC is to separate the wheat from the chaff. “Sometimes we don’t even know where to start,” said ENDC Chairman Mesfin Araya in a TV interview. There are “tonnes of agenda items”. No interlocutor was able to name a transparent mechanism for filtering and aggregating the many topics. However, the dialogue should focus on issues of fundamental importance that are controversial. For example, the ENDC identified the 10 most important issues from the regional dialogue in Addis Ababa. These included federalism, the national flag, disputes over land claims, and the constitutional status of Addis Ababa.

Conditions for success not met

The national dialogue currently has little chance of achieving its goals. If one applies the criteria for the success of such formats that comparative research has developed, it becomes clear that Ethiopia does not fulfil most of them.

Support for the initiative by the population and the political elites is central to the success of a national dialogue. To achieve this, the process should be inclusive and transparent, and the Commission should be perceived as impartial. It should also be able to take place in an environment that allows for a reasonably open exchange as well as criticism of the state and government without fear of repression.

The dialogue’s credibility is suffering because influential political forces are not participating. These include the Oromo Liberation Front and the Oromo Federalist Congress as well as the TPLF. Overall, the majority of the often very small opposition parties cooperate with the ENDC in one form or another, but others boycott it. In May 2024, a coalition of 11 opposition parties accused the ENDC of being instrumentalised for “political purposes”.

Many observers have questioned the impartiality of the ENDC and criticised the procedure used for appointing the com­missioners. Although nominations for these positions could be submitted to parliament, the requirement of an academic qualification excluded local and religious leaders, young people, and many women from the outset. The Strategic Initiative for Women in the Horn of Africa, a regional women’s rights organisation, has pointed out this shortcoming.

The Prosperity Party (PP), the ruling party of Prime Minister Abiy, dominates the state at all levels. The formation of the PP in 2019 from three of the four parties (all except the TPLF) of the Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front (EPRDF) coalition that had governed Ethiopia since 1991, as well as parties from other federal states, was intended to counteract the fragmentation of the population. The PP is much more centralised than the EPRDF. According to its own figures, the PP is the largest party in Africa, with 14 million members – many members are also said to have dominated the consultations of the national dialogue. The PP holds more than 96 per cent of all seats in parliament. Some leaders of the small opposition groups in parliament also work with the government, not necessarily to the satisfaction of their members.

There is correspondingly great concern among the opposition that the government could use the national dialogue to push through constitutional amendments or co-opt additional members of opposition par­ties. The federal rights of ethnic groups and federal states could be restricted, and a presidential system could replace the current parliamentary system. In view of the prevailing majority, it is obvious that parliament, as the supervisory body of the ENDC, can hardly be considered independent. A representative of a human rights organisation therefore welcomed plans for a presidential system, as this could create more distance between the legislative and executive branches of government.

There is hardly any space for open and free exchanges in the country. Press free­doms are severely restricted and the general public is polarised and susceptible to dis­information campaigns. People with un­popular opinions from the media and politics are sometimes arrested or even killed.

Civil society organisations have been granted more rights since new legislation was passed in 2019, but they still have to deal with considerable restrictions on their work. The federal authority responsible announced in May 2024 that it planned to revoke the licences of almost half of the organisations registered because they did not meet the legal requirements or had not submitted any reports. Human rights or­gani­sations also criticise the restrictions and threats issued by the security forces when travelling abroad.

The ongoing violence in Amhara and parts of Oromia and the consequences of the destruction caused by the war in Tigray are also hampering the possibilities for the national dialogue. The ENDC has called on armed groups such as the Oromo Liberation Army (OLA) and the Fano in Amhara to par­ticipate, if necessary via proxies or through meetings in third countries. However, mak­ing direct contact appears to be difficult. For its part, the OLA has named specific conditions for participating in the process, in particular more political freedoms, peace negotiations, and a more independent commission. Just like other opposition forces, the armed group is concerned that the institutions dominated by the PP are supposed to monitor the dialogue and implement any results. They have long been calling for the formation of a transi­tional government. Abiy rejected this as undemocratic at the closing event of the regional dialogue in Addis Ababa in early June 2024.

Perhaps the greatest shortcoming of the national dialogue, however, is the lack of an accompanying dialogue at the political (elite) level. The government could have initiated a process with the most important representatives of the political-ethnic groups or parties that would have defined the parameters for the consultation pro­cedures of the national dialogue. This could have helped to set clearer objectives for the dialogue, which is also a condition for the success of this type of initiative.

Even if actual problems are addressed at the ENDC events and, from the opposition’s point of view, effective recommendations for solving them make it into the Commission’s final report, the process lacks the legitimacy and authority to ensure their implementation. It is unlikely that the national dialogue will significantly reduce the deficit of trust in the government among large segments of the population and elites. The initiative is also unlikely to create trust within the population, as it is primarily designed for the vertical relationship between the state and social groups, but it does not bring together representatives of different communities at the local level.

However, without an overarching consensus, there is a great risk that the govern­ment will use the national dialogue to circumvent or even isolate the main opposi­tion forces. For example, Abiy is said to be seeking to divide up more federal states, which would weaken the larger ethnic groups. Instead of creating an atmosphere of democratic debate, the dialogue could thus encourage authoritarian consolidation.

Risks and opportunities for peacebuilding

Some Ethiopian interlocutors who were certainly critical of the government pointed out the shortcomings of the national dia­logue described above, but also expressed concern about a possible failure of the pro­cess. This could lead to even more violence in the country. Some were therefore in favour of making the most of the opportunity. Particularly with regard to the goal of peaceful coexistence in the future, it is important to prevent the instrument of dialogue from being severely damaged and social mistrust from increasing further.

The Ethiopia Peace Observatory, an international research platform, points out that the national dialogue could still have constructive effects on some aspects of peacebuilding. As a nationwide consultation process, the national dialogue enables the PP to gather information about local and regional grievances and, on the basis of this knowledge, to increase the levels of trust between members of the PP and the respective administration. This could also put the government in a better position to deal with conflicts on the ground. The situation is similar in smaller regions on the periphery, where things are more peaceful than they have been in a long time. There have been successful peace processes with armed groups, but these are still fragile. In regions such as Benishangul-Gumuz, Afar, and Somali, parallel or se­quen­tial formats of the national dialogue could accompany the reorganisation of political and social relations initiated there. In southern Ethiopia, corresponding addi­tional formats resulting from the ENDC consultations could help the newly formed regions to increase their legitimacy and prevent conflicts.

In Amhara, Oromia, and Tigray, the national dialogue could contribute to con­flict resolution if there were credible peace negotiations (with Fano and the OLA) or if key parts of the Pretoria Agreement for Tigray were implemented. The TPLF and the government have recently committed them­selves to the latter, including the orderly return of hundreds of thousands of inter­nally displaced persons to the areas in western and southern Tigray that were occupied by Amhara forces during the war. The consultations could provide a forum for the ethnic groups in the conflict-affected regions to put forward their ideas on co­existence at the national level. Of course, this can only succeed if the political and armed groups that are involved trust the independence of the ENDC, for example by appointing additional commissioners in a second phase.

Finally, the national dialogue should be closely coordinated with other peacebuilding initiatives. In April 2024, the National Security Council, which Abiy chairs, com­mitted to coordinating the government’s various approaches to conflict resolution. In addition to the national dialogue, these include transitional justice; the demobilisation, disarmament, and reintegration of former combatants; the reconstruction of infrastructure in conflict areas; the strengthening of law enforcement agencies; and the fight against disinformation. In this context, however, the National Security Council also mentioned that it is sometimes necessary to deploy the armed forces “to maintain peace”. One task of the yet-to-be-established institutions of transitional justice would be to analyse the different historical interpretations and perspectives that have probably already come to light in the course of the ENDC consultations.

The demobilisation of combatants, the disbanding of militias, and accounting for past violations of fundamental rights require a basic level of trust in state insti­tutions. All of these measures should be embedded in an integrated peace architecture that also includes dialogue formats at the local and regional levels. Those who repeatedly raise the expectations of victims through consultations, initiatives, and announcements also increase the pressure to actually bring about improvements in concrete living conditions. Peacebuilding for the sake of appearances, on the other hand, is likely to further fuel anger, frustra­tion, and disappointment among the popu­lation.

Ultimately, all peacebuilding instruments face similar challenges to those of the national dialogue. The government – whose actions significantly (if not solely) promote conflicts, sow mistrust, and endan­ger the civilian population – cannot guar­antee the independence and effectiveness of these projects. These are entry points for international actors.

Implications for international players

International actors are already providing significant support for the national dialogue process. The UN Development Programme (UNDP) is coordinating the financial and technical assistance as part of a larger peacebuilding programme. The European Union and several member states, including Germany, as well as Norway are financing the ENDC’s work via UNDP with 7 million euros. In addition, technical expertise and training, which began several years before the ENDC was established, is being provided by the Berghof Foundation on behalf of the German Federal Foreign Office and other international partners.

The international players are endeavouring to perform a difficult balancing act. On the one hand, they want to use the national dialogue to strengthen an instrument of peacebuilding in a context where conflicts are often dealt with using violence and repression. On the other hand, external support lends the process additional legiti­macy, as confirmed by Ethiopian interlocutors. The international partners should be aware that they also assume a certain responsibility for the effectiveness of the national dialogue.

Persuading Ethiopia’s government to take a constructive stance on the national dia­logue and other mechanisms for reconciliation and conflict resolution requires an ex­tremely sensitive and considered approach. Germany should work with the Ethiopian government to advance peace negotiations in Amhara and Oromia. Such efforts on the part of Addis Ababa as well as progress in the implementation of the Pretoria Agree­ment in Tigray should be prerequisites of further international support for the na­tion­al dialogue in these regions. In any case, funds for the dialogue and peacebuilding as a whole should not flow directly to the government, but should be channelled in a targeted and transparent manner to the relevant institutions, such as the ENDC and their activities.

Ethiopia’s international partners should monitor the continued implementation of the national dialogue closely. With regard to their stance on the process, they should maintain a continuous dialogue with op­position and human rights representatives who take a differentiated view of the pro­cess. Some observers are already calling for the dialogue process to be paused so that it can be reformed and supplemented by a dialogue with the elites. Experiences with other countries such as Sudan and Yemen show that inordinate external support for a flawed national dialogue can legitimise authoritarian conflict management. The international promoters and facilitators of the national dialogue should be careful to make a clear distinction between the pro­cess and possible outcomes. They should not allow themselves to be used by the Ethiopian leadership for projects that do not improve the living conditions of the population but merely serve to enhance the government’s image.

Die engen Grenzen von Äthiopiens nationalem Dialog

Äthiopien befindet sich seit Längerem in einer Umbruchphase, die von massiver Gewalt gekennzeichnet ist. Die Beziehungen zwischen den größten Volksgruppen sind in Bewegung ebenso wie deren Verhältnis zur Regierung. Dem Staat mangelt es in zentralen Regionen des Landes an Legitimität, sein Gewaltmonopol ist umstritten und er verfügt kaum über finanzielle Ressourcen, um die Bevölkerung flächendeckend zu versorgen. Der nationale Dialog soll dazu dienen, den Wandel Äthiopiens zu beglei­ten und den Rückhalt des Staates unter der Bevölkerung zu erhöhen. Allerdings sind die Voraussetzungen für eine vertrauensbildende Aussprache nicht vorhanden an­gesichts bewaffneter Aufstände in den beiden bevölkerungsreichsten Bundesstaaten Amhara und Oromia, einer stark begrenzten Medien- und Meinungsfreiheit sowie der Dominanz der Regierungspartei in Parlament und Gesellschaft. Ein zusätzlicher strukturierter Dialog auf der Ebene der wichtigsten politischen Player könnte eine Hauptschwäche des Prozesses abmildern. Internationale Akteure, die wie Deutschland den nationalen Dialog unterstützen, sollten darauf achten, sich nicht für eine autoritäre Konsolidierung einspannen zu lassen.

In seiner derzeitigen Form kann der Prozess kaum zur Bearbeitung der strukturellen Probleme des Landes beitragen.

SWP-Aktuell 2024/A 40, 25.07.2024, doi:10.18449/2024A40

Am 4. Juni 2024 endete in Addis Abeba die erste Veranstaltung jener Phase des natio­nalen Dialogs, die auf der Ebene der Bundes­staaten und eigenständigen Stadtverwaltun­gen stattfindet. Das Ziel des Prozesses ist, die wichtigsten Themen zu identifizieren, die das Land auseinandertreiben, Lösungsansätze zu ermitteln und Repräsentanten für den letzten Teil der Konsultationen auf nationaler Ebene zu bestimmen. Allein an der Veranstaltung in Addis Abeba nahmen mehr als 2.000 Personen teil, die ihrerseits von vorherigen Versammlungen auf lokaler Ebene in der Stadt Addis Abeba delegiert worden waren. Weitere Veranstaltungen in den anderen Bundesstaaten sollen folgen.

Der nationale Dialog ist ein zentrales Projekt der Regierung von Premierminister Abiy Ahmed. Die Regierung hofft, dass der Dialog einen entscheidenden Beitrag dazu leisten kann, das Land zu befrieden, die Legitimität des Staats in der Breite der äthiopischen Gesellschaft zu erhöhen und damit auch die wirtschaftliche Entwicklung anzukurbeln. Das übergeordnete Ziel ist, die Bevöl­kerung hinter Abiys Vorstellung von nationaler Einheit zu versammeln. Der Dialog kann somit nur in den engen Gren­zen der fortgesetzten Hegemonie der Regie­rung stattfinden.

Staat und Gesellschaft unter Stress

Abiy ist es in den vergangenen Jahren nicht gelungen, Äthiopien zu einen. Vielmehr sind sein Regierungsstil, die Art der Auf­standsbekämpfung und verzögerte wirt­schaftliche Reformen mitverantwortlich für Konflikte, Gewalt und existenzielle Not in Teilen des Landes. Die Krise des äthiopischen Staats, die Abiy ins Amt gebracht hat, ist durch einige seiner Handlungen weiter verschärft worden.

Entgegen Abiys panäthiopischer Rhetorik prägt die Orientierung an den Volksgruppen, an deren Spitze ethnisch-nationalistische Politikunternehmer stehen, weiterhin das Land. Der in der Verfassung von 1995 ver­ankerte ethnische Föderalismus spielt für den Zugang zum Staat weiterhin eine wich­tige Rolle. Ein neues nationales Narrativ konnte sich bislang nicht durchsetzen. Vielmehr prägen Polarisierung und Null­summen-Mentalität die Politik, wie selbst Äthiopiens nationaler Sicherheitsrat be­merkt. Eine größere Rolle einer Volks­gruppe wird von anderen als Minderung des eigenen Einflusses gesehen. Dies zeigt sich vor allem beim Aufstieg von Angehörigen der Oromos in der Politik nach Abiys Amtsantritt, den traditionelle Eliten aus Amhara und Tigray kritisch sehen.

Doch Abiys Regierungsstil basiert weniger auf der Hegemonie einer ethnischen Gruppe (auch wenn ihm einige die Bevorteilung von Oromos in Regierung und Staatsunternehmen vorwerfen), sondern auf wechselnden Partnerschaften, entsprechend seinem Verständnis von pragmatischer Macht­politik. In einem Kontext, der von Nullsummen-Mentalität und mangelnder natio­naler Identität geprägt ist, führt Abiys trans­aktionale Politik jedoch zur Entfremdung von einstigen Unterstützern, insbesondere in Amhara und Oromia. Sie befördert auch den Konflikt innerhalb ethnischer Gruppen zwischen denen, die mit der Regierung ko­operieren, und solchen, die sich enttäuscht abwenden. Abiy selbst warf Anfang Juli der Opposition Putschpläne vor.

Sowohl Regierung als auch Teile der Oppo­sition sehen Gewalt als legitimes Mittel der Konfliktaustragung an. Ausdruck dieser Haltung sind und waren nicht nur der Krieg im Norden des Landes zwischen 2020 und 2022, sondern auch die Auf­stände in Oromia und Amhara. Zwar hat die Regierung erkannt, dass sie auch auf Verhandlungen mit den bewaffneten Gruppen setzen muss; sie will dies aber stets aus einer Position der militärischen Stärke heraus tun. So wurde das Pretoria-Abkom­men mit der Tigray People’s Libera­tion Front (TPLF) im November 2022 unter­zeichnet, als die Armee bereits kurz vor Tigrays Hauptstadt Mekelle stand.

Gleichzeitig befeuert die Art und Weise, wie die Regierung Aufstände bekämpft, Kon­flikte eher noch. Im Krieg gegen die TPLF kämpfte die Regierung im Verbund mit para­militärischen Kräften und irregulären Fano-Einheiten aus Amhara. Als diese Regio­nalmilizen Amharas nach dem Pretoria-Abkommen demobilisiert und entwaffnet werden sollten, weigerten sich viele der Einheiten, weil sie ihre Interessen durch die Vereinbarung verraten sahen. Die Fano-Rebellen konnten einen erheblichen Zulauf von diesen gut ausgebildeten paramilitäri­schen Kämpfern verzeichnen, der es ihnen erlaub­te, gegen die Regierungsarmee zu be­ste­hen. Seither kontrollieren die Aufständischen weite Teile der ländlichen Gebiete und dringen ab und zu in Städte wie die amharische Regionalhauptstadt Bahir Dar oder die UNESCO-Welterbestätte Lalibela vor.

Die Regierungseinheiten sind eine erheb­liche Gefahr für die Zivilbevölkerung in die­sen Konfliktgebieten. Das UN-Hochkommis­sariat für Menschenrechte macht sie für 70 Prozent der im Jahr 2023 dokumentier­ten Menschenrechtsverletzungen in Äthio­pien verantwortlich. Die äthiopische Men­schenrechtskommission kritisiert extralegale Tötungen durch staatliche Sicherheitskräfte und massenhafte willkürliche Verhaftun­gen in Amhara, Oromia und Addis Abeba. Außerdem ist der Einsatz von Drohnen, bei dem teilweise hohe Zahlen an zivilen Opfern zu verzeichnen sind, in der Kritik. Berichte sprechen davon, dass die Armee immer wieder willkürlich Zivilisten tötet, wenn sie der Fano-Rebellen in Amhara nicht habhaft werden kann. All dies schürt weitere Gegen­wehr der betroffenen Bevölkerung.

Die Regierung investiert zwar in Prestige­projekte in Addis Abeba, lässt aber weite Teile der Bevölkerung zurück. Mehr als 21 Millionen Menschen in Äthiopien sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. In eini­gen Teilen des Landes herrscht eine akute Nahrungsmittelunsicherheit als Folge von Dürre, Konflik­ten und schlechten makroökonomischen Bedingungen. Die Inflation ist zwar seit letztem Jahr gesunken, bewegt sich aber gerade für Nahrungsmittel mit 22,7 Prozent weiter auf einem hohen Niveau (19,9 % insgesamt). Getrieben von steigenden Prei­sen, hoher Arbeitslosigkeit und Einschränkungen der Bewegungs­freiheit breitet sich kriminelle Gewalt aus. Aus einigen Kon­flikt­gebieten haben sich staatliche Institu­tionen zurück­gezogen. In der Umgebung von Addis Abeba ist es so gefährlich, Opfer von Entführungen zu werden, dass viele es nicht mehr wagen, die Hauptstadt auf dem Landweg zu verlassen.

Wirtschaftliche Entlastung könnte eine Vereinbarung mit dem IWF und der Welt­bank bringen, die sowohl eine direkte Unterstützung als auch einen Schulden­erlass von Gebern beinhalten würde. Doch trotz jahrelanger Verhandlungen konnten die Regierung und die internationalen Organisationen sich bisher nicht auf das geplante Unterstützungspaket von 10,5 Mil­liarden Dollar einigen. Die Anpassung des Wechselkurses ist das wichtigste Streit­thema. Die Regierung ist besorgt, dass eine zu schnelle Liberalisierung des Wechselkurses die Inflation anheizen könnte. Der Mangel an Devisen schwächt die heimischen Produktionskapazitäten. Gleichzeitig profitieren primär staatliche Importeure von dem parallelen Wechselkursregime.

Sehr hohe Ambitionen für den nationalen Dialog

Grundsätzlich kann das Format eines natio­nalen Dialogs tiefgreifende politische Ver­änderungsprozesse begleiten und voranbringen. In einem Kontext, der von Gewalt und Repression geprägt ist, kann der Dialog einen Weg aufzeigen, Differenzen auf fried­liche Weise zu verhandeln. Zudem kann er den Prozess einer demokratischen Öffnung be­gleiten, indem er eine breitere Beteiligung der Zivilgesellschaft ermöglicht als reine Elitenverhandlungen. Die Zielsetzung spielt dabei eine wichtige Rolle. Geht es darum, einen Kon­sens zu übergreifenden Fragen zu erzielen oder einen Mechanismus zu schaf­fen, um die tief in Geschichte und Identität verankerten Gegensätze konstruktiv oder zumindest friedlich auszutragen? Die Ein­richtung eines nationalen Dialogs kann einer Gesellschaft dabei helfen, den Rahmen für ihre Konflikte zu finden, ohne diese bereits aufzulösen.

Die ersten Initiativen zur Herbeiführung eines solchen Dialogs nach dem Amtsantritt Abiys im April 2018 deuteten in eine kon­struktive Richtung. Politische Gefangene wurden freigelassen, die Gesetzgebung für Nichtregierungsorganisationen gelockert und Oppositionspolitiker kehrten auf Ein­ladung der Regierung aus dem Exil zurück. In der Zivilgesellschaft gab es Bemühungen, einen inklusiven Dialog zu organisieren. Dazu fanden 2019 und Anfang 2020 infor­melle und vorbereitende Seminare und Workshops statt. Es gab weitere Aktivitäten, die auf die Unterstützung der Regierung trafen. Im Oktober 2020 wurde eine Multi-Stake­holder Initiative for National Dialogue (MIND) gebildet, an der neben der Destiny Ethiopia Initiative, die als Sekretariat fun­gier­te, eine Reihe zivil­gesellschaftlicher Dialog­initiativen, die äthiopische Versöhnungskommission, das Friedensministe­rium als Regierungsvertretung sowie der Joint Coun­cil of Political Parties (d. h. die Oppo­sitionsparteien) teilnahmen.

Anfang November 2020 brach der Krieg in Tigray aus. Der militärische Konflikt ging mit einer erheblichen Polarisierung der Gesellschaft und Beschneidungen des öffent­lichen Raums einher. Dennoch trieb die Regierung das Dialogprojekt weiter voran. Am 29. Dezember 2021 beschloss das House of People’s Representatives, die untere Parlamentskammer, eine Proklamation, die gleichzeitig das Mandat für die Ethiopian National Dialogue Commission (ENDC) dar­stellte. Diese nahm im Februar 2022 ihre Arbeit auf. Ihre Amtszeit währt drei Jahre. Das Mandat sieht drei übergreifende Ziele vor: einen »nationalen Konsens« über die »tiefgreifendsten Themen« des Landes her­zustellen, Vertrauen unter den Bevölkerungsgruppen und zwischen diesen und dem Staat zu schaffen sowie den Weg für eine Kultur des Dialogs zu bereiten. Die Ambition könnte kaum höher sein, sollen doch »interne Probleme, die seit Jahr­hunderten schwelen«, so die Erklärung des Parlaments, durch eine neue Kultur des Dialogs gelöst werden.

Die Regierung betont selbst, welch ein Wandel ein erfolgreicher nationaler Dialog für die Art und Weise bedeuten würde, in der bisher grundlegende politisch-gesell­schaftliche Differenzen bearbeitet wurden. Abiy sprach davon, dass eine Kultur des Dialogs die strenge Trennung von »Siegern und Verlierern«, wie sie bisher in Äthiopien vorgeherrscht habe, auflösen könne. Aller­dings passt das Bild eines Friedensstifters und Versöhners der Nation, das Abiy selbst von sich zeichnet, nicht mit dem Verhalten seiner Regierung zusammen.

Vorgehen der Kommission

Die Nationale Dialogkommission brauchte eine Weile, um sich zu finden, ihre Arbeit zu definieren und Vertrauen bei zen­tralen Stakeholdern aufzubauen. Dazu trat die logistische Herausforderung, Anhörungen im ganzen Land abzuhalten. Dies sei auch ein Lernprozess für die Kommission ge­wesen, heißt es von Seiten Beteiligter. Einziger Out­put soll ein öffentlicher Abschlussbericht sein, wobei die ENDC auch ein System ent­wickeln soll, um die Umsetzung der zu er­wartenden Empfehlungen zu überwachen.

Das grundsätzliche Design sieht ein drei­stufiges Verfahren vor. Zunächst soll es Veranstaltungen in allen der 769 Distrikte (Woreda) geben, dann auf der Ebene der zwölf Bundesstaaten und der beiden Städte, die sich selbst verwalten (Addis Abeba und Dire Dawa), und schließlich den eigentlichen Dialog auf nationaler Ebene. Bei ihrer Arbeit wird die ENDC von einem Beratungs­ausschuss und einem Sekretariat unterstützt. So sollen den Ver­anstaltungen Expert:innen in Verfassungsfragen beiwohnen, um die Teilnehmer:innen in den Stand zu setzen, eine informierte Diskussion zu führen.

Die Anhörungen auf Woreda-Ebene ver­liefen nach einem einheitlichen Muster. Ko­operationspartner luden einen Querschnitt der Bevölkerung ein, rund 3.000 Per­sonen, die sich in Räumen zu je 50 Diskutant:in­nen austauschten. Nach einer Einweisung bestimmten diese kleineren Gruppen selbst, wer moderiert, berichtet und wer für die nächsthöhere Ebene nomi­niert wird. Die Gruppen wurden nach zehn demografischen und sozioökonomischen Kriterien eingeteilt, also beispielsweise nach ihrer Eigenschaft als Frauen, Jugend­liche, Ver­triebene, Lehrer, Vertreter der Privatwirtschaft, des öffentlichen Sektors oder der Subsistenzwirtschaft (Hirten und Bauern). Kommissionsmitglieder begleiteten diese Sitzungen, die protokolliert und aufgezeich­net wurden zwecks weiterer Aufbereitung.

Auf diese Weise erreichte die ENDC nach eigenen Angaben rund hunderttausend Personen (ursprünglich waren 1,5 Millionen geplant). Bis auf Amhara und Tigray waren demnach alle Bundesstaaten vertreten. Aus 679 Distrikten seien laut Regierung 12.294 Teilnehmer:innnen für die regionalen Kon­ferenzen nominiert worden. Diese Ge­sprächs­runden auf lokaler und regio­naler Ebene dienen lediglich dazu, Agendapunkte zu sammeln und Repräsentant:innen der sozioökonomischen Gruppen für den eigent­lichen Dialog auf nationalem Level zu nominieren. Dabei ist es grundsätzlich die Vorstellung der ENDC, dass nur Themen auf die regio­nale oder nationale Stufe gehoben werden, die nicht bereits in dem jeweils darunter­liegenden Format angegangen werden kön­nen. Außerdem hört die ENDC Mitglieder der äthiopischen Diaspora über Video­konferenzen an und wertet schriftliche Ein­gaben aus.

Eine Herausforderung für die ENDC ist, die Spreu vom Weizen zu trennen. »Manch­mal wissen wir gar nicht, wo wir starten sollen«, sagte der ENDC-Vorsitzende Mesfin Araya in einem TV-Interview. Es gebe »tonnenweise Agendapunkte«. Einen trans­parenten Mechanismus, wie die vielen Themen gefiltert und aggregiert werden sollen, konnte kein Gesprächspartner nen­nen. Allerdings soll es um Sachfragen von grundsätzlicher Bedeutung gehen, die um­stritten seien. Aus dem regionalen Dialog in Addis Abeba kondensierte die ENDC bei­spielsweise die wichtigsten zehn Themen. Zu diesen gehörten unter anderem der Föderalismus, die nationale Flagge, Streitig­keiten um Land­ansprüche sowie der verfas­sungsrechtliche Status von Addis Abeba.

Erfolgsbedingungen nicht erfüllt

Der nationale Dialog hat derzeit geringe Chancen, seine Ziele zu erreichen. Wenn man die Kriterien für den Erfolg solcher Formate anlegt, die die vergleichende Forschung erarbeitet hat, wird deutlich, dass Äthiopien die meisten nicht erfüllt.

Zentral für das Gelingen eines natio­nalen Dialogs ist die Unterstützung der Initia­tive durch die Bevölkerung und die politi­schen Eliten. Dafür sollte der Prozess in­klusiv und transparent sein und die Kom­mission als unparteiisch wahr­genommen werden. Außerdem sollte er in einem Um­feld stattfinden können, das einen einiger­maßen offenen Aus­tausch und auch Kritik an Staat und Regierung erlaubt, ohne Angst vor Repression haben zu müssen.

Die Glaubwürdigkeit des Dialogs in Äthio­pien leidet darunter, dass einflussreiche politische Kräfte nicht an ihm teilnehmen. Dazu zählen die Oromo Liberation Front (OLF) und der Oromo Federalist Congress (OFC) sowie die TPLF. Insgesamt kooperiert zwar die Mehrheit der oft sehr kleinen Oppositionsparteien in der einen oder anderen Form mit der ENDC, aber andere boykottieren sie. Eine Koalition von elf Oppositionsparteien warf der ENDC im Mai 2024 vor, für »politische Zwecke« in­strumen­talisiert zu werden.

Viele Beobachter:innen haben die Unparteilichkeit der ENDC in Frage gestellt und das Prozedere bei der Ernennung der Kommissar:innen kritisiert. Zwar konnten für diese Posten Vorschläge beim Parlament ein­gereicht werden, aber die Bedin­gung einer akademischen Qualifikation schloss von vornherein lokale und religiöse Füh­rungspersönlichkeiten, junge Menschen und viele Frauen aus. Auf dieses Manko hat beispielsweise die Strategic Initiative for Women in the Horn of Africa, eine regio­nale Frauenrechtsorganisation, hingewiesen.

Die Prosperity Party (PP), die Regierungspartei von Premierminister Abiy, dominiert den Staat auf allen Ebenen. Bereits die Grün­dung der PP 2019 aus drei der vier Parteien (alle außer der TPLF) der EPRDF-Koalition, die Äthiopien seit 1991 regiert hatte, sowie aus Parteien aus anderen Bundesstaaten sollte der Fragmentierung der Bevölkerung entgegenwirken. Die PP ist deutlich zentra­listischer als die EPRDF aufgestellt. Nach eigenen Angaben ist die PP mit 14 Millionen Mitgliedern die größte Partei Afrikas – viele Mitglieder sol­len auch die Konsul­tationen des natio­nalen Dialogs dominiert haben. Die PP stellt mehr als 96 Prozent aller Sitze im Parlament. Einige der Führer der winzigen Oppositions­fraktionen im Parlament arbeiten noch dazu mit der Regierung zusammen, nicht unbedingt zur Zufriedenheit ihrer Mitglieder.

Entsprechend groß ist die Sorge in der Opposition, dass die Regierung den natio­nalen Dialog dazu nutzen könnte, Verfassungsänderungen durchzudrücken oder weitere moderate Flügel von Oppositionsparteien zu kooptieren. Die föderalen Rechte der ethnischen Gruppen und Bundesstaaten könnten eingeschränkt werden und ein Präsidialsystem das derzeitige parlamen­tarische System ablösen. Angesichts der Mehr­heitsverhältnisse ist augenfällig, dass das Parlament als Aufsichtsorgan der ENDC kaum als unabhängig gelten kann. Ein Ver­treter einer Menschenrechtsorganisation begrüßte daher Pläne für ein Präsidial­system, da dieses eine größere Distanz zwischen gesetz­gebender und ausführender Gewalt schaf­fen könne.

Ein Klima für offenen, freien Austausch besteht im Land kaum. Die Pressefreiheit ist stark eingeschränkt, die Medienöffentlichkeit polarisiert und anfällig für Desinforma­tionskampagnen. Personen mit unliebsamen Meinungen aus Medien und Politik werden entweder ver­haftet oder sogar getötet.

Zivilgesellschaftliche Organisationen haben seit einer Gesetzesänderung von 2019 zwar mehr Rechte, müssen aber wei­terhin mit erheblichen Einschränkungen ihrer Arbeit umgehen. Die für sie zuständige Bundesbehörde gab im Mai 2024 bekannt, dass sie plane, fast der Hälfte der bisher regis­trierten Organisationen die Lizenz zu entziehen, weil sie die gesetzlichen Anforde­rungen nicht erfüllten oder keine Berichte eingereicht hätten. Menschenrechtsorganisationen kritisieren Einschränkungen und Drohungen der Sicherheitskräfte auch bei Auslandsreisen.

Die anhaltende Gewalt in Amhara und Teilen Oromias und die Folgen der Zer­störungen des Kriegs in Tigray beeinträch­tigen die Möglichkeiten des nationalen Dia­logs ebenfalls. Die ENDC hat zwar bewaffnete Gruppen wie die Oromo Liberation Army (OLA) und die Fano in Amhara dazu aufgerufen, sich zu beteiligen, wenn nötig auch über Proxies oder durch Treffen in Drittstaaten. Direkter Kontakt scheint aber schwierig zu sein. Die OLA nannte ihrer­seits konkrete Bedingungen, um an dem Prozess teilzunehmen, insbesondere mehr politische Freiheiten, Friedensverhandlungen und eine unabhängigere Kommission. Genauso wie andere Oppositionskräfte stört sich die bewaffnete Gruppe daran, dass die von der PP dominierten Institutionen den Dialog über­wachen und eventuelle Ergeb­nisse umsetzen sollen. Sie fordern seit langem die Bildung einer Übergangsregierung. Abiy lehnte dies bei der Abschlussveranstaltung des regionalen Dialogs in Addis Abeba Anfang Juni 2024 als undemo­kratisch ab.

Vielleicht der größte Mangel des natio­nalen Dialogs ist jedoch ein fehlender be­gleitender Dialog auf politischer (Eliten)­Ebene. Die Regierung hätte mit den wich­tigsten Vertreter:innen der politisch-ethni­schen Gruppen bzw. Parteien einen Prozess initiieren können, der die Parameter für die Konsultationsverfahren des nationalen Dialogs festgelegt hätte. Das hätte dazu bei­tragen können, dass für den Dialog klarere Ziele festgelegt werden, was eben­falls eine Erfolgsbedingung für diese Art von Initiati­ven ist.

Selbst wenn bei den Veranstaltungen der ENDC tatsächliche Probleme angesprochen werden und es aus Sicht der Opposition effektive Empfehlungen zu ihrer Lösung in den Abschlussbericht der Kommission schaf­fen sollten, fehlt dem Prozess die Legitimität und Autorität, für ihre Umsetzung zu sor­gen. Es ist unwahrscheinlich, dass der nationale Dialog das Vertrauens­defizit von weiten Teilen der Bevölkerung und Eliten in die Regierung signifikant ver­ringern wird. Auch innerhalb der Bevölkerung kann die Initiative wenig Vertrauen schaffen, da er primär auf das vertikale Verhältnis zwischen Staat und sozialen Gruppen aus­gelegt ist, aber auf der lokalen Ebene Vertreter:innen unterschiedlicher Communities gar nicht zusammenbringt.

Ohne einen übergreifenden Konsens besteht jedoch ein großes Risiko, dass die Regierung den nationalen Dialog nutzen wird, um die wichtigsten oppositionellen Kräfte zu umgehen oder gar zu isolieren. Abiy soll beispielsweise die Aufsplitterung weiterer Bundesstaaten anstreben, was die größeren Volksgruppen schwächen würde. Statt einer Atmosphäre der demokratischen Auseinandersetzung könnte der Dialog auf diese Weise der auto­ritären Konsolidierung Vorschub leisten.

Risiken und Chancen für Friedensförderung

Einige, durchaus regierungskritische äthio­pische Gesprächspartner verwiesen ihrer­seits auf die beschriebenen Unzulänglichkeiten des nationalen Dialogs, äußerten sich aber auch besorgt über ein mögliches Schei­tern des Prozesses. Dieses könne erst recht zu mehr Gewalt im Land führen. Einige sprachen sich daher dafür aus, das Beste aus der Gelegenheit zu machen. Gerade im Hinblick auf das Ziel eines zu­künftig fried­lichen Zusammenlebens gilt es, zu verhin­dern, dass das Instrument des Dia­logs insgesamt Schaden nimmt und das gesell­schaft­liche Misstrauen sich weiter erhöht.

Das Ethiopia Peace Observatory, eine internationale Forschungsplattform, weist darauf hin, dass der nationale Dialog für einige Aspekte von Friedensförderung noch konstruktive Effekte erzielen könnte. Als landesweiter Konsultationsprozess er­mög­licht es der nationale Dialog der PP, Infor­mationen über lokale und regionale Miss­stände zu sammeln und auf der Basis dieser Kenntnisse das Vertrauen zwischen Mit­gliedern der PP sowie zur jewei­ligen Ver­wal­tung zu verbessern. Damit könnte die Regierung auch eher in die Lage versetzt werden, Kon­flikte vor Ort zu bear­beiten. Ähnlich verhält es sich in kleineren Regio­nen in der Peripherie, in denen es so fried­lich wie lange nicht mehr ist. Dort hat es erfolgreiche Frie­densprozesse mit bewaffneten Gruppen gegeben, die aber noch fragil sind. In Regionen wie Benishangul-Gumuz, Afar und Somali könnten parallele oder sequentielle Formate des nationalen Dia­logs die dort eingeleitete Neugestaltung der politisch-gesell­schaftlichen Beziehungen begleiten. Im Süden Äthiopiens könnten entsprechende zusätzliche Formate, die sich aus den Konsultationen der ENDC ergeben, den in den letzten Jahren neu gebildeten Regionen helfen, ihre Legitimität zu er­höhen und Konflikten vorzubeugen.

In Amhara, Oromia und Tigray könnte der nationale Dialog dann einen Beitrag zur Konfliktbeilegung leisten, wenn es glaub­würdige Friedens­verhandlungen (mit Fano und der OLA) gäbe bzw. zentrale Teile des Pretoria-Abkommens für Tigray umgesetzt würden. Zumindest Letzteres haben sich TPLF und Regierung zuletzt vorgenommen, einschließlich der geregelten Rückkehr Hun­derttausender Binnenvertriebener in die Gebiete im Westen und Süden Tigrays, die von amharischen Einheiten während des Krieges besetzt wurden. Die Konsulta­tionen könnten für die Volksgruppen der von Konflikten betroffenen Regionen ein Forum bieten, um ihre Vorstellungen von dem Zusammenleben auf nationaler Ebene einzubringen. Freilich kann dies nur gelin­gen, wenn die beteiligten politischen und bewaffneten Gruppen der Unabhängigkeit der ENDC vertrauen, beispielsweise durch die Ernennung weiterer Kommissar:innen in einer zweiten Phase.

Schließlich sollte der nationale Dialog eng mit anderen Initiativen zur Friedensförderung koordiniert werden. Der Natio­nale Sicherheitsrat, dem Abiy vorsitzt, be­kannte sich im April 2024 dazu, die ver­schiedenen Ansätze der Regierung zur Konfliktbearbeitung miteinander ab­zustim­men. Neben dem nationalen Dialog sind dies die Aufarbeitung von vergangenem Unrecht (Transitional Justice), die Demobilisierung, Entwaffnung und Reinte­gration (DDR) von ehemaligen Kombattant:innen, der Wiederaufbau von Infrastruktur in den Konfliktgebieten, die Stärkung der Straf­verfolgungsbehörden und die Bekämpfung von Desinformation. Der nationale Sicher­heitsrat erwähnte in diesem Zusammenhang aber auch, dass es manchmal not­wendig sei, die Streitkräfte »zur Wahrung des Friedens« einzusetzen. Eine Aufgabe der noch zu gründenden Institutionen der Auf­arbeitung wäre es, die unterschiedlichen historischen Deutungen und Perspektiven zu untersuchen, die wahrscheinlich bereits im Zuge der ENDC-Konsultationen zutage getreten sind.

Die Demobilisierung von Kämpfern, die Auflösung von Milizen und die Aufarbeitung des begangenen Unrechts erfordern ein Grundmaß an Vertrauen in staatliche Institutionen. All diese Maßnahmen sollten in eine integrierte Friedensarchitektur ein­gebettet werden, die auch Dialogformate auf lokaler und regionaler Ebene einschließt. Wer durch Konsultationen, Initiativen und Ankündigungen wiederholt Erwartungen bei Opfern weckt, erhöht auch den Druck, tatsächlich Verbesserungen bei den kon­kreten Lebensbedingungen herbeizuführen. Peacebuilding nur zum Schein dürfte hin­gegen den Ärger, die Frustration und Ent­täuschung in der Bevölkerung weiter schüren.

Letztlich stehen alle Instrumente der Friedensförderung vor ähnlichen Herausforderungen wie der nationale Dialog. Die Regierung, deren Vorgehen selbst maß­geblich (wenn auch nicht allein) Konflikte be­fördert, Misstrauen säht und die Zivil­bevöl­kerung gefährdet, kann die Unabhängigkeit und Effektivität dieser Vorhaben nicht garantieren. Hier gibt es Ansatz­punkte für internationale Akteure.

Implikationen für internationale Akteure

Internationale Akteure unterstützen den nationalen Dialogprozess bereits signifikant. Das UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) koordiniert die finanzielle und technische Hilfe als Teil eines größeren Programms zur Friedensförderung. Die EU und mehrere Mit­gliedstaaten, einschließlich Deutschlands, sowie Norwegen finanzieren die Arbeit der ENDC über UNDP mit sieben Millionen Euro. Hinzu kommen technische Expertise und Trai­nings durch die Berghof-Stiftung im Auftrag des Auswärtigen Amts und weiterer inter­nationaler Partner, die bereits mehrere Jahre vor Einrichtung der ENDC begannen.

Die internationalen Akteure bemühen sich um einen schwierigen Balanceakt. Einerseits wollen sie mit dem nationalen Dialog ein Instrument der Friedensförderung in einem Kontext stärken, in dem auf Konflikte oft mit Gewalt und Repression reagiert wird. Andererseits verleiht die ex­terne Unterstützung dem Prozess zusätz­liche Legitimität, wie äthiopische Gesprächs­partner bestätigten. Die internationalen Partner sollten sich bewusst sein, dass sie damit auch eine gewisse Verantwortung für die Effektivität des nationalen Dialogs über­nehmen.

Äthiopiens Regierung zu einem konstruk­tiven Umgang mit dem nationalen Dialog und den anderen Mechanismen der Aus­söhnung und Konfliktbearbeitung zu be­wegen, erfordert eine äußerst sensible und überlegte Herangehensweise. Deutschland sollte sich bei der äthiopischen Regie­rung dafür einsetzen, Friedensverhandlungen in Amhara und Oromia voranzutreiben. Solche Bemühungen von Seiten Addis Abebas wie auch Fortschritte bei der Um­setzung des Pretoria-Abkom­mens in Tigray sollten die Voraussetzung für eine weitere internationale Unterstützung des nationalen Dialogs in diesen Regionen sein. In jedem Fall soll­ten Mittel für den Dialog und zur Friedens­förde­rung insgesamt nicht direkt an die Regierung fließen, sondern gezielt und nachvollziehbar den entsprechenden In­stitutionen wie der ENDC und deren Akti­vitäten zukommen.

Äthiopiens internationale Partner sollten den weiteren Verlauf des nationalen Dia­logs genau verfolgen. Im Hinblick auf ihre Haltung zu dem Prozess sollten sie einen engen Aus­tausch mit Oppositions- und Menschenrechtsvertreter:innen pflegen, die differen­ziert auf den Vorgang schauen. Einige Beobachter fordern bereits, den Dia­log­prozess zu pausieren, um ihn zu refor­mieren und um einen Eliten­dialog zu er­gänzen. Die Erfahrung mit anderen Län­dern wie Sudan und Jemen zeigt, dass eine übermäßige externe Unterstützung für einen fehlerhaften nationalen Dialog auto­ritäre Konfliktbearbeitung legitimieren kann. Die internationalen Förderer und Begleiter des nationalen Dialogs sollten darauf achten, zwischen dem Prozess und möglichen dar­aus folgenden Ergebnissen klar zu unter­scheiden. Sie sollten sich von der äthiopischen Führung nicht für Pro­jekte ein­spannen lassen, die keine Ver­besserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung bringen, sondern lediglich der Imagepflege der Regierung dienen sollen.

Unruhe am Horn von Afrika: Riskanter Deal zwischen Äthiopien und Somaliland

SWP-Podcast 2024/P 02, 01.02.2024

Somaliland soll Äthiopien Zugang zum Meer gewähren. Als Gegenleistung will es als Staat anerkannt werden. Gerrit Kurtz erklärt, welche Interessen hinter diesem Deal stecken und wie dieses Vorgehen die Stabilität am Horn von Afrika gefährdet. Moderation: Dominik Schottner.

Link zum Podcast

Neue Unruhe am Horn von Afrika: Somaliland bietet Äthiopien Hafen gegen Anerkennung

Jemenitische Huthis beschießen Schiffe im Roten Meer. Auf der anderen Seite der Meerenge kocht nun ein weiterer Konflikt hoch. Jetzt reist Außenministerin Baerbock in die Region.

Erschienen im Tagesspiegel, 24.01.2024

Während die Huthi-Angriffe auf Schiffe im Roten Meer internationale Aufmerksamkeit auf den Jemen lenken, spitzt sich auch am anderen Ufer die regionale Konfrontation zu. Das Abkommen, das Äthiopien und Somaliland am 1.Januar 2024 unterzeichneten, beunruhigt die Region am Horn von Afrika.

Sowohl Äthiopiens Premierminister Abiy Ahmed als auch Somalilands Präsident Muse Bihi Abdi verfolgen mit dem Abkommen langjährige Interessen ihrer beiden Länder. Die nördliche Region Somaliland erhebt seit 1991 den Anspruch auf Unabhängigkeit von Somalia, dem bisher allerdings kein UN-Mitglied gefolgt ist. Allerdings treiben die beiden Regierungschefs mit ihrer unabgestimmten Vorgehensweise eine ohnehin konfliktreiche Region weiter auseinander. In dieser Form gefährdet der Deal die Stabilität am Horn von Afrika und dient kurzfristigen politischen Prioritäten.

Als Teil des Abkommens will Äthiopien einen 20 Kilometer langen Küstenstreifen in Somaliland für 50 Jahre pachten, um kommerzielle Hafendienste zu nutzen und eine Basis für die im Aufbau befindliche äthiopische Marine zu errichten. Äthiopien hatte 1993 mit der Unabhängigkeit Eritreas den direkten Zugang zum Meer verloren. In einer viel beachteten Rede hatte Abiy im Oktober 2023 gar davon gesprochen, dass Äthiopien als bevölkerungsreichstes Binnenland der Welt nicht ein „Gefangener der Geographie“ werden dürfe. Die Benutzung des Hafens von Dschibuti, den Äthiopien derzeit überwiegend für seinen Handel nutzt, kostet die Wirtschaft rund 1,5 Milliarden US-Dollar Gebühren pro Jahr.

Im Gegenzug, und das ist der kontroverse Teil der Abmachung, stellt Äthiopien Somaliland in Aussicht, das Land diplomatisch anzuerkennen. Somaliland bezieht sich auf die Grenzen des früheren britischen Protektorats, das 1960 für fünf Tage unabhängig war, bevor es sich mit der früheren italienischen Kolonie am Indischen Ozean zu Somalia vereinigte. In den 1980er Jahren gab es einen brutalen Bürgerkrieg zwischen somaliländischen Rebellen und der Zentralregierung, in deren Folge sich die Region abspaltete. Während Somalia nach dem Sturz des Diktators Siad Barres ins Chaos stürzte, bauten die Menschen in Somaliland ohne viel äußere Hilfe ihren Staat auf, der traditionelle und demokratische Elemente vermischt.

Ob das völkerrechtlich nicht bindende Abkommen tatsächlich die von den beiden Regierungen erhoffte Wirkung zeigen wird, ist allerdings offen. Der Text selbst wurde nicht veröffentlicht. Äthiopien stellte klar, dass es lediglich versprochen habe, „eine tiefgehende Bewertung durchzuführen hinsichtlich einer Position gegenüber den Bemühungen von Somaliland Anerkennung zu erlangen.“ Es ginge eher um Geschäftsinteressen, erklärte der nationale Sicherheitsberater Äthiopiens, Radwan Hussein. Als Bezahlung soll Somaliland entsprechende Anteile an der Fluggesellschaft Ethiopian Airlines erhalten, da Äthiopien über kaum Devisen verfügt.

Seit der Bekanntmachung des Abkommens zwischen Äthiopien und Somaliland ist die Region in Aufruhr. Somalias Präsident Hassan Sheikh Mohamud versprach dem Parlament, „jeden Zoll unseres Territoriums zu schützen“ und mobilisiert diplomatische Unterstützung. Eritrea, Ägypten, die Arabische Liga und die USA sprachen sich gegen das Abkommen aus.

Entscheidend ist das politische Signal, das von dem Abkommen ausgeht. Es zerstört Vertrauen, das ohnehin Mangelware am Horn von Afrika ist. Sowohl Abiy als auch Bihi stehen innenpolitisch stark unter Druck, wie bewaffnete Konflikte in den äthiopischen Regionen Amhara und Oromia sowie in der Region um Las Anod im östlichen Somaliland zeigen. Davon soll der Deal mutmaßlich ablenken und Autonomie- und Abspaltungstendenzen entgegenwirken.

Sowohl Äthiopiens Interesse an einem gesicherten Meereszugang als auch Somalilands Streben nach Anerkennung mögen nachvollziehbar seien. Doch um beide Ziele langfristig abzusichern, braucht es eine Verständigung mit allen betroffenen Stakeholdern. Dazu gehören die Staaten der Region einschließlich der Zentralregierung in Mogadischu. Tatsächlich hatten Somalia und Somaliland nur wenige Tage vor der Verkündung des Abkommens unter Vermittlung Dschibutis beschlossen, Gespräche über ihr gemeinsames Verhältnis wiederaufzunehmen.

Zudem trägt die Abmachung zu einer Lagerbildung bei, welche außerregionale Mächte einschließt. Somalia und Eritrea suchen die Kooperation Ägyptens. Umgekehrt verbinden Äthiopien und Somaliland enge Beziehungen zu den Vereinigten Arabischen Emiraten. Auch im Krieg im Nachbarland Sudan unterstützen Ägypten und die VAE unterschiedliche Seiten.

Die Regionalorganisation IGAD ist gespalten, wie ihr jüngster Gipfel letzte Woche in Kampala zeigte. Dort stand das Abkommen auf der Tagesordnung, doch Abiy blieb dem Treffen fern.

Es bräuchte ein Dialog-Format, bei dem sowohl die regionalen als auch die außer-regionalen Regierungen zusammenkommen, was weder bei der Afrikanischen Union noch der Arabischen Liga der Fall ist. Die EU sollte eine entsprechende regionale Diplomatie unterstützen. Außenministerin Baerbock, die diese Woche die Region bereist, könnte sich dafür einsetzen.


Äthiopien: Fragile Macht am Horn von Afrika

Erschienen in: Barbara Lippert/Stefan Mair (Hg.): Mittlere Mächte – einflussreiche Akteure in der internationalen Politik, SWP-Studie 2024/S 01, 23.01.2024, 94 Seiten, doi:10.18449/2024S01

Seit Jahrzehnten ist Äthiopien ein zentraler Partner für externe Akteure. Das liegt nicht zuletzt an seiner strategischen Lage am Horn von Afrika, aus der sich verschiedene Rollen ergeben. Äthiopien ist eine Brücke zwischen der arabisch-muslimischen und der afrikanischen Welt, war einer der frühesten christlich geprägten Staaten, später eine afrikanische Imperialmacht, die sich auf Augenhöhe mit den europäischen Großmächten sah, und fungiert heute als Sitz der Afri­kanischen Union (AU). Seine Beziehungen zu den USA und zur EU haben sich in den letzten Jahren jedoch erheblich abgekühlt. Grund dafür ist vor allem der Bürgerkrieg mit der Tigray People’s Liberation Front (TPLF) im Norden des Landes, bei dem es zu mas­siven Menschenrechtsverletzungen kam. Premier­minister Abiy Ahmed verfolgt einen nationalistischen Erneuerungskurs, mit dem er sowohl innen- als auch außenpolitisch an die Grenzen von Äthiopiens staat­lichen Fähigkeiten stößt. An Ambitionen mangelt es ihm nicht. 2021 sagte Abiy vor dem nationalen Parla­ment, bis zur Mitte des Jahrhunderts solle Äthiopien eine von zwei globalen Supermächten werden.1 Äthio­pische Experten sehen das Land derzeit jedoch kaum auf der Höhe von Mittelmächten wie Saudi-Arabien oder den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE).2

Dabei untermauern zumindest einige materielle Indikatoren den Führungsanspruch Äthiopiens. Unter Afrikas Staaten hat es mit 126 Millionen Menschen die zweitgrößte Bevölkerung, die zudem rasant wächst. In den letzten zwanzig Jahren gehörte Äthio­pien zu den Ländern mit den höchsten wirtschaft­lichen Zuwachsraten der Welt – sein Bruttoinlandsprodukt hat sich in der Zeit mehr als versechzehnfacht. Mittlerweile verfügt Äthiopien auch über die zahlenmäßig größte Militärmacht in Sub-Sahara-Afrika, nachdem es seine Verteidigungsausgaben im Zuge des Bürgerkriegs erheblich gesteigert hat.3

Potential und Anspruch des Landes stehen jedoch in deutlicher Spannung zu seiner Fragilität. Schon die Vorgängerregierung unter Führung der Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front (EPRDF) sorgte sich um die Stabilität des Vielvölkerstaates. Laut der außen- und sicherheitspolitischen Strategie der damaligen Regierung waren Äthiopiens ökono­mische und (nach ihrem Verständnis) demokratische Defizite das größte Sicherheitsrisiko, weshalb es höchste Priorität haben müsse, rasch für mehr Ent­wicklung zu sorgen.4 Das stark von staatlicher Seite forcierte Wirtschaftsmodell geriet Mitte der 2010er Jahre aber zunehmend unter Druck, weil es nicht genügend Beschäftigung hervorbrachte.

Nach seinem Amtsantritt als Folge eines Machtwechsels innerhalb der EPRDF im April 2018 steuerte Abiy mit wirtschaftlichen und politischen Reformen um. Diese gerieten wegen der Covid-19-Pandemie aber schon bald ins Stocken. Der Krieg gegen die TPLF ab November 2020 stürzte das Land in eine tiefe Krise. Der Friedensprozess, der mit dem Pretoria-Abkom­men im November 2022 einsetzte, brachte neue Schwierigkeiten mit sich. Zusehends entglitt der Regierung das Gewaltmonopol. Äthiopiens bevölkerungsreichste Bundesstaaten Amhara und Oromia sowie weitere Teile des Landes werden heute von be­waffneten Konflikten, Kriminalität und Vertreibung erschüttert. Das Verhältnis zu Eritrea, das seine Inter­essen im Pretoria-Abkommen nicht berücksichtigt sah, verschlechterte sich in einem Maße, dass mittel­fristig ein erneuter Waffengang zwischen beiden Staaten droht. Der Eritreisch-Äthiopische Krieg von 1998 bis 2000 wirkt bis heute nach.

Für deutsche wie europäische Entscheidungsträgerinnen und ‑träger bleibt Äthiopien wichtig. In ihren Augen ist das Land schlichtweg zu groß, um es als staatliches Gemeinwesen scheitern zu lassen – seine Fragilität ist ein systemisches Risiko für die regionale Ordnung in Afrika, an der die EU ein eminentes Inter­esse hat. Äthiopien leistete in der Vergangenheit wich­tige Beiträge zur Konfliktbearbeitung in seinem Umfeld und setzte sich für die regionale Integration ein. Dabei hängt die Entwicklung des Landes nicht primär von Europa ab.

In den letzten Jahren entfernte sich Äthiopien von seiner international balancierenden Position, die es lange Zeit eingenommen hatte. Zwar sieht sich die politische Elite dank langjähriger Kooperation den westlichen Staaten und demokratischen Werten ver­bunden, doch setzt die Regierung stark auf eine Kooperation mit China, Russland und den VAE. Ob Äthiopien künftig eine Führungsrolle spielen kann und wie sich seine außenpolitische Handlungsfähigkeit gestaltet, dürfte insbesondere von der inneren Entwicklung und der regionalen Ausrichtung des Landes bestimmt werden.

Grundzüge der Außenpolitik unter Abiy

Abiys Regierung verfolgt einen neuen ideologischen Kurs, der eine Rückbesinnung auf die antiken Wur­zeln des äthiopischen Staatswesens propagiert.5 Spä­testens seit dem Sieg über italienische Kolonialkräfte in der Schlacht von Adua 1896 sah sich bereits das abessinische Kaiserreich als gleichberechtigten Teil der internationalen Ordnung. Im Gegensatz zu den sozialistisch geprägten EPRDF-Eliten vertritt Abiy einen eher wirtschaftsliberalen Ansatz, den er um das kulturelle Kapital der Traditionslinie zur antiken Zivi­lisation ergänzt. Dabei bleiben Äthiopiens Innen- und Außenpolitik, die stark auf den Premierminister aus­gerichtet sind, unter Abiy teilweise erratisch. So lässt sich derzeit nur begrenzt von einer übergeordneten außenpolitischen Identität des Landes sprechen. Der Kurs nationaler Größe, den die aktuelle Regierung verfolgt, wird jedoch immer wieder durch länger­fristig wirkende Faktoren eingehegt – wie den pan­afrikanischen Multilateralismus und das äthiopische Streben nach einem Ausgleich zwischen den Groß­mächten. Abiys Forderung etwa, dem Land einen direkten Zugang zum Roten Meer zu verschaffen,6 entspringt nicht allein dem Wunsch nach nationalem Prestige und regionaler Vorherrschaft, sondern eben­so dem Ziel, die heimische Wirtschaft von Großmacht­konflikten, welche Äthiopiens Nachbarn betreffen könnten, unabhängiger zu machen.

Die Folgen dieser politischen Neuausrichtung zeigen sich in Äthiopiens regionaler Orientierung. Hatte die EPRDF-Regierung, deren dominanter Teil die TPLF war, stets eine führende Rolle in den afrika­nischen Regionalorganisationen gespielt, werden diese von Abiy eher vernachlässigt. Abiys wechselnde regionale Partnerschaften erschweren die regionale Integration. Während des Kriegs gegen die TPLF arbei­tete Äthiopien militärisch eng mit Eritrea und Soma­lia zusammen. Asmara entsandte erhebliche Kontin­gente in den Kampf gegen die TPLF. Mit Sudan kam es währenddessen zu Grenzscharmützeln. In dieser Phase verringerte sich Äthiopiens Beitrag zu UN-Frie­densmissionen, deren größter Truppensteller das Land noch Mitte 2020 gewesen war, um über 75 Pro­zent. Zwar spielten AU und IGAD eine wichtige Rolle bei der Verhandlung des Pretoria-Abkommens, das den Krieg im Norden Äthiopiens beenden sollte. In der Folge kühlten sich Äthiopiens Beziehungen mit Eritrea jedoch ab, das seine Interessen im Frieden mit der TPLF nicht berücksichtigt sah. Nachdem Äthiopien Somaliland am 1. Januar 2024 in Aussicht gestellt hatte, dessen Unabhängigkeit von Somalia anzuerkennen, im Gegenzug für einen fünfzig Jahre gelten­den Meereszugang für die im Aufbau befindliche äthiopische Marine, verschlechterte sich auch das bilaterale Verhältnis zu Somalia.

Äthiopien will sich nicht vorschreiben lassen, mit welchen Ländern es prioritär zusammenarbeitet. Durch den Bürgerkrieg haben sich seine Partnerschaften verschoben. Die USA hatten gute Beziehungen zur EPRDF-Regierung. Aus amerikanischer Sicht war Äthiopien ein Stabilitätsanker am Horn von Afrika und ein wichtiger Partner im Kampf gegen islamistischen Terrorismus. Doch im Laufe des Krieges kappte Washington viele dieser Beziehungen und entzog Äthiopien Handelsprivilegien. Dass die Rolle des Lan­des als regionaler Sicherheitspartner Amerikas ver­fällt, werten manche Beobachter als »eines der fol­gen­reichsten strategischen Debakel, das die US-Außen­politik seit einer Generation in Afrika erlebt hat«.7

China investierte bereits unter der EPRDF-Regie­rung stark in Äthiopien, vor allem in den Transport- und Energiesektor. Dies betraf etwa die Eisenbahnstrecke zwischen Addis Abeba und Dschibuti. Ihr Maximum hatten chinesische Kredite für Äthiopien bereits vor rund einem Jahrzehnt erreicht.8 Mittlerweile ist die Volksrepublik der größte bilaterale Aus­landsschuldner des Landes.9 Auf diplomatischer Ebene sind die Beziehungen weiterhin eng. Die erste Reise des damals neu ernannten chinesischen Außen­ministers Qin Gang führte im Januar 2023 nach Addis Abeba. Ein Jahr zuvor hatte China bereits seine Ini­tiative für die »friedliche Entwicklung am Horn von Afrika« vorgestellt.10

Die Beziehungen Äthiopiens zu Russland reichen bis 1898 zurück, als beide Länder noch Monarchien waren. Äthiopien ist zwar von den wirtschaftlichen Auswirkungen des russischen Überfalls auf die Ukraine betroffen (vor allem bei Dünger), profitierte jedoch während des Krieges mit der TPLF auch von Moskaus Schutz im UN-Sicherheitsrat. Um ein eigenes Kernkraftwerk zu errichten, kooperiert Äthiopien mit Rosatom, der russischen Agentur für Atomenergie.

Daneben wurden die VAE zu einem der wichtigs­ten Partner des Landes. Die Emirate boten Abiy eine schnelle Finanzierung zu Beginn seiner Reform­agenda 2018. In kurzer Zeit stiegen sie überdies zu Äthiopiens wichtigstem Handelspartner auf – über 25 Prozent aller äthiopischen Exporte, vor allem Gold, gingen 2022 in die VAE, mehr als auf den gesamten afrikanischen Kontinent.11 Die Emirate lieferten (neben der Türkei und Iran) bewaffnete Drohnen an Äthiopien, die entscheidend dazu beitrugen, den Vormarsch der Tigray Defence Forces im Herbst 2021 zurückzuschlagen.12

Angesichts dieser geopolitischen Ausrichtung ent­schied der 15. BRICS-Gipfel im August 2023, Äthio­pien in die Gruppe aufzunehmen. Für Abiy ist der 2024 anstehende Beitritt zum Kreis der BRICS+-Länder »einer der größten diplomatischen Siege des Landes in den letzten Jahrzehnten«.13 Die Kooperation mit dem Format fügt sich ein in Abiys Ziel, Äthiopien zu einer führenden Macht zu entwickeln, dient aber vor allem auch den wirtschaftlichen Interessen und finan­ziellen Bedarfen des Landes.

Äthiopiens regionales und internationales Engagement

Auch unter der Vorgängerregierung war Äthiopien in wichtigen Fragen selten ein enger Partner Deutsch­lands, wie sich am Abstimmungsverhalten der beiden Länder in der UN-Generalversammlung zeigt. Äthio­pien stimmt seit über zwanzig Jahren öfter mit China als mit Deutschland. Mittlerweile gehört Letzteres so­gar zu den zehn Ländern, mit denen Äthiopien in den Vereinten Nationen am seltensten übereinstimmt.14

Deutschlands Interesse an Äthiopien gilt nicht zu­letzt dessen Beiträgen zu regionaler Kooperation, zu Friedensförderung und afrikanischer Handlungsmacht auf globaler Ebene. Das Land ist überdies an der militärischen Aufstandsbekämpfung in Soma­lia beteiligt. Dies geschieht über die EU-finanzierte Afri­can Union Transition Mission in Somalia (ATMIS) und die regionale Frontline States Task Force. Zudem ist Äthiopien eines der wichtigsten Aufnahmeländer für Geflüchtete in Afrika.

Auf kontinentaler Ebene engagierte sich Äthiopien im Zuge der Covid‑19-Pandemie. Im März 2020 rief Abiy die G20-Staaten auf, zusätzliche Finanzmittel für alle afrikanischen Staaten zu mobilisieren, denn nur so könne Corona umfassend bekämpft werden.15 In diesem Zusammenhang machte er Äthiopien zum kontinentalen Hub für die Verteilung medizinischer Güter, wozu er Ethiopian Airlines einsetzte.16

Seit dem Abkommen von Pretoria bemüht sich Äthiopien um eine Wiederannäherung an westliche Länder, mit einigem Erfolg. So nahm Abiy am US-Afrika-Gipfel Ende 2022 in Washington teil. Im Jahr darauf war er jeweils zweimal in Paris und Rom. Äthiopien ist insbesondere an vertiefter wirtschaft­licher Zusammenarbeit, an Schuldenumstrukturierung und Unterstützung für einen Kredit des Inter­nationalen Währungsfonds (IWF) interessiert. Die enormen Kosten des heimischen Krieges und der an­haltenden Sicherheitsprobleme in vielen Teilen des Landes belasten den Staatshaushalt. Hinzu kommen eine hohe Inflation von über 30 Prozent und ein Mangel an Devisenreserven, mit denen sich Importe finanzieren ließen. Trotz dieser wirtschaftlichen Nöte verwahrt sich die äthiopische Regierung gegen eine starke Konditionierung internationaler Finanzhilfen.

Schlussfolgerungen

Äthiopien nimmt keine »Mittelposition« in der auf­kommenden Bipolarität ein, sondern orientiert sich mehr an einer von China und Russland geprägten Ordnung. Deutschland sollte sich darauf einstellen, dass Äthiopien auch weiterhin seine Souveränität betonen und Beziehungen transaktional gestalten wird. In einer fluideren Weltpolitik, in der es wenig verlässliche Bündnisse gibt, bestehen jedoch Ansatz­punkte für eine bilaterale Kooperation.

Deutschland sollte mit der äthiopischen Regierung auf Politikfeldern, an denen beiderseitiges Interesse besteht, in einer Weise zusammenarbeiten, die über­geordnete deutsche Prioritäten nicht untergräbt, was die Glaubwürdigkeit internationaler Normen, der eigenen Kooperationsinstrumente und multilateraler Institutionen betrifft. Kommunikativ sollte die Bun­desregierung den Eindruck vermeiden, Äthiopien sei ein demokratisches Land, bloß weil dort Wahlen stattfinden.17

Deutschland hat ein Interesse daran, dass Äthiopien wieder zum Exporteur von Frieden und Stabilität in der Region wird.

Äthiopien bleibt Partnerland im »Compact with Africa« – einem Format, in dem die Regierungschefs aller Partnerländer von der Bundesregierung regel­mäßig zu Wirtschaftsgipfeln nach Berlin eingeladen werden. Fraglich ist jedoch, wie sehr diese diplomatischen Treffen und entsprechende Förderinstrumente der Bundesregierung dazu beitragen können, privat­wirtschaftliche Investitionen deutscher Unternehmen in Äthiopien anzuregen. Das größte Hindernis für solche Investitionen entsteht durch den politisch-wirtschaftlichen Kontext dort, insbesondere die be­waffneten Konflikte und die engen Kapitalverkehrskontrollen. Ein hochrangiger Dialog mit Addis Abeba zur Förderung von Investitionen kann nur dann Erfolg haben, wenn er sensible Governance-Themen offen thematisiert. Die von Äthiopien benötigten multilateralen makroökonomischen Hilfen bieten einen wichtigen Hebel, um von der Regierung mehr Transparenz und Rechenschaftspflichtigkeit gegenüber der eigenen Bevölkerung einzufordern.

Gemeinsame Interessen Deutschlands und Äthiopien bestehen beim Klimaschutz. Hier engagiert sich das Land im Rahmen seiner Green Legacy Initiative mit massenhaften Baumpflanzungen. Darüber hinaus ist es im deutschen Interesse, dass Äthiopien Kon­flikte im eigenen Land und in der Region gewaltfrei bear­beitet, damit es wieder zum Exporteur von Frie­den und Stabilität am Horn von Afrika wird.

Sustaining Peace in Ethiopia

The end of the war in the North should be the prelude to fundamental governance reforms

SWP Comment 2023/C 14, 07.03.2023

The agreement signed by the Tigray People’s Liberation Front (TPLF) and the Ethio­pian government on 2 November 2022 offers a real chance to end one of the bloodiest wars in the world. The implementation of the agreement is going well so far. How­ever, the peace process has brought into focus the question of a stable distribution of power within Ethiopia and in the Horn of Africa. The government under Prime Minister Abiy Ahmed faces three key challenges. First, it must integrate the TPLF and at the same time disengage from the partnership with Eritrea. Second, it must rebalance the domestic relationship between the main political actors in order to stop the escalating violence in the states of Amhara and Oromia. Finally, it must bring together a society divided and impoverished by war. International partners should support Ethiopia in addressing these challenges with conditional financial assistance and peacebuilding projects.

In January, Federal Foreign Minister Anna­lena Baerbock and her French counterpart, Catherine Colonna, visited Addis Ababa together. Their message: European partners are willing to intensify their cooperation with the Ethiopian government again if the peace process in Tigray is credible and, above all, if steps are taken to address the massive human rights violations.

Ethiopia’s civil war is the expression of a power struggle within the country’s ruling elite. In 2018, Prime Minister Abiy had sur­prisingly won an internal vote in the multi-party coalition Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front against the can­didate supported by the TPLF. When Abiy formed the new Prosperity Party from the old coalition in 2019, the TPLF, which had dominated the coalition government for 27 years, was left out. The TPLF retreated to Tigray while Abiy scaled back its influence within the government and security appara­tus and pursued a political and economic reform agenda.

However, the centralist course of Abiy’s government ran counter to demands for greater ethnic self-determination and political participation from communities across the country who saw their time had come after the TPLF had been set back. The 2018 transfer of power took place after years of protests in the states of Amhara and Oromia against Tigray’s dominance in Ethiopia. However, the differences between the government and the TPLF intensified the most, and in early November 2020, these differences escalated into an armed conflict.

The war was not limited to Tigray; there­fore, neither can the peace process be. In Ethiopia’s most populous states, Oromia and Amhara, ethno-nationalist forces have gained ground in recent years, fighting partly against the state and also against each other.

Abiy’s power base is crumbling as a re­sult of these fault lines, and no alternative centre of power has emerged. At stake is the stability – and ultimately even the unity – of the Ethiopian state. An optimistic per­spective, however, is that the peace process also offers an opportunity to involve more communities, strengthen civil society and renegotiate the distribution of power be­tween the centre and ethnically defined federal states that has preoccupied Ethiopia for decades.

Stopping the fighting helps Abiy to remain in power

The “agreement for a lasting peace through a permanent cessation of hostilities”, which the TPLF and the Ethiopian government signed in Pretoria, South Africa, and which was mediated by the African Union (AU), came as quite a surprise. A ceasefire lasting about five months in the first half of 2022 had brought no progress in negotiations. The fighting, which had flared up again at the end of August, was marked by a partic­u­lar degree of cruelty and a massive deploy­ment of troops. Reports speak of up to one million fighters deployed by all sides. In a joint offensive, Eritrean troops and the Ethiopian National Defence Forces (ENDF) captured strategically important towns in Tigray and were close to the regional capi­tal, Mekelle. The TPLF was sceptical about the AU as a credible mediator, which had delayed the start of peace talks.

In light of the military situation, the Ethiopian government’s rationale in partic­ular requires explanation. Its opponent, the Tigray Defence Forces (TDF), had already driven the Ethiopian armed forces out of Tigray in guerrilla actions in 2021 and then advanced into Amhara and Afar. However, the TDF did not manage to reach Addis Ababa or the supply routes between the economic centre of the country and the port in Djibouti. In autumn 2022, the TDF also ran out of supplies and ammunition.

For both sides, the war was associated with enormous costs. Estimates put the civil­ian death toll in Tigray alone at 518,000 at the end of 2022. Civilian casualties in Afar and Amhara and presumably hundreds of thousands of fallen fighters need to be added to this count. A total of 600,000–800,000 fatalities also corresponds with the order of magnitude cited by high-ranking representatives of the European Union (EU), the United States and the AU. Thus, about one-tenth of Tigray’s pre-war population may have lost their lives in the war, mainly due to the lack of medical care and mal­nutrition. The government blocked humani­tarian access for months and cut off Tigray’s population from electricity, telecommunications and banking services.

Abiy probably agreed to the cessation of hostilities because it helps to secure his own power. A complete military conquest of Tigray would probably have meant that the government would have had to con­centrate its armed forces in Tigray permanently in order to prevent possible guerrilla actions. The high military expenditure was a burden on Ethiopia’s national budget any­way. It would have become more difficult for Abiy to finance public investments, which have driven economic growth in the last decade and provided opportunities for patronage.

A permanent troop concentration in Tigray would also have prevented the government from deploying more military to the other conflict areas in the country. More­over, this scenario would have further increased Abiy’s dependence on Eritrea, which had deployed a significant part of its forces against the TDF.

After all, a military end to the war would have exposed the government to further international pressure. Although it had support for its course from the Trump ad­ministration and AU Commission Chair Moussa Faki Mahamat at the beginning of the war, this changed later. The United States suspended trade privileges under the African Growth and Opportunity Act on 1 January 2022, which hit Ethiopia’s textile sector particularly hard. Calls for further sanctions intensified in the US Congress. In the region, Kenya campaigned for a peace­ful solution to the war. After AU Special Envoy Olusegun Obasanjo failed to make progress, the AU expanded the mediation panel to include Uhuru Kenyatta, Kenya’s ex-president, and Phumzile Mlambo-Ngcuka, a former vice-president of South Africa.

The agreement is working – so far

The core of the agreement consists of a deal: The TPLF has committed to the complete disarmament, demobilisation and reintegration of the TDF into civilian life or into regular Tigray security forces and to the peaceful transfer of control to the police and armed forces of the central government. In return, the TPLF is to be removed from the Ethiopian terror list, humanitarian deliveries and basic services for the popu­lation in Tigray are to be restored and non-federal troops are to withdraw.

The most important goal of the agreement was achieved very quickly: an end to the fighting between the TDF and the ENDF. Both forces withdrew from the front lines. For most people in northern Ethiopia, the situation improved. Ninety per cent of Tigray’s population is dependent on food assistance – a large proportion of them now have access to aid again. Many towns were reconnected to the electricity grid in December. Banks reopened, telecommunications and internet connections were restored. Ethiopian Airlines resumed direct flights between Mekelle and Addis Ababa. But the quality of infrastructure is often still weak, and some areas remain barely accessible to humanitarian agencies, espe­cially those off of major roads and on the border with Eritrea. There are 2.3 million children out of school in Tigray alone, more than half of them for more than two years. Reconstruction will take a long time.

Close partnership with Eritrea

A sticking point in the peace process re­mains how to deal with those armed actors who were not present at the peace negotia­tions, primarily Eritrea and groups from Amhara.

For Abiy, Eritrean President Isaias Afwerki was an important ally in his power struggle against the TPLF. Isaias has har­boured deep hostility towards the TPLF ever since the border war over the town of Badme in northern Tigray (1998–2000). Al­though the Ethiopian government occupied the territory awarded to Eritrea by an international border commission after the war, Eritrea became increasingly isolated internationally. When it became known that the government in Asmara was sup­porting Al‑Shabaab in Somalia, the United Nations (UN) Security Council, at Ethiopia’s instigation, imposed sanctions and an arms embargo on Eritrea in 2009. The alleged threat posed by the TPLF – Ethiopia’s rul­ing party at the time – was used by Isaias to justify the introduction of indefinite mili­tary and labour service, which con­scripts Eritrean men and women alike.

The July 2018 agreement between Eritrea and Ethiopia, which earned Abiy the Nobel Peace Prize a year later, brought little last­ing progress in the border region. Nevertheless, it strengthened security and intelligence cooperation between the two govern­ments and led to the lifting of UN sanctions. As relations between the TPLF and Abiy deteriorated, the peace agreement turned into a war pact. Months before the war be­gan, Abiy moved military forces to Tigray. Eritrea organised training for 60,000 troops from Amhara state (according to the federal constitution, Ethiopian states have their own security forces).

Isaias accordingly views the peace process between the TPLF and the Ethiopian government with great scepticism. Even though Eritrean troop movements from some Tigray towns were reported as with­drawing in January, Eritrean military units are arguably still present in some areas of Tigray, in addition to special forces from other Ethiopian federal states, especially from Amhara. Eritrean and Amharic troops are blamed for attacks on civilians, includ­ing sexual violence, kidnapping and loot­ing. Between the beginning of November and the end of December 2022 alone, sev­eral thousand people are said to have been killed.

In contrast, the senior military commanders of the two conflict parties had agreed at a follow-up meeting 10 days after the Pretoria agreement in Nairobi that all non-ENDF troops should withdraw “concur­rently” with the disarmament of the TDF. To monitor compliance with the agreement, the AU set up a monitoring and verification mechanism led by Major General Stephan Radina from Kenya. This began its work at the end of December and confirmed on 10 January 2023 that the TDF had handed over most of its heavy weapons to the ENDF, including tanks and artillery. However, the AU team has not yet reported the withdrawal of non-ENDF troops from Tigray.

Domestic tensions

The ceasefire agreement offers indications for the peace process going forward, but it does not contain a comprehensive settlement of longer-term conflicts. Abiy’s chal­lenge is to make concessions to the TPLF in the peace process without putting too much strain on his other domestic alliances.

First, there is the future role of the TPLF in Ethiopian politics. The agreement fore­sees the formation of an inclusive interim administration for Tigray after the delisting of the TPLF as a terrorist organisation. It is considered likely that the TPLF will achieve a broad majority in the as of yet unscheduled elections for the regional parliament and for the representation of Tigray in the Ethiopian parliament. The question is whether the TPLF will allow itself to be integrated into Abiy’s government, whether it will withdraw to an opposition role or whether it will allow itself to be permanent­ly reduced to a purely regional party. At the same time, the TPLF must also strive for a more open and inclusive style of gov­ernment in Tigray itself, which opposition parties there are already calling for.

Abiy is encountering scepticism from Amhara about the peace process with the TPLF. Amhara were themselves victims of mass atrocities committed by the TDF, in­cluding sexual violence and looting of civil­ian infrastructure. Amharic leaders have therefore advocated for accountability of the TDF’s abuses and remain cautious about the possible involvement of the TPLF in the federal government.

Abiy will also have to perform a balancing act with regard to areas in West and South Tigray, which Amharic units occupied together with the ENDF at the beginning of the war (see map). In doing so, they dis­placed a large portion of the Tigrinya popu­lation in a campaign that a comprehensive report by Human Rights Watch and Amnes­ty International described as ethnic cleans­ing. The Amharic side points out that the TPLF had annexed the areas to the state of Tigray in the early 1990s and in turn dis­placed Amharic residents. The ceasefire agreement only stipulates that the affilia­tion of these areas is to be settled within the framework of the constitution. The Ethiopian government is likely to try to delay a final decision on the status of the disputed areas as long as possible in order to avoid having to choose between the peace partner TPLF and allies from Amhara.

Finally, the government has been trying since mid-2022 to curb the influence of irregular Amharic militias, the Fano, with whom it had cooperated during the war. They are accused of massive human rights violations. At one point numbering several tens of thousands, the Fano threaten the government’s monopoly on the use of violence. They are also active in Oromia.

Escalation in Oromia

Potentially the most explosive situation for Abiy and Ethiopia’s stability is no longer the conflict in Tigray, but conflicts in Oromia and tensions between Oromos and Amhara. The peace process with the TPLF could have both positive and negative effects on the government’s handling of these conflicts. The root cause is ultimately the same, namely the distribution of power between regions and the centre.

Although they are the largest ethnic group in the country, accounting for about one-third of the population, Oromos have never had a leading role in Ethiopia’s his­tory. Large parts of today’s Oromia state only became part of the Ethiopian empire in the second half of the 19th century.

Abiy himself comes from Oromia, where he worked in the regional government. However, many young people who were drivers of the pre-2018 reform protests see Abiy’s unitarism as a return to accommodation with Amharic-style centralism.

Operating at the end of Oromia’s nationalist spectrum is the Oromo Liberation Army (OLA), an armed group that split from the decades-old Oromo Liberation Front (OLF) in 2018. The OLF signed a peace agree­ment with Abiy’s government in 2018 that the OLA subsequently rejected. In 2021, the OLA allied itself with the TPLF. After various phases of ups and downs, violence escalated again in November 2022, with clashes be­tween the OLA and Fano militias and regu­lar ENDF units, in addition to attacks on civilian infrastructure. Oromos are con­cerned that the Fano could occupy land that they consider Amharic, just as they did in Tigray. Land conflicts between Oromos and Amhara are thus politicised by armed groups from both sides. Hundreds of thou­sands of people have already fled from Oromia to Amhara.

The violence in Oromia is different from the conflict with the TPLF, but still serious. The OLA is probably too small, fragmented and ill-equipped to conquer larger cities or even Addis Ababa, even though it sometimes fights up to 25 kilometres from the capital (see map). The larger consequence of their actions is the climate of insecurity in an economically important region of the country. The German ambassador to Ethio­pia, for example, has already expressed his concerns about attacks on investors in Oromia. Ethiopia’s main supply links with the port of Djibouti also run through Oromia.

If the conflict between armed groups of Amhara and Oromia escalates, this could have serious consequences for the unity and governability of Ethiopia. At present, this scenario still seems unlikely, not least because the political actors in both states are much more heterogeneous than in Tigray.

However, the peace process in the north could also serve as a model for Oromia. Around 80 members of parliament from Abiy’s party in Oromia have already called on him to enter into peace negotiations with the OLA. The government has so far rejected negotiations, citing the fragmented leadership structure of the OLA, which – like the TPLF – is listed as a terrorist group. More recently, however, Abiy has shown himself to be more open to negotiations.

Holding the country together

The armed conflicts are being fuelled by a polarised society and an economy in crisis. Although Abiy’s government is not cur­rent­ly in danger of being overthrown by an in­surgency or voted out in elections, it needs to consolidate its position and unite society.

Politicians and other public actors have exacerbated ethnic polarisation during the war. Prime Minister Abiy himself referred to the TPLF in July 2021 as a “weed” and a “cancer” that needed to be eradicated. While the government stressed that it dis­tinguished between the people of Tigray and the TPLF, there were dehumanising statements on social media towards the people of Tigray in general, as Alice Wairi­mu Nderitu, the UN Special Adviser on the Prevention of Genocide, warned in October 2022. From the perspective of many people in Tigray, Abiy’s government stands for genocide against Tigray.

One answer to the polarisation in society can possibly be provided by the national dialogue that the government initiated with the establishment of a commission in December 2021. For this to be effective, opposition forces – not least the TPLF and parties from Oromia – would have to par­ticipate. So far, many perceive the process as being too one-sided and dominated by the government. In addition, the government would have to stop restricting access to media. If the national dialogue became more inclusive and independent – possibly also thanks to German support for a multi-track dialogue that has been ongoing for some time – it could provide an important platform to address fundamental social and political issues.

Looking at recent Ethiopian history, con­flict researcher Semir Yusuf argues that neither protest movements nor violent resistance have led to Ethiopia’s democratic transformation. Instead, what is needed for genuine democratisation is greater indepen­dence of institutions and stronger party structures.

Last but not least, Ethiopia’s economy and public finances have suffered enor­mously. The government estimates that the financial need for reconstruction in the war-torn areas in Tigray, Afar and Amhara is around US$ 20 billion. At the same time, the national budget is running a high deficit due to elevated military spending and an economic downturn. If access to financial resources continues to tighten, it is likely to become more difficult for the government to co-opt key elites. With currency reserves lower than one month’s external payment obligations, the rating agency Fitch has already warned of an increased credit default risk for Ethiopia.

In addition to the war, the economy is still suffering from the aftermath of the Covid-19 pandemic and the increase in fertiliser and energy prices in the wake of Russia’s war of aggression against Ukraine.

The population is feeling the consequences. The annual inflation rate was 33.9 per cent in December 2022 – the third highest in Africa. Due to the armed con­flicts and a regional drought due to the failure of five rainy seasons in a row to materialise, 28.6 million people have become dependent on humanitarian aid.

The government is therefore urgently seeking a debt adjustment programme and financial support from the International Monetary Fund (IMF). The IMF had post­poned such talks due to the renewed out­break of fighting in 2022.

European support needs prudence

Baerbock and Colonna also placed their visit to Ethiopia in the current geopolitical context. Standing in front of sacks of wheat donated by Ukraine and financed by the two governments, the German Foreign Minister justified the aid with the aim of “not letting the people of Ethiopia also be­come victims of Russia’s war of aggression”.

This narrative has not caught on in Ethio­pia, whose relations with Russia and China have become even closer since the start of the Tigray war. Both partners held a protective hand over Ethiopia’s government in the UN Security Council. China is the largest source of foreign investment in Ethiopia.

Instead, Baerbock’s statement attests to the risk of ignoring the specific context of the country, Africa’s second-largest by popu­lation, in favour of a pro-government narrative by focusing on the geopolitical competition for influence. In addition to the climate change-induced drought, mil­lions of people in Ethiopia are food-in­secure because of the war at home and the previous humanitarian blockade by Abiy’s govern­ment. In February, Abiy even launched wheat exports to bring in much-needed foreign currency.

An uncritical engagement by Europe to recover ground from its geopolitical rivals Russia and China could be counterproductive. It was not least the excessive inter­national enthusiasm at the beginning of Abiy’s reform course that encouraged the prime minister to follow his uncompromising course towards the TPLF.

The Tigray war did not lead the German government to put its preferred partnership with the government of Ethiopia on ice. At the end of 2020, it suspended the pledged reform financing but maintained Ethiopia’s status as a reform partner country of Ger­man development cooperation. Chancellor Angela Merkel promoted German investment at her Africa Summit in August 2021, which Abiy also attended. It was not until January 2023 – in the course of the new Africa Strategy of the Federal Ministry for Economic Cooperation and Development (BMZ) – that Development Minister Svenja Schulze announced that the reform part­ner­ships would be phased out as an instrument.

At the end of December 2022, the EU member states spelt out their conditions for a gradual resumption of budget support, which was also suspended by the EU. These are 1) progress in implementing the cease­fire agreement, 2) unimpeded humanitar­ian access and 3) addressing the massive human rights violations. In particular, there has been progress in the first two areas, such as disarming the TDF and deliv­ering aid to large parts of Tigray. In early February 2023, Abiy met TPLF representatives in person for the first time since the war began.

The EU has not publicly clarified what exactly the condition for accountability entails. It is true that the Ethiopian govern­ment rejects the International Commission of Human Rights Experts for Ethiopia, which the UN Human Rights Council established at the end of 2021. However, the Ethiopian Human Rights Commission continues to work with the Office of the UN High Com­missioner for Human Rights on the issue of accountability. In addition, the Ethiopian Ministry of Justice published a green paper on transitional justice.

Germany and its European partners should do what they can to support the peace process, which is rightly driven pri­marily by the Ethiopian parties to the con­flict. Concrete projects for stabilisation and peacebuilding are important for this. How­ever, Germany should also work to ensure that the media, civil society and academia in Ethiopia are given greater freedom. Tran­sitional justice and reconciliation should remain on the agenda without prescribing specific mechanisms. In any case, the Ger­man government should also continue its support for the Ethiopian Human Rights Commission and the Election Commission.

In the course of their gradual normalisation of relations with Ethiopia, Germany and its European partners should pay closer attention to the root causes of the violence, not only in Tigray but also in Oromia and Amhara. For this, they do not need to change the conditions they have already set, but they need to focus more on trans­parency, population orientation, broad inclusivity and government accountability. This is especially true for reconstruction aid and for the modalities of a new IMF pro­gramme and debt reduction under the G20 Common Framework. A new government palace and housing complex in Addis Ababa, whose total cost is almost equal to the entire national budget, albeit financed from private and Arab sources, sends the wrong signal here.

If Ethiopia wants to achieve sustainable peace and stability, it needs a more inclu­sive political system. The peace process with the TPLF and its critical-constructive support from international partners can be the starting point for corresponding long-term progress.

Äthiopiens Chance auf Frieden sichern

Das Ende des Krieges im Norden sollte der Auftakt für grundlegende Reformen der Regierungsführung sein

SWP-Aktuell 14/2023, erschienen am 1.März 2023

Das Abkommen, das die Tigray People’s Liberation Front (TPLF) und die äthiopische Regierung am 2. November 2022 unterschrieben haben, bietet eine reale Chance, einen der blutigsten Kriege weltweit zu beenden. Die Umsetzung der Vereinbarung verläuft bisher gut. Durch den Friedensprozess ist jedoch die Frage nach einer stabi­len Machtverteilung innerhalb Äthiopiens und am Horn von Afrika ins Blickfeld gerückt. Die Regierung unter Premierminister Abiy Ahmed steht vor drei zentralen Herausforderungen. Erstens muss sie die TPLF integrieren und sich gleichzeitig aus der Partnerschaft mit Eritrea lösen. Zweitens muss sie das innenpolitische Verhältnis der wichtigsten politischen Akteure neu austarieren, um eskalierende Gewalt in den Bundesstaaten Amhara und Oromia zu stoppen. Schließlich muss sie die durch den Krieg gespaltene und verarmte Gesellschaft wieder zusammenbringen. Internationale Partner sollten Äthiopien mit konditionierten Finanzhilfen und Projekten zur Frie­densförderung bei der Bewältigung dieser Herausforderungen unterstützen.

Im Januar besuchten Bundesaußenminis­terin Annalena Baerbock und ihre französische Amtskollegin Catherine Colonna zu­sammen Addis Abeba. Ihre Botschaft: Euro­päische Partner sind bereit, ihre Zusammen­arbeit mit der äthiopischen Regierung wie­der zu intensivieren, wenn der Friedens­prozess in Tigray glaubwürdig gestaltet wird und es vor allem Schritte zur Aufarbeitung massiver Menschenrechts­verletzungen gibt.

Äthiopiens Bürgerkrieg ist Ausdruck eines Machtkampfs innerhalb der regierenden Elite des Landes. Premierminister Abiy hatte sich 2018 in einer internen Abstimmung in der Mehrparteienkoalition Ethio­pian People’s Revolutionary Democratic Front (EPRDF) überraschend gegen den Kan­didaten der TPLF durchgesetzt. Als Abiy 2019 aus der alten Koalition die neue Pros­perity Party (PP) formte, blieb die TPLF, die seit 27 Jahren die Koalitionsregierung be­herrscht hatte, außen vor. Die TPLF zog sich nach Tigray zurück, während Abiy ihren Einfluss innerhalb des Regierungs- und Sicherheitsapparats zurückdrängte und eine politische und wirtschaftliche Reform­agenda vorantrieb.

Der zentralistische Kurs von Abiys Regierung stand jedoch den Forderungen nach größerer ethnischer Selbst- und Mitbestimmung von Bevölkerungsgruppen aus dem ganzen Land entgegen, die nach der Zurück­setzung der TPLF ihre Zeit gekommen sahen. Der Machtwechsel 2018 war zustande ge­kommen, nachdem in den Bundesstaaten Amhara und Oromia jahrelang gegen die Dominanz Tigrays protestiert worden war. Am stärksten verschärften sich jedoch die Differenzen zwischen der Regierung und der TPLF: Anfang November 2020 eskalierten sie in einem bewaffneten Konflikt.

Der Krieg war nicht auf Tigray beschränkt; daher kann es auch der Friedensprozess nicht sein. In Äthiopiens bevölkerungsreichsten Regionen Oromia und Amhara haben ethnonationalistische Kräfte in den letzten Jahren an Zulauf gewonnen, die teilweise gegen den Staat und auch gegeneinander kämpfen.

Abiys Machtbasis zerbröckelt als Folge dieser Verwerfungen, ohne dass sich ein alternatives Machtzentrum gebildet hätte. Auf dem Spiel steht dabei die Stabilität und letztendlich sogar die Einheit des äthiopischen Staates. Aus einer optimistischen Sicht bietet der Friedensprozess aber auch eine Gelegenheit, mehr Bevölkerungsgruppen einzubinden, die Zivilgesellschaft zu stärken und die Machtverteilung zwischen dem Zentrum und ethnisch definierten Bundesstaaten, die Äthiopien seit Jahr­zehnten beschäftigt, neu auszuhandeln.

Der Frieden dient dem Macherhalt

Die »Vereinbarung über einen dauerhaften Frieden durch einen permanenten Waffen­stillstand«, welche die TPLF und die äthio­pische Regierung auf Vermittlung der Afri­kanischen Union (AU) im südafrikanischen Pretoria unterzeichneten, kam durchaus überraschend. Eine etwa fünfmonatige Feuerpause in der ersten Jahreshälfte 2022 hatte keine Verhandlungsfortschritte ge­bracht. Die seit Ende August wieder auf­geflammten Kämpfe waren von einer be­sonderen Härte und einem massiven Trup­peneinsatz gekennzeichnet. Berichte spre­chen von bis zu einer Million Kämpfern auf allen Seiten. In einer gemeinsamen Offen­sive eroberten eritreische Truppen und die Ethiopian National Defense Forces (ENDF) strategisch wichtige Städte in Tigray und standen kurz vor der Regionalhauptstadt Mekele. Die AU war aus Sicht der TPLF kein rundum glaubwürdiger Vermittler und ver­zögerte den Beginn von Friedensgesprächen.

Angesichts der militärischen Lage ist vor allem das Rational der äthiopischen Regie­rung erklärungsbedürftig. Ihr Gegner, die Tigray Defense Forces (TDF), hatte zwar bereits 2021 in Guerilla-Aktionen die äthio­pischen Streitkräfte aus Tigray vertrieben und war danach nach Amhara und Afar vorgerückt. Allerdings gelang es den TDF damals nicht, Addis Abeba oder die Ver­sorgungswege zwischen dem wirtschaft­lichen Zentrum des Landes und dem Hafen in Dschibuti zu erreichen. Im Herbst 2022 gingen ihnen überdies Nachschub und Munition aus.

Für beide Seiten war der Krieg mit enormen Kosten verbunden. Schätzungen gehen von 518.000 zivilen Todesopfern allein in Tigray bis Ende 2022 aus. Hinzuzuzählen sind zivile Opfer in Afar und Amhara sowie vermutlich Hunderttausende gefallene Kämpfer. Dies entspricht auch den Größen­ordnungen, die hochrangige Vertreter der EU, der USA und der AU nennen. Somit könnte rund ein Zehntel der Vorkriegs­bevölkerung Tigrays im Krieg ihr Leben ver­loren haben, vor allem wegen mangelnder medizinischer Versorgung und Unter­ernäh­rung. Die Regierung blockierte monatelang den Zugang für humanitäre Organisationen und schnitt die Bevölkerung Tigrays von Elektrizität, Telekommunikation und Bank­dienstleistungen ab.

Abiy stimmte dem Abkommen wahrscheinlich vor allem deshalb zu, weil es da­zu beiträgt, seine eigene Macht zu sichern. Eine vollständige militärische Eroberung Tigrays hätte vermutlich bedeutet, dass die Regierung ihre militärischen Kräfte auf Dauer in Tigray hätte konzentrieren müssen, um mögliche Guerilla-Aktionen zu unter­binden. Die hohen Militärausgaben belaste­ten ohnehin den Staatshaushalt Äthiopiens. Für Abiy wäre es schwieriger geworden, öffentliche Investitionen zu finanzieren, die das Wirtschaftswachstum der letzten Dekade in erster Linie angetrieben haben und Gelegenheit für Patronage boten.

Eine permanente Truppenkonzentration in Tigray hätte die Regierung auch daran gehindert, mehr Militär in die anderen Kon­fliktgebiete des Landes zu verlegen. Außer­dem hätte dieses Szenario Abiys Abhängig­keit von Eritrea weiter verstärkt, das einen erheblichen Teil seiner Streitkräfte gegen die TDF eingesetzt hat.

Schließlich hätte ein militärisches Ende des Krieges die Regierung weiterem inter­nationalen Druck ausgesetzt. Hatte sie zu Beginn des Krieges noch Unterstützung für ihren Kurs von Seiten der Trump-Adminis­tration und des Vorsitzenden der AU-Kom­mission Moussa Faki Mahamat, so änderte sich das später. Die USA setzten zum 1. Januar 2022 Handelsprivilegien unter dem African Growth and Opportunity Act (AGOA) aus, was insbesondere den äthio­pischen Textilsektor empfindlich traf. Im US-Kongress verstärkte sich die Forderung nach weiteren Sanktionen. In der Region setzte sich Kenia für eine friedliche Lösung des Krieges ein. Nachdem der AU-Sonder­gesandte Olusegun Obasanjo keine Fort­schritte erzielt hatte, erweiterte die AU das Mediationspanel um Uhuru Kenyatta, Kenias Ex-Präsidenten, und Phumzile Mlambo-Ngcuka, eine frühere Vizepräsidentin Südafrikas.

Das Abkommen wirkt – bislang

Der Kern des Abkommens besteht aus einem Deal: die TPLF verpflichtete sich zur kom­pletten Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration der TDF ins zivile Leben bzw. in reguläre Sicherheitskräfte Tigrays und zur friedlichen Übergabe der Kontrolle an die Polizei und Streitkräfte der Zentralregie­rung. Im Gegenzug soll die TPLF von der äthiopischen Terrorliste gestrichen werden, die Versorgung der Bevölkerung in Tigray wiederhergestellt werden und sollen nicht-föderale Truppen abziehen.

Das wichtigste Ziel des Abkommens wurde sehr schnell erreicht: ein Ende der Kampf­handlungen zwischen den TDF und den ENDF. Beide Streitkräfte zogen sich von den Frontlinien zurück. Für die meisten Menschen im Norden Äthiopiens verbesserte sich die Situation. 90 Prozent der Bevöl­kerung Tigrays sind auf Unterstützung bei der Nahrungsmittel­versorgung angewiesen. Ein Großteil von ihnen hat jetzt wieder Zu­gang zu Hilfslieferungen. Viele Städte wur­den im Dezember wieder an das Elektrizi­tätsnetz angeschlossen. Banken öffneten wieder, Telekommunikations- und Internet­verbindungen wurden wiederhergestellt. Ethiopian Airlines nahm wieder Direktflüge zwischen Mekele und Addis Abeba auf. Doch die Qualität der Infrastruktur ist oft noch schwach, und einige Gebiete sind weiterhin kaum für humanitäre Organisationen zugänglich, insbesondere solche ab­seits großer Straßen und an der Grenze zu Eritrea. 2,3 Millionen Kinder gehen allein in Tigray nicht zur Schule, mehr als die Hälfte davon seit mehr als zwei Jahren. Der Wiederaufbau wird noch lange dauern.

Enge Partnerschaft mit Eritrea

Ein Knackpunkt des Friedensprozesses bleibt der Umgang mit jenen bewaffneten Akteuren, die bei den Friedensverhandlungen nicht dabei waren, primär Eritrea und Gruppen aus Amhara.

Für Abiy war Eritreas Präsident Isaias Afwerki ein wichtiger Verbündeter in sei­nem Machtkampf gegen die TPLF. Isaias hegt seit dem Grenzkrieg um den Ort Badme im Norden Tigrays (1998–2000) eine tiefe Feindschaft gegenüber der TPLF. Obwohl die äthiopische Regierung das Territorium, das von einer internationalen Grenzkommis­sion Eritrea zugesprochen wurde, nach dem Krieg besetzt hielt, wurde Eritrea inter­national zunehmend isoliert. Als bekannt wurde, dass die Regierung in Asmara die somalische Al‑Shabaab unterstützte, ver­hängte der UN-Sicherheitsrat auf Betreiben Äthiopiens 2009 Sanktionen und ein Waf­fen­embargo gegen Eritrea. Die mutmaß­liche Bedrohung durch die TPLF, Äthiopiens damalige Regierungspartei, diente Isaias zur Begründung für die Einführung eines unbefristeten Wehr- und Arbeitsdiensts, zu dem eritreische Männer und Frauen gleichermaßen herangezogen werden.

Das Abkommen zwischen Eritrea und Äthiopien vom Juli 2018, das Abiy ein Jahr später den Friedensnobelpreis eintrug, hatte in der Grenzregion zwar wenig nachhaltige Fortschritte gebracht. Gleichwohl stärkte es die Sicherheits- und Geheimdienstkooperation beider Regierungen und führte zur Auf­hebung der UN-Sanktionen. Als sich das Ver­hältnis zwischen TPLF und Abiy verschlech­terte, wurde aus dem Friedensabkommen ein Kriegspakt. Monate vor Kriegsbeginn verlegte Abiy Militär nach Tigray. Eritrea organi­sierte ein Training für 60.000 Truppen des Bundesstaats Amhara (gemäß der födera­listischen Verfassung haben äthiopische Bundesstaaten eigene Sicherheitskräfte).

Isaias sieht den Friedensprozess zwischen der TPLF und der äthiopischen Regierung dementsprechend mit großer Skepsis. Auch wenn im Januar eritreische Truppen­bewegungen aus einigen Städten Tigrays als Rückzug vermeldet wurden, sind eritreische Militäreinheiten wohl weiterhin in einigen Gebieten Tigrays präsent, zusätzlich zu Spezialkräften anderer äthiopischer Bundes­staaten, vor allem aus Amhara. Die eritrei­schen und amharischen Truppen werden für Angriffe auf die Zivilbevölkerung verant­wortlich gemacht, die auch sexuelle Gewalt, Entführungen und Plünderungen einschlie­ßen. Dabei soll es allein zwischen Anfang Novem­ber und Ende Dezember 2022 meh­rere Tausend Todesopfer gegeben haben.

Dabei hatten sich die Oberkommandierenden der beiden Konfliktparteien in Nairobi geeinigt, dass alle Nicht-ENDF-Trup­pen gleichzeitig mit der Entwaffnung der TDF abziehen sollten. Zur Überwachung der Einhaltung des Abkommens setzte die AU einen Monitoring- und Verifikationsmecha­nismus unter Führung von Generalmajor Stephan Radina aus Kenia ein. Dieser nahm Ende Dezember seine Arbeit auf und be­stätigte am 10. Januar 2023, dass die TDF einen Groß­teil ihrer schweren Waffen an die ENDF abgegeben hatte, darunter Panzer und Artillerie. Einen Abzug der Nicht-ENDF-Truppen aus Tigray vermeldete das AU-Team bisher indes nicht.

Innenpolitische Spannungen

Das Waffenstillstandsabkommen bietet Anhaltspunkte für den weiteren Friedensprozess, es enthält aber keine umfassende Rege­lung längerfristiger Konflikte. Abiys Herausforderung ist es, im Rahmen des Frie­densprozesses Zugeständnisse an die TPLF zu machen, ohne dabei seine sonstigen innen­politischen Allianzen zu sehr zu belasten.

Zuerst ist da die zukünftige Rolle der TPLF in der äthiopischen Politik. Das Ab­kommen sieht vor, dass nach der Entlistung der TPLF als Terrororganisation eine inklu­sive Interimsverwaltung für Tigray gebildet werden soll. Es gilt als wahrscheinlich, dass die TPLF bei den noch nicht terminierten Wahlen für das Regionalparlament und für die Repräsentation Tigrays im äthiopischen Parlament eine breite Mehrheit erreichen wird. Die Frage ist, ob sich die TPLF in Abiys Regierung einbinden lassen, auf eine Oppo­sitionsrolle zurückziehen wird oder dauer­haft auf eine reine Regionalpartei reduzieren lassen will. Denn gleichzeitig muss sich die TPLF auch um einen offeneren und in­klusiven Regierungsstil in Tigray selbst be­mühen, den dortige Oppositionsparteien bereits einfordern.

Skepsis gegenüber dem Friedensprozess mit der TPLF begegnet Abiy aus Amhara. Amharen waren selbst Opfer von Massenverbrechen der TDF, bei denen es auch zu sexueller Gewalt und Plünderungen ziviler Infrastruktur gekommen ist. Amharische Führer haben sich daher für eine Aufarbeitung der Übergriffe der TDF eingesetzt und werden einer möglichen Einbindung der TPLF reserviert gegenüberstehen.

Einen Balanceakt wird Abiy darüber hin­aus im Hinblick auf Gebiete in West- und Süd-Tigray vollführen müssen, die amhari­sche Einheiten zusammen mit den ENDF zu Anfang des Krieges besetzten (siehe Karte). Dabei vertrieben sie einen Großteil der tigrinischen Bevölkerung im Zuge einer Kampagne, die ein umfassender Bericht von Human Rights Watch und Amnesty Inter­national als ethnische Säuberung bezeichnete. Die amharische Seite verweist darauf, dass die TPLF die Gebiete Anfang der 1990er Jahre dem Bundesstaat Tigray zugeschlagen und ihrerseits amharische Bewohner ver­trieben hatte. Das Waffenstillstandsabkom­men sieht lediglich vor, dass die Zugehörigkeit dieser Gebiete im Rahmen der Verfas­sung geregelt werden soll. Die äthiopische Regierung dürfte be­strebt sein, einen end­gültigen Beschluss über den Status der umstrittenen Gebiete so lange wie möglich hinauszuzögern, um sich nicht zwischen dem Friedenspartner TPLF und Verbündeten aus Amhara entscheiden zu müssen.

Schließlich versucht die Regierung be­reits seit Mitte 2022, den Einfluss irregu­lärer amharischer Milizen, der Fano, ein­zudämmen, mit denen sie während des Krieges zusammengearbeitet hatte. Diesen werden massive Menschenrechtsverletzungen zur Last gelegt. Mit einer Größe von zwischenzeitlich mehreren Zehntausend gefährden die Fano das Gewaltmonopol der Regierung. Sie sind auch in Oromia aktiv.

Eskalation in Oromia

Potentiell die größte Sprengkraft für Abiy und die Stabilität Äthiopiens haben mittler­weile nicht mehr der Konflikt in Tigray, sondern Konflikte in Oromia und Spannungen zwischen Oromos und Amharen. Der Friedensprozess mit der TPLF könnte dabei sowohl positive als auch negative Wirkungen auf den Umgang der Regierung mit die­sen Konflikten haben. Die Wurzel ist letzt­lich die gleiche, nämlich die Machtverteilung zwischen Regionen und Zentrum.

Obwohl sie mit rund einem Drittel der Bevöl­kerung die größte ethnische Gruppe des Landes sind, hatten Oromos in Äthio­piens Geschichte nie eine Führungsrolle. Weite Teile des heutigen Bundesstaats Oromia wurden erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Teil des äthiopischen Reiches.

Abiy stammt selbst aus Oromia, wo er in der Regionalregierung tätig war. Viele junge Menschen, die Treiber der Reformproteste vor 2018 waren, sehen in Abiys Unitarismus jedoch eine Rückkehr zur Anpassung an einen amharisch geprägten Zentralismus.

Am Ende des nationalistischen Spektrums operiert die Oromo Liberation Army (OLA), eine bewaffnete Gruppe, die sich 2018 von der jahrzehntealten Oromo Liberation Front (OLF) abspaltete. Die OLF unterzeichnete 2018 ein Friedensabkommen mit Abiys Regierung, was die OLA ablehnte. 2021 ver­bündete sich die OLA mit der TPLF. Nach verschiedenen Phasen des Aufs und Abs eskalierte die Gewalt wieder ab November 2022. Neben Angriffen auf zivile Infrastruktur kommt es dabei zu Zusammenstößen der OLA mit Fano-Milizen und regulären ENDF-Einheiten. Oromos sind besorgt, die Fano könnten ebenso wie in Tigray Land besetzen, das diese als amharisch betrachten. Landkonflikte zwischen Oromos und Amharas werden so von bewaffneten Gruppen beider Seiten politisiert. Hunder­tausende Menschen flohen bereits aus Oromia nach Amhara.

Die Gewalt in Oromia ist anders gelagert als der Konflikt mit der TPLF, aber dennoch ernst zu nehmen. Die OLA ist vermutlich zu klein, fragmentiert und schlecht ausgerüstet, um größere Städte oder gar Addis Abeba zu erobern, auch wenn sie teilweise bis zu 25 Kilometer nahe der Hauptstadt kämpft (siehe Karte). Die größere Folge ihres Agie­rens ist das Klima der Unsicherheit in einer wirtschaftlich wichtigen Region des Landes. So sprach der deutsche Botschafter in Äthio­pien bereits besorgt über Angriffe auf In­ves­toren in Oromia. Äthiopiens Hauptversor­gungsverbindungen mit dem Hafen von Dschibuti laufen ebenfalls durch Oromia.

Eskaliert der Konflikt zwischen bewaffne­ten Kräften Amharas und Oromias, könnte das ernste Konsequenzen für die Einheit und Regierbarkeit des Staates Äthiopien haben. Derzeit scheint dieses Szenario noch un­wahr­scheinlich zu sein, nicht zuletzt weil die politischen Akteure in beiden Bundesstaaten deutlich heterogener sind als in Tigray.

Der Friedensprozess im Norden könnte jedoch auch eine Vorbildfunktion für Oromia haben. Rund 80 Abgeordnete von Abiys Partei aus Oromia forderten ihn be­reits auf, in Friedensverhandlungen mit der OLA einzutreten. Die Regierung hat Ver­handlungen bisher mit Verweis auf die fragmentierte Führungsstruktur der OLA abgelehnt, die wie die TPLF als Terrorgruppe gelistet ist. In jüngerer Zeit zeigte sich Abiy jedoch offener für Verhandlungen.

Das Land zusammenhalten

Die bewaffneten Konflikte werden an­geheizt von einer polarisierten Gesellschaft und einer Wirtschaft in der Krise. Auch wenn Abiys Regierung derzeit nicht Gefahr läuft, durch Aufstände oder Wahlen gestürzt zu werden, muss sie ihre Position konsolidieren und die Gesellschaft einen.

Politiker und andere Akteure des öffentlichen Lebens haben die ethnische Polari­sierung während des Krieges verschärft. Premier­minister Abiy selbst bezeichnete die TPLF im Juli 2021 als »Unkraut« und »Krebs«, den es auszumerzen gelte. Während die Regierung betonte, dass sie zwischen der Bevölkerung Tigrays und der Partei TPLF unterscheide, gab es in den sozialen Medien dehumanisierende Statements gegenüber der Bevölkerung Tigrays generell, wie Alice Wairimu Nderitu, die UN-Sonderberaterin für die Prävention von Völkermord, im Oktober 2022 warnte. Aus Sicht vieler Men­schen in Tigray steht Abiys Regierung für einen Völkermord an ihrer Bevölkerung.

Eine Antwort auf die Polarisierung in der Gesellschaft kann möglicherweise der nationale Dialog liefern, den die Regierung mit der Einrichtung einer Kommission im Dezember 2021 angestoßen hat. Damit dieser Wirkung entfalten kann, müssten Oppositionskräfte, nicht zuletzt die TPLF und Parteien aus Oromia, daran mitwirken. Bisher nehmen viele den Prozess als zu ein­seitig von der Regierung dominiert wahr. Außerdem müsste die Regierung aufhören, den Zugang zu Medien einzuschränken. Wenn der nationale Dialog inklusiver und unabhängiger würde, eventuell auch dank der seit einiger Zeit laufenden deutschen Unterstützung für einen Multi-Track-Dia­log, könnte er eine wichtige Plattform bie­ten, um grundlegende gesellschaftliche und politische Fragen zu klären.

Mit Blick auf die jüngere äthiopische Ge­schichte argumentiert der Konfliktforscher Semir Yusuf, dass weder Protestbewegungen noch gewaltsamer Widerstand zur demokratischen Transformation Äthiopiens geführt haben. Für eine echte Demokratisierung brauche es vielmehr eine größere Unabhängigkeit der Institutionen und stär­kere Parteienstrukturen.

Nicht zuletzt haben auch die Wirtschaft und die Staatsfinanzen Äthiopiens enorm gelitten. Die Regierung schätzt den Bedarf für den Wiederaufbau in den kriegszerstörten Gebieten in Tigray, Afar und Amhara auf 20 Milliarden US-Dollar. Gleichzeitig verzeichnet der Staatshaushalt wegen der hohen Militärausgaben und des wirtschaftlichen Rückgangs ein hohes Defizit. Sollte sich der Zugang zu finanziellen Ressourcen weiter verengen, dürfte es für die Regierung schwieriger werden, wichtige Eliten ein­zubinden. Angesichts von Währungs­reserven, die geringer sind als die in einem Monat anfallenden Zahlungsverpflichtungen gegenüber dem Ausland, warnte die Rating­agentur Fitch bereits vor einem erhöhten Kreditausfallrisiko Äthiopiens.

Neben dem Krieg leidet die Wirtschaft auch noch unter den Nachwirkungen der Covid-19-Pandemie und der Preissteigerung bei Düngemitteln und Energie in der Folge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine.

Die Bevölkerung spürt die Konsequen­zen. Die jährliche Inflationsrate lag im Dezember 2022 bei 33,9 Prozent, der dritthöchste Wert in Afrika. Wegen der bewaffneten Auseinandersetzungen und einer weiteren regionalen Dürre nach der fünften aus­gebliebenen Regen­zeit in Serie sind 28,6 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Die Regierung sucht daher dringend nach einem Schuldenanpassungsprogramm und finanzieller Unterstützung des Inter­nationalen Währungsfonds (IWF). Dieser hatte entsprechende Gespräche wegen des Wiederausbruchs der Kämpfe 2022 aller­dings aufgeschoben.

Europäische Unterstützung braucht Umsicht

Ihren Besuch in Äthiopien stellten Baer­bock und Colonna auch in den aktuellen geopolitischen Kontext. Vor Weizensäcken stehend, die die Ukraine gespendet hatte und deren Transport die beiden Regierungen finanziert hatten, begründete die deut­sche Außenministerin die Hilfe mit dem Ziel, »die Menschen in Äthiopien nicht auch noch zum Opfer des russischen Angriffskrieges werden« zu lassen.

Dieses Narrativ verfängt in Äthiopien nicht, dessen Beziehungen zu Russland und China seit dem Tigray-Krieg noch intensiver geworden sind. Beide Partner hielten ihre schützende Hand über Äthiopiens Regierung im UN-Sicherheitsrat. China ist die größte Quelle ausländischer Investitionen in Äthiopien.

Vielmehr bezeugt Baerbocks Aussage das Risiko, durch eine Fokussierung auf den geopolitischen Wettbewerb um Einfluss in dem nach Bevölkerung zweitgrößten Land Afrikas den spezifischen Kontext zugunsten eines regierungsfreundlichen Narrativs aus­zublenden. Neben der klimawandelbedingten Dürre sind in Äthiopien Millionen Men­schen wegen des Krieges im eigenen Land und der vorherigen huma­nitären Blockade von Abiys Regierung von Nahrungsmittel­unsicherheit betroffen. Im Februar startete Abiy sogar Weizenexporte, die dringend benötigte Devisen einbringen sollen.

Ein unkritisches Engagement Europas, um Boden gegenüber den geopolitischen Konkurrenten Russland und China gut­zumachen, könnte allerdings kontra­produktiv wirken. Es war nicht zuletzt der übermäßige internationale Enthusiasmus zu Beginn von Abiys Reformkurs, der den Premier­minister in seinem kompromiss­losen Kurs gegenüber der TPLF bestärkte.

Der Tigray-Krieg hat die Bundesregierung nicht dazu veranlasst, ihre bevorzugte Part­nerschaft mit der Regierung Äthiopiens auf Eis zu legen. Ende 2020 setzte sie eine schon zugesagte Reformfinanzierung zwar aus, behielt den Status Äthiopiens als Reformpartnerland der deutschen Entwicklungs­zusammenarbeit jedoch bei. Bundeskanzlerin Merkel warb bei ihrem Afrikagipfel im August 2021, an dem auch Abiy teilnahm, für deutsche Investitionen. Erst im Januar 2023 kündigte Entwicklungsministerin Svenja Schulze im Zuge der neuen Afrika-Strategie des BMZ an, die Reformpartnerschaften als Instrument auslaufen zu lassen.

Die Mitgliedstaaten der EU haben Ende Dezember 2022 ihre Bedingungen für eine graduelle Wiederaufnahme der auch von der EU ausgesetzten Budgethilfe ausbuchstabiert. Diese sind 1) Fortschritte bei der Umsetzung des Waffenstillstandsabkommens, 2) ungehinderter Zugang für huma­nitäre Hilfe und 3) Aufarbeitung der mas­siven Menschenrechtsverletzungen. Ins­besondere in den ersten beiden Bereichen gibt es Fortschritte wie die Entwaffnung der TDF und Hilfslieferungen in weite Teile Tigrays. Anfang Februar 2023 traf Abiy TPLF-Vertreter das erste Mal seit Beginn des Krieges persönlich.

Was genau die Bedingung für die Auf­arbeitung beinhaltet, ist unbestimmt. Zwar lehnt die äthiopische Regierung die Inter­nationale Menschenrechtsexperten-Kommis­sion für Äthiopien ab, die der UN-Menschen­rechtsrat Ende 2021 eingesetzt hat. Doch die äthiopische Menschenrechtskommission arbeitet auch in der Frage der Aufarbeitung weiterhin mit dem Büro des UN-Hoch­kommissars für Menschenrechte (OHCHR) zu­sammen. Zudem veröffentlichte das äthiopische Justizministerium einen Ent­wurf für Leitlinien einer Übergangsjustiz.

Deutschland und seine europäischen Partner sollten den Friedensprozess, der richtigerweise vornehmlich von den äthio­pischen Konfliktparteien getragen und vorangetrieben wird, nach Kräften unter­stützen. Konkrete Projekte für Stabilisierung und Friedens­förderung sind dafür wichtig. Deutschland sollte aber auch darauf hin­wirken, dass Medien, Zivilgesellschaft und Wissenschaft in Äthiopien größere Frei­heiten erhalten. Aufarbeitung und Versöh­nung sollten auf der Agenda bleiben, ohne bestimmte Mechanismen vorzugeben. In jedem Fall sollte die Bundesregierung auch ihre Unterstützung der äthiopischen Men­schenrechtskommis­sion und der Wahlkommission fortsetzen.

Im Zuge der anstehenden Vertiefung der Beziehungen zu Äthiopien sollten Deutschland und seine europäischen Part­ner genauer die tieferen Probleme beachten, die ursächlich für Gewalt nicht nur in Tigray, sondern auch in Oromia und Amhara sind. Dafür müssen sie ihre bereits gesetzten Bedingungen nicht ändern, aber stärker auf Transparenz, Bevölkerungsorientierung, breite Inklusion und Rechenschaft der Regie­rung setzen. Dies gilt insbesondere für Wie­deraufbauhilfen und für die Modalitäten eines neuen IWF-Programms und des Schul­denabbaus im Rahmen der G20. Ein neuer Regierungspalast und Wohnkomplex in Addis Abeba, dessen Gesamtkosten fast dem gesamten Staatshaushalt entsprechen, wenn auch aus privaten und arabischen Quellen finanziert, setzt hier ein falsches Signal.

Wenn Äthiopien nachhaltigen Frieden und Stabilität erreichen will, braucht es ein inklusiveres politisches System. Der Frie­dens­prozess mit der TPLF und dessen kri­tisch-konstruktive Unter­stützung durch internationale Partner können der Aus­gangspunkt für eine entsprechende lang­fristige Entwicklung sein.

Dr. Gerrit Kurtz ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2023

Äthiopien: Kein Friedensprozess zu Lasten Dritter

Seit mehr als anderthalb Jahren herrscht ein Bürgerkrieg in Äthiopien. Nun bereiten sich die Regierung und Rebellen auf Friedensverhandlungen vor. Für eine nachhaltige Lösung sollten sie wichtige Drittakteure einbinden, meint Gerrit Kurtz.

SWP Kurz gesagt, 20.Juli 2022

In dem seit November 2020 andauernden Konflikt zwischen der äthiopischen Regierung und der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) sind Friedensverhandlungen in Reichweite. Nachdem die Regierung in Addis Abeba Ende Juni ein siebenköpfiges Verhandlungsteam unter der Führung des stellvertretenden Ministerpräsidenten Demeke Mekonnen ernannte, meldet die TPLF nun, dass auch sie ein Verhandlungsteam ernennen werde. Seit März besteht eine humanitäre Feuerpause im Norden Äthiopiens. So konnten UN-Hilfsorganisationen – nach monatelanger Blockade – wieder Hilfsgüter nach Tigray und die angrenzenden Regionen bringen. 13 Millionen Menschen bleiben jedoch allein im Norden des Landes auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen.

Chancen und Risiken von Friedensverhandlungen

Sowohl die TPLF als auch die äthiopische Regierung haben nach mehreren Offensiven erkannt, dass sie ohne größere Verluste keine militärischen Gewinne erwarten können. Für die Regierung sind die Kosten des Kriegs enorm und gefährden Ministerpräsident Abiy Ahmeds wirtschaftliche Reformagenda. Die TPLF steht unter Druck vonseiten der Bevölkerung in Tigray, die humanitäre Situation in dem Bundesstaat zu verbessern. Der Zugang zu Banken sowie dem Strom- und Telekommunikationsnetz bleibt ausgesetzt – und es fehlt an Treibstoff. Laut International Crisis Group sind dem Konflikt mindestens Zehntausende Menschen zum Opfer gefallen, manche Schätzungen gehen sogar von Hundertausenden Opfern durch Hunger und Krankheiten aus. Menschenrechtsorganisationen werfen beiden Seiten und ihren Verbündeten Kriegsverbrechen in Form von Massakern, sexueller Gewalt und Plünderungen vor.

Ein schlechtes Friedensabkommen könnte für weitere Instabilität sorgen – ähnlich wie der Friedensschluss zwischen Äthiopien und Eritrea 2018, der sich zwei Jahre später als Kriegspakt gegen die TPLF herausstellte. Die damalige TPLF-dominierte Regierung hatte 1998-2000 Krieg gegen Eritrea geführt. Eritreische Truppen unterstützten das äthiopische Militär im Kampf gegen die TPLF und verübten einige der schlimmsten Menschenrechtsverletzungen des Kriegs. Abiy nutzte das gewaltige internationale Kapital, das der Friedensnobelpreisträger aus dem Friedensschluss und seinen innenpolitischen Reformen schlug, für einen kompromisslosen Kurs gegenüber der früheren Regierungspartei TPLF. Die Unterstützung insbesondere der USA für Abiys Kurs ging  so weit, dass sie die äthiopische Offensive gegen die TPLF in der Erwartung eines kurzen Entscheidungskriegs anfangs befürwortete.

So könnten sich auch die möglichen Friedensgespräche zwischen der TPLF und äthiopischen Regierung negativ auf die jeweiligen Verbündeten der beiden Konfliktparteien auswirken. Ein Knackpunkt ist der zukünftige Status West-Tigrays, ein Gebiet, das amharische Milizen am Anfang des Kriegs besetzten und aus dem sie Menschen tigrayischer Abstammung vertrieben haben. Für die TPLF ist die Rückkehr des Gebiets unter ihre Kontrolle ein wichtiges Ziel. Abiy könnte gezwungen sein, Kompromisse zu Lasten der Interessen seiner amharischen Verbündeten zu machen. Schließlich könnte ein bilaterales Abkommen zwischen TPLF und äthiopischer Regierung die Interessen weiterer ethnischer Gruppen berühren. In den vergangenen Monaten gab es die meisten Kämpfe im Bundesstaat Oromia, in dem die Rebellengruppe Oromo-Befreiungsarmee (OLA) für mehr Mitbestimmung der Oromo kämpft, der größten Bevölkerungsgruppe des Landes, aus der auch Abiy stammt. Die OLA ist mit der TPLF verbündet. Eine Stabilisierung im Norden könnte den äthiopischen Streitkräften erlauben, ihre Kräfte weiter auf den Kampf gegen die OLA zu konzentrieren. Verhandlungsgewinne der TPLF könnte die OLA gleichzeitig in ihrem bewaffneten Kampf ermutigen. Auch in anderen Teilen Äthiopiens gibt es immer wieder Massaker und gewaltsame Zusammenstöße, in denen Gewaltunternehmer die ethnische Zugehörigkeit von lokalen Bevölkerungsgruppen instrumentalisieren.

Inklusivität fördern, Gefahren eindämmen

Internationale und regionale Akteure sollten die Konfliktparteien darin unterstützen, einen nachhaltigen und inklusiven Verhandlungsprozess aufzusetzen. Noch konnten sich TPLF und Addis Abeba nicht auf einen Mediator oder einen Verhandlungsort einigen. Während die Regierung die Afrikanische Union favorisiert, zieht die TPLF Kenia vor.

Ein Schlüssel zum Erfolg der Friedensverhandlungen wäre ein schrittweises Vorgehen. Sicherheits- und Versorgungsfragen sollten ganz oben auf der Agenda stehen. Verfassungsfragen wie der zukünftige Status von Tigray, wo die TPLF ein Unabhängigkeitsreferendum abhalten möchte, sollten in einem größeren Kontext wie dem bereits von der Regierung ausgerufenen nationalen Dialog geklärt werden. Hier könnte sie auch die OLA sowie oppositionelle Parteien aus Tigray involvieren, um so auch die Akzeptanz zu erhöhen. Die Friedensverhandlungen und den nationalen Dialog zu verbinden, könnte den Frieden auf eine breitere Grundlage stellen und helfen, insbesondere Frauen und junge Menschen besser einzubinden.

Eritreas Präsident Isaias Afwerki, Abyis regionaler Verbündeter, lehnt einen Friedensschluss mit der TPLF jedoch ab. Er betrachtet sie als existenzielle Gefahr für sein Regime. Isaias wird sich daher wahrscheinlich nicht in Friedensgespräche einbinden lassen. Mehr noch: Er hat die Mittel, den Friedensprozess durch Kämpfe eritreischer Truppen mit der TPLF auf äthiopischem Gebiet zu stören. Angesichts seiner destruktiven Rolle in Äthiopien und der ungebrochenen Unterdrückung seiner Bevölkerung sollte sich die EU für eine Eindämmungsstrategie entscheiden und ihre gezielten Sanktionen gegen das eritreische Regime ausbauen.

Die Bundesregierung sollte sich im Kreise ihrer transatlantischen Partner um eine einheitliche Position gegenüber äthiopischen Friedensgesprächen bemühen. Das Land benötigt Unterstützung beim Wiederaufbau und der Restrukturierung seiner Schulden. Ein stabiles Äthiopien könnte wieder ein konstruktiver Partner Europas auf dem gesamten Kontinent werden. Ein ganzheitlicher, inklusiver Ansatz für Frieden wäre dafür eine entscheidende Voraussetzung.